Unter der Oberfläche des Wahlkampfes in Deutschland lässt sich eine „Wiederkehr der Religion“ beobachten. Christian Kern hat die religionspolitischen Optionen der Parteien zusammengetragen und ekklesiologische Reflexionen angeschlossen: Religionspolitik misst sich daran, inwiefern sie Humanisierungspotential freisetzt.
Der Wahlkampf in Deutschland läuft. Er hat seine Formate: das Fernsehduell der beiden Kanzlerkandidaten, Diskussionsrunden mit Parteispitzen, Bierzeltauftritte von Exilpolitikern, Wahl-o-Mat-Umfragen, Wahlkämpferinnen an Ständen in Fußgängerzone. Er hat seine Themen: Einwanderung, Asyl und Flucht, Integration, Fragen zur europäischen Wertegemeinschaft und Sicherheit, Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus. Diese Themen sind präsent, ja nahezu dominant. Andere sind es nicht: etwa Digitalisierung, Investitionen in Infrastruktur und Bildung, Klimapolitik.
Religion hat sich im Subtext der dominanten Debatten eingenistet.
Neben explizit diskutierten und explizit nicht-diskutierten Themen existiert eine dritte Gruppe. Sie wird nicht unmittelbar angesprochen, bleibt aber auch nicht einfach außen vor. Sie liegt unter der Oberfläche und wird gelegentlich zum insgeheimen Motor von Debatten, weil sie Emotionen weckt und Grundwerte europäischen Lebens berührt. Zu diesen eher implizit behandelten, aber maßgeblichen Themen gehört: Religion. Im Subtext der dominanten Debatten hat diese sich als Thema eingenistet.
Es gibt im Wahlkampf unter der Hand eine weitreichende „Wiederkehr der Religion“. Dabei werden konkrete religionspolitische Themen berührt, etwa der Dialog zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen mit islamische Organisationen oder die Einflussname ausländischer Akteure auf inländische Muslime. Es kommen aber auch tieferliegende Grundpositionen zur Sprache, die zeigen, wie sich einzelne Parteien ein Zusammenspiel religiöser und staatlicher Akteure überhaupt vorstellen, welche Rolle Religionen grundsätzlich in Öffentlichkeit und Gesellschaft zugewiesen wird.
Im Wahlkampf ist eine „Wiederkehr der Religion“ zu beobachten.
Diesem religionspolitischen Subdiskurs kommt man besonders in den Wahlprogrammen auf die Spur. Er liegt dort nicht systematisch aufbereitet vor, gewinnt aber aus grundsätzlichen und situativen Äußerungen Kontur. Wer ihn nachzeichnet und ihm nachgeht, stößt auf ein erstaunlich vielfältiges Feld von Positionen, die Brisanz und Polaritäten freisetzen.
Brisanz und Personalisierungspotential von Religion
Die religionspolitischen Grundpositionen des Wahlkampfs sind vielfältig: Für die einen übt Religion eine Stabilisierungs- und Identifizierungsfunktion aus, in Verbindung mit einer Begründungs- oder Integrationsfunktion, die gesellschaftliche Wertefundamente liefert (CDU/CSU). Von anderen wird Religion als Boden gesehen, auf dem kulturelle Begegnung und Dialog möglich wird und sich Multikulturalität entwickelt (Grüne). Religion gilt als Ausdruck freier Selbstbestimmung, als Äußerungsform individueller Freiheit, die zu garantieren sei, vor deren fundamentalistischen oder übergriffigen Formen aber auch geschützt werden muss (FDP). Religion wird als Größe gesehen, die gesellschaftliche Ungerechtigkeit erzeugen und stabilisieren könne und deshalb auch kritisiert (SPD) oder sogar privatisiert werden solle (LINKE). Religion gilt als Feindbild, das dem unwillkommenen Fremden ein Gesicht und Bleiberecht zusprechen wolle, und dem deshalb repressiv zu begegnen sei (AfD).
Die alte Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ gehört zum Grundbestand der Themen dieses Wahlkampfs und liegt im heißen Zentrum der Debatten. Sie würden sich durchaus für einen profilierteren Wahlkampf und eine brisantere mediale Darstellung eignen.
Ein kurzer Moment im Fernsehduell zwischen Schulz und Merkel: Am Sonntag in einer Kirche gewesen?
Ihre Brisanz zeigte sich für einen kurzen Moment im Fernsehduell zwischen Schulz und Merkel, als die Frage gestellt wurde: Ob sie denn am Sonntag eine Kirche besucht hätten. Schulz legte vor und erzählte von einem Kapellenbesuch auf einem Friedhof, Merkel legte nach und erwähnte den Besuch einer kleinen Kirche im Gedenken an ihren verstorbenen Vater.
Die Kontrahenten waren für einen kurzen Moment genötigt, ihre eigenen Kirchenbezüge offenzulegen und eine Art persönliches Bekenntnis wenigstens anzudeuten. Die Antworten auf die Frage zum Kirchenbezug zählten mit zu den Momenten der Debatte, wo für kurze Zeit über die politische Strategie und Pragmatik hinaus etwas Personales zum Vorschein kam. Hier hätte sich außerdem ein Zugangspunkt zum religionspolitischen Subtext der Flüchtlingsdebatte angeboten, an dem die Moderatoren allerdings rasch vorbeieilten.
Jenseits von Exlusionen: Religionspolitisches in Gaudium et spes
Das Thema Religion kann personalisieren und auch polarisieren. In letzter Hinsicht ist es auch ekklesiologisch brisant und setzt Impulse für Wahlentscheidungen frei. Politische Parteien weisen Religionen, Kirchen und Glaubensbekenntnissen bestimmte Plätze und ggfs. öffentliche Rollen zu. Sie formatieren Glaubensbekenntnisse und Religionsgemeinschaften diskursiv, wobei sie zugleich beanspruchen, stets Religionsfreiheit gelten und walten zu lassen.
Entsprechen religionspolitische Rollen- und Platzzuweisungen dem Selbstverständnis der Religionen?
Auf solche Rollen- und Platzzuweisungen kann man sich einlassen. Sie sind eine sinnvolle und praktikable Variante, Kirche und Staat zu trennen und zugleich eine Kooperation zwischen beiden zu arrangieren. Sie ermöglichen aber auch die kritische Frage, ob die zugewiesenen Rollen und Plätze dem Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft sowie den eigenen Anliegen und Werten genügen, oder ob nicht auch da kritische Fragen und Überschreitungen angebracht sind. Die im Wahlkampf bisher verschwiegene Debatte um Kirchenasyl hat dies kontrovers gezeigt.
Die Religionspolitiken der Parteien provozieren ekklesiologische Reflexionen: einmal wie man sich kirchlicherseits selbst im politischen Zusammenhang positioniert und Rollen gegenüber staatlichen Größen einnimmt; zum anderen welche Rolle und Aufgabe man selbst politischen Institutionen zumisst und welche Positionen man ihnen zuträgt.
Politik – im Dienst an der Menschwerdung von Menschen?
Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesbezüglich eine eigene Grundposition formuliert. Es hat die Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ mit der Frage verbunden: „Wie hältst du’s mit den Menschen?“ Es misst allen politischen Parteien und Institutionen die grundsätzliche Aufgabe zu, die Entwicklung menschlichen Lebens in Freiheit zu fördern und so zu einer steten Humanisierung beizutragen (GS 29).
Die Verteidigung und Einhaltung der Menschenrechte sowie der Abbau von Diskriminierungen stellen dabei den Brennpunkt und den konkreten Ort dar, an dem diese Auseinandersetzungen geführt werden. Dieser Dienst an der Menschwerdung von Menschen in den Konflikten der Gegenwart ist auch das konstitutive Kriterium für Kirche selbst, sich ihre Gestalt zu geben und ihren Glauben zu erschließen (GS 40).
Es geht um eine Politik, die der Befreiung und Entfaltung von menschlichem Leben dient und Gesellschaften humaner gestaltet.
Es geht dabei nicht um diesen oder jenen Wert, um diese oder jene Facette, die sich für die Begründung einer Leitkultur oder gesellschaftlicher Normen eignen würde. Es geht um eine Politik, die der Befreiung und Entfaltung von menschlichem Leben dient und Gesellschaften humaner gestaltet, insbesondere dort, wo Menschen um die Anerkennung ihrer Würde ringen. Von diesem menschenrechtlichen Ringen her stellt sich die Frage nach gesellschaftlichen (und kirchlichen) Ordnungen, nicht von Erfolgs- und Wachstumsprognosen oder Stabilitätshoffnungen.
In der Religion geht’s um die Sache der Menschen in der Welt von heute.
Damit ist ein Orientierungspunkt vorgegeben, mit dem sich Religionspolitiken beurteilen lassen. Dienen sie lediglich einer gesellschaftlichen Integration? Leisten sie eventuell sogar sozialen Ausschlüssen Vorschub? Oder stellen sie sich in den Dienst einer Menschwerdung, die durch Kritik und Kreativität Exklusionen verringert?
Das Evangelium hat stets etwas Oppositionelles. Es fügt sich nicht in die gegebenen Machtverhältnisse, sondern begibt sich in Kritik. Allen gegenüber, insbesondere mit dem Blick auf die stillschweigend Ausgeschlossenen und Dehumanisierten der Gegenwart (nicht bloß außerhalb, sondern auch innerhalb von Kirchen selbst). Was dadurch entsteht: Eine Religionspolitik als Humanisierungspolitik, die selbst- und fremdgesetzte Exklusionen kritisch überschreitet und auf humanere Alternativen hindrängt. In der Religion geht’s um die Sache der Menschen in der Welt von heute. Wann kommt die Zeit, darüber zu reden?
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Christian Kern ist Theologe in Würzburg und Doktorand an der Universität Salzburg.
Bild: Tim Reckmann / pixelio.de