Musik trifft unmittelbar und kann die Wirklichkeit heutiger Existenz erfahren lassen: in Wagnis und Zeitgenossenschaft. Rainer Bucher über das zugleich flüchtigste und intensivste Kunstmedium.
Bayreuth, meine Heimatstadt, ist protestantisch geprägt. In meiner Jugend habe ich am Protestantismus immer zwei Dinge geschätzt: seine Offenheit gegenüber moderner Wissenschaft und Kultur, da fremdelte damals der Katholizismus noch immer ein wenig, und die Kirchenmusik, vor allem jene Bachs. Kirchenmusik ist etwas ungemein Starkes, das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie auch außerhalb des liturgischen Raums funktioniert. Das kann man theologisch nur begrüßen, zumal die Nutzung religiöser Inhalte, Praktiken und Ausdrucksformen in der Postmoderne generell freigegeben ist. Nichts und niemand kann mehr kontrollieren, was mit ihnen geschieht.
Liturgie ist ein Entdeckungsprozess in Wort und Tat, in Fühlen und Wollen.
Nun darf die Kirche deswegen natürlich nicht aufhören, ihre Liturgie zu feiern, in vielfältigen Formen und Ästhetiken, geleitet von Männern und Frauen und immer in Demut vor der größeren Gnade Gottes. Die gemeinsame Feier, das gemeinsame Gebet, das Hören und Bedenken des Evangeliums: Sie sind tatsächlich die Mitte der Kirche. Denn hier wird eines klar: Kirche verdankt sich nicht selbst, sondern der Gnade und Selbstoffenbarung Gottes, und ihre Antwort darauf kann nur Lob und Dank sein, aber auch das Bringen all unserer Bitten und Klagen vor Gott. Die Liturgie ist kein Ort der Repräsentation kirchlicher Herrlichkeit, sondern ein Ort der demütigen und dankbaren Einkehr vor Gott, der Hoffnung und des Aufatmens, der Solidarität und der Einsicht in die eigene Armseligkeit.
Sie ist darin ein pastoraler Ort. Heutiges Leben, heutige Existenz mit dem Evangelium zu konfrontieren, kreativ und hilfreich, neue Wege eröffnend, Wege, die man ohne das Evangelium nicht hätte: das ist die Aufgabe der Kirche und das II. Vatikanum nennt genau das „Pastoral“. Sie ist ein wechselseitiger Entdeckungsprozess von Evangelium und Existenz, in Wort und Tat, in Fühlen und Wollen. Das ist bei aller Vorbildlichkeit der Väter und Mütter unseres Glaubens ein offener, risikoreicher, gewagter Prozess, unabgeschlossen und von Rückschlägen nicht frei, aber auch erregend und voller intensiver Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind, wie der Glaube überhaupt, aber vor allem eines: Geschenk und Gnade.
Kirchenmusik kann darin einen Raum der Erkenntnis und des Trostes eröffnen, als unverfügbares Geschenk.
Zu all dem aber – Einkehr vor Gott, Hoffnung und Aufatmen, Solidarität und Einsicht in die eigene Armseligkeit – dazu kann die Musik, als das zugleich flüchtigste und intensivste Kunstmedium, das uns über die Ohren, dieses nicht-verschließbare Sinnesorgan, erreicht und anrührt in vorbewussten Zonen unserer Existenz, unendlich viel beitragen. Kirchenmusik ist daher selbst Pastoral, kann es sein, sollte es sein – freilich hat man es nicht im Griff, ob sie es ist. Denn ob Kirchenmusik Erfahrung der Gnade ist, das ist selber Gnade, und die kann man zwar verhindern und behindern, nie aber erzwingen. Wer je Bach, geistliche Musik von Arvo Pärt oder das Verdi-Requiem mit offenen Sinnen und offenem Herzen gehört, oder auch nur andächtig ein Kirchenlied gesungen hat, dem eröffnet sich ein Raum der Erkenntnis und des Trostes durch das Evangelium.
Wenn dem so ist, wenn Kirchenmusik selbst Pastoral ist, dann hätte ich drei Wünsche an Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker.
Drei Wünsche an Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker:
Zum einen: Präsentieren Sie doch in der Kirche die ganze Bandbreite der Musik von Palestrina bis Stockhausen oder wenigstens Morten Lauridsen im Rahmen der Liturgie oder auch außerhalb davon. Musik verkörpert, wie jede Kunst, intensivierte Welterfahrung, zeitgenössische Kunst dann zeitgenössische Welterfahrung. Autoritäre Herrscher wissen, warum sie als erstes zeitgenössische Kunst verbieten, zusammen mit der freien Presse. Weil hier die widerständige Wirklichkeit sich formuliert: ungebändigt und doch in höchster Intensität und Form, realistisch und nicht vorzeitig gezügelt und zurechtgestutzt. Pastoral ist die kreative Konfrontation von Evangelium und Existenz – nicht von Evangelium und gebändigter, vorformatierter, abmoderierter, bereits domestizierter Existenz, sondern Existenz, wie sie heute ist.
Das Wagnis zeitgenössischer Welterfahrung.
Der Zentralsatz einer christlichen Erkenntnislehre lautet, dass die Wirklichkeit nur erfahren wird, wenn man sich tatsächlich auf sie einlässt, und zwar so, wie sich Gott in Jesus auf die Welt eingelassen hat: ganz und gar. Kunst ist ein hervorragender Weg, dies zu tun, Musik ist ein hervorragender Weg, es zu tun: Sie darf nicht domestiziert werden, weit mehr Wagnis ist notwendig.
Zweitens aber: Verflüssigen Sie doch die Kirchengrenzen! Die Musik ist eine bemerkenswert flüchtige Kunst, sie ist im Moment ihrer Entstehung auch schon vorbei. Und sie ist eine ungemein unmittelbare Kunst, denn anders als Wort- und selbst als Bild-basierte Künste ist ihr Eigentliches ganz jenseits oder, wenn man will, diesseits des Begrifflichen.
Die Überschreitung der Kirchengrenzen.
Das Jetzt aber ist der Moment Gottes. „Gott kommt im Heute entgegen“, sagt Papst Franziskus. Pastoral ist Ereignis und Geschehen, nicht Institution und Struktur. Konkret: Kirchenmusik müsste die traditionellen Räume des Kirchlichen überschreiten und umgekehrt Welt von Heute in die klassischen kirchlichen Räume transportieren, mit Musik übrigens auch, die nicht klassisch „Kirchenmusik“ ist. Denn nur wo Gegenwart und Evangelium sich begegnen wird Kirche gegenwärtig.
Das hat freilich eine Voraussetzung, und das wäre mein dritte Wunsch: Kirchenmusik sollte sich nicht nach dem Musikgeschmack der verbliebenen Gemeindemitglieder richten, sondern Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker sollten eine ihrer vornehmsten Aufgaben darin sehen, den Musikgeschmack der Christinnen und Christen zu bilden. Das ist ihr spezifischer Bildungsauftrag!
Gegen die Domestizierung auf den mittleren Musikgeschmack.
Wie jeder Bildungsprozess soll er natürlich mit Sensibilität und achtsam geschehen, aber er muss geschehen. Es kann nicht sein, dass man es nicht wagt, die Kirche an ihren unterschiedlichsten pastoralen Orten mit der musikalischen Kompetenz zu überraschen, die heutige Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker besitzen. Dazu gehört auch erziehen, bilden, konfrontieren. Gerade weil Kirchenmusik im Dienst der Pastoral steht, ja selbst, wo sie gelingt, Pastoral ist, darf sie sich nicht einschüchtern, domestizieren, einebnen lassen auf den mittleren Musikgeschmack der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder der Ehrenamtlichen. Die europäische Kirchenmusik steht für eine große Tradition und für die Gegenwart einer der größten, erschütterndsten, intensivsten Kunsterfahrungen des menschlichen Lebens.
Musik als Sprache noch für das stumme Elend. Als Ahnung der ersehnten Erlösung.
In diesen Erfahrungen aber eröffnen sich Ahnungen, was es mit unserer Existenz auf sich hat. Das allein schon ist zutiefst christlich, denn es ist Annahme der Wirklichkeit, der Schöpfung in all ihren himmlischen Höhen und diabolischen Abgründen. Es gibt zudem Musik, die „eine Meisterschaft darin hat, die Töne aus dem Reich leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu finden und auch noch dem stummen Elend Sprache zu geben“. Das ist nun ganz besonders christlich, auch wenn das Nietzsche ausgerechnet über – Teile von – Wagners Musik gesagt hat.
Und dann gibt es noch Momente, wie etwa die Generalpause am Schluss von Händels Halleluja, die ahnen lassen, was es auf sich haben könnte mit jenem Frieden und jener Erlösung, nach der alle sich sehnen – und in der auf Erden, außer vielleicht in den wenigen Sekunden der wahren Empfindung, noch niemand wirklich war.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
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„Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein…“ (Nietzsche)