Die Kolumne für die kommenden Tage 49
Wie kann ich die Spannung halten zwischen einem persönlich guten Leben und den gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen?
Es müsste mir gut gehen. Ich habe eine gut bezahlte Anstellung, die Arbeit macht mir Freude, ich arbeite auch gerne zuhause und bin dafür bestens eingerichtet. Corona ermöglicht mir, meine Schreibschulden abzuarbeiten und durch den Zwang zum Online-Learning Neues dazuzulernen. Mein Sohn studiert daheim und kann hervorragend kochen.
Und trotzdem geht es mir nicht wirklich gut. Seit jeher, wenn ich daheim arbeite, ist der österreichische Kultursender Ö1 mein Lebensbegleiter. Da dieser nun 24/7 läuft, höre ich, was sich politisch und ökonomisch in Österreich, Europa und der Welt abspielt. Auch Freundinnen und Freunde aus der Caritas, der Telefonseelsorge, aus dem politischen Raum erzählen mir Dinge, die mich unruhig werden lassen. Arbeitslosigkeit, Existenzängste, „Covi-Divorces“, Gewalt in Familien, autoritäre Tendenzen, Krankheit und Tod, explodierende Armut – lokal und global, Kinder, die sterben. Ich spüre förmlich am ganzen Körper, wie die gesellschaftliche Ordnung erschüttert wird und fürchte mich vor den Verwerfungen, die auf uns zukommen werden. Wir sind in die nächste Phase eingetreten. Die Angst vor Corona weicht der Angst vor dem Wohlstandsverlust. Die Solidarität bröckelt. Der Kampf um die politischen Lösungen beginnt.
So irreal sich das in meiner großen, schönen, vom Frühlingslicht durchfluteten Wohnung anfühlt: Diese Verwerfungen sind real.
Wie kann ich mit Spannungen umgehen?
Mich überkommt Scham. Scham ist ein narzisstisches Gefühl, denn man fühlt sich bloßgestellt. Tatsächlich wird derzeit mein Ort im gesellschaftlich-politischen Raum sichtbar. Im Vergleich zu vielen anderen ein sicherer, geschützter Ort. Ich spüre Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen.
Nein, ich will mir diese Gefühle nicht ausreden oder schönreden (lassen). Von Psychotherapeuten habe ich gelernt, dass sie zur Quelle des Handelns werden können. Dann hören sie auch wieder auf. Also habe ich mit unserem Institut gemeinsam einen (Post)Corona-Blog gestartet: https://theocare.network Und ich habe mich bei „füreinand“, ein „Plaudernetz“, angemeldet: https://fuereinand.at/index.html. Ich suche einen Ort, wo ich mich politisch besser einbringen kann.
Wie soll ich mit diesen Spannungen umgehen, die trotz des Handelns bleiben, das immer zu wenig ist?
Ich gestehe, mit professionellen Tipps der Marke „man muss sich abgrenzen“ habe ich noch nie viel anfangen können. Nicht weil dies nicht sinnvoll wäre. Aber ich habe zu oft gesehen, dass diese Abgrenzungen mit Ausblendung, Selbstschönfärberei, Beschaulichkeit, Privatisierung und manchmal sogar Hartherzigkeit einher gehen können. Die wenigsten können die Spannung halten zwischen einer authentischen Gelassenheit und einem Engagement, das sich berühren lässt. Ich beneide sie. Ich bin nicht gelassen.
Mystik und Politik
Alternativen sehe ich bei Frauen wie Hildegard Burjan CS oder Simone Weil. Beide verbanden Mystik und Politik, beide verausgabten sich in ihrem Einsatz für marginalisierte Menschen. Beide starben aber auch infolge von Erschöpfung. Letzteres erschreckt mich. Es hat eine selbstschädigende Dimension. Insbesondere das Verhalten von Simone Weil würde man heute professionell als neurotisch bezeichnen. Ist es deshalb falsch? Gibt es nichts dazwischen?
Mir helfen derzeit die Überlegungen von Dorothee Sölle. Bei ihr finde ich mich wieder. In ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ zeigt sie mir einen Weg, mit der aktuellen Situation umzugehen. Sie zeigt, dass das politische Engagement einer Christin kein Selbstzweck ist, sondern aus einer existenziellen Wahrnehmung des Leidens von Menschen erwächst.
Man kann dann nicht anders als politisch werden – wenn man nach den Ursachen des Leidens fragt. Politisches Engagement ist deshalb kein Sonderbereich christlichen Lebens, sondern ein existenzieller Ausdruck des Glaubens, eine Lebensweise. So erlebe auch ich es. Deshalb halte ich – trotz meiner schönen Wohnung und meiner Angst vor dieser unheimlichen Krankheit – das räumliche Eingeschränkt-Werden nur sehr schwer aus. Ich werde zum Privatisieren gezwungen. Das mache ich sicher nicht mehr lange mit.
Wenn ich mir dann selbst zuhöre, frage ich mich: Ist das nicht eine übertriebene Reaktion?
Mystische Übertreibung
Dorothee Sölle hilft mir auch hier weiter. Sie sagt, dass dem Christentum die Übertreibung innewohnt. Freilich nicht in einem emotionalen, in einem histrionischem Sinn. Sie spricht von einer mystischen Übertreibung, ohne die man den Katastrophen der Welt gar nicht standhalten kann. Man würde verzweifeln.
Anders gesagt: Ohne eine tiefe Verbindung zu Gott kann man gar nicht sinnvoll politisch handeln. Ohne von Gott nicht alles zu erwarten und zu hoffen, dass er uns helfen kann, auch aus dem größten Übel etwas Sinnvolles zu gestalten, kann man sich der Wirklichkeit nicht stellen.
Um diese Verbindung ringe ich, mich prüfend, aus welcher geistigen Wurzel meine Unruhe stammt. Entstammt sie dem Mitgefühl oder bin ich einfach nur hysterisch?
Keine Sorge, ich lege mich dazwischen auch zur Entspannung in die Badewanne, gehe spazieren und genieße den Frühling. Aber ich möchte nicht taub und blind werden gegenüber dem Leid, mit dem wir in den nächsten Jahren konfrontiert sein werden. Ich ringe um das Aushalten dieser Spannung. Und ich suche nach Möglichkeiten, zu handeln.
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Autorin: Regina Polak ist Assoziierte Professorin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; seit Jän 2020 Personal Representative of the OSCE Chairperson-in-Office on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions
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