Helmut Kirchengast schaut in seinem Leserbrief unter die „Spitze des Einbergs“ der neuen geistlichen Gemeinschaften.
Seit Jahren beschäftige ich mich in meiner Arbeit mit Sekten und problematischen Weltanschauungen. Dabei stoße ich sehr häufig auf das Phänomen des geistlichen Missbrauchs. Auch sexueller Missbrauch und unterschiedlichste Formen von Gewalt spielen immer wieder eine Rolle.
Die Analyse problematischer Gruppen und Weltanschauungen zeigt deutlich, dass ihnen signifikante Umgangsformen und Vorstellungen gemein sind, die in Folge mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Missbrauch führen. Zu diesen Umgangsformen und Vorstellungen gehören z.B.:
- Das Unterdrücken und Verleugnen interner Kritik. Gegebenenfalls muss man sogar mit einer Bestrafung rechnen.
- Es gibt einen ausgeprägten Führer-Kult, der oftmals unbedingten Gehorsam impliziert. Wer nicht gehorcht wird bestraft.
- Die Führungsperson wird spirituell glorifiziert. Ihr Wort ist „göttliches“ Wort und steht über allem anderen, was in der Gruppe geäußert wird.
- Es gibt ein schwarz-weißes Weltbild: Wir sind die Guten, alles andere ist Böse und gefährlich. Nur in der Gruppe findest du Heil, kannst du gerettet werden, außerhalb bist du verdammt.
- Viele Gruppen arbeiten mit der Angst vor dem Bösen, dem Teufel, den Dämonen, der ewigen Verdammnis u.a.m.
- Oftmals ist es Ziel, Menschen aus ihren Herkunfts-Sozialräumen herauszulösen, um sie existentiell und emotional stärker an die Gruppe binden zu können.
- Innerhalb der Gruppen gibt es einen starken Zwang sich anzupassen und unter zu ordnen. Verweigerung wird sanktioniert.
- Jegliche Anforderungen an die Mitglieder – und seien diese Anforderungen noch so absurd und unmenschlich – werden als, „für den Glauben und das eigene Heil notwendig“, spirituell verbrämt, und damit religiös legitimiert.
Teile dieser Umgangsformen und Vorstellungen – unterschiedlich stark ausgeprägt – findet man in den meisten sogenannten „Neuen geistlichen Bewegungen“.
Das Problem bei diesen katholischen Gruppierungen sehe ich vor allem darin, dass die Grundlagen für diese Umgangsformen Teil ihrer theologischen DNA sind, und diese DNA innerhalb des „katholischen Verfassungsbogens“ nach wie vor Platz findet. Ihre religiösen Vorstellungen von Gott und Welt fördern die Selbstaufgabe und die freiwillige Unterwerfung unter eine spirituelle Autorität. Scham und persönliche Schuld sind allgegenwärtig. Ungestüme Lebenslust und Freude an der irdischen Welt äußerst fragwürdig ob der Notwendigkeit, der „Welt“ zu entsagen.
Dass all dies den Boden für Missbrauch aufbereitet, ist selbstredend. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn Céline Hoyeau in ihrer Studie zu diesem Ergebnis kommt.
Wenn kirchliche Verantwortungsträger den Blick auf Gruppen außerhalb der Kirche richten, ist es für sie meist selbstverständlich, dass all diese Verhaltensweisen ein „absolutes“ No-Go sind. Doch beim Blick nach innen, auf die eigene Institution, gibt es hier leider viele blinde Flecken.
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Mag. Helmut Kirchengast ist Referent für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Diözese Graz-Seckau