Die Fastenzeit ruft zur Umkehr. Maria Widl nimmt den Begriff der Umkehr wörtlich und kommt zu erstaunlichen Einsichten.
In der jährlichen Fastenzeit erschallt liturgisch regelmäßig der Ruf zu Buße und Umkehr. Aber Hand aufs Herz: Geht er nicht mehr oder weniger ins Leere? Beichtväter berichten vom aussterbenden Sakrament. Und selbst die Osterbeichte wird vielerorts nur noch ganz wenig gepflegt. Woher kommt das? Kann es dafür gute Gründe geben?
Doppelt schwieriger Begriff
Umkehr ist unter modernen Voraussetzungen ein doppelt schwieriger Begriff. Einerseits widerspricht er dem positiven Menschenbild: der moderne Mensch sieht sich als grundsätzlich gut und gutwillig. Selbstredend glückt nicht immer alles so, wie man es sich wünscht. So manches war eher gut gemeint als gut gemacht; aber immerhin war der gute Wille da, auch wenn die Umstände kein besseres Ergebnis zuließen. Auch wünscht man den anderen gern alles Gute, wenngleich man die Nächstenliebe am Maß der Selbstliebe misst. Nur wer sich selbst liebt, kann auch andere lieben. Von daher muss man ja eigentlich zuerst auf sich selbst schauen. Und wenn es dann für die anderen nicht so ganz reicht, dann wird es das nächste Mal bestimmt besser werden. Sünde im klassischen Sinn wird damit ortlos; es ist eben dumm gelaufen, sagt man sich. Moralisch verwerflich sieht man sich jedenfalls nicht. Wo es keine Sünde gibt, braucht es auch keine Umkehr.
Andererseits: Es könnte natürlich auch besser gehen. Aber daran arbeiten wir. Wir haben schon viele Fortschritte erzielt und dürfen laufend mit vielen weiteren rechnen. Wir glauben an den Fortschritt, das Weiterkommen, das Immer-besser-Werden. Der Fortschritt eröffnet Zukunft; er gibt uns Motivation und Mut zu handeln. Und er gibt uns das Recht, uns auch einmal auf unseren Erfolgen auszuruhen, es uns bequem zu machen, auch einmal „fünfe grad sein“ zu lassen. Umkehr wäre jedenfalls ein Rückschritt; und den wollen wir unbedingt vermeiden.
Erste Assoziation: Navi
Wenn ich mit einem Begriff kämpfe, dann versuche ich, mir die Bilder zu vergegenwärtigen, die ich damit verbinde. Und mit dem Begriff Umkehr kämpfe ich schon lange. Im Laufe der Zeit habe ich immer neue Bilder dazu entdeckt, die mir weiterhelfen, und die ich hier gern teilen möchte. Meine erste Assoziation ist das Navi. Wenn ich falsch fahre, ertönt die freundlich-unerbittliche Stimme: „Bitte wenden. Bei nächster Möglichkeit: Bitte wenden.“ In den Anfängen dieser Technologie habe ich einen Reisebussfahrer erlebt, der die Strecke sehr genau kannte und das Gerät testen wollte. Er fuhr selbstredend nach seinen Gewohnheiten und war mit der Führung der freundlichen Frauenstimme schließlich garnicht einverstanden. Mit dem bayrisch-genervten Ausspruch: „Jetzt sei endlich staad, du blöde Urschl“ schaltete er das Gerät ab. Vielleicht geht es uns bei einer Umkehrverweigerung analog: Unser Gewissen meldet sich mit dem, was wir sollten. Und wir wissen ganz genau, dass wir es sollten. Und zugleich sind wir uns sicher, dass wir so nicht handeln werden, weil wir einfach nicht wollen. Als moderne Menschen schätzen wir unsere Freiheit über alles; und etwas nicht zu wollen, ist ein wesentlicher Ausdruck davon. Und wenn ich drüber nachdenke, warum ich nicht will, finde ich eine ganze Liste an guten Gründen, die mehr oder weniger zutreffen: es passt grade nicht; es fühlt sich irgendwie nicht gut an; ich kann mich dazu nicht aufraffen; etwas anderes ist mir wichtiger oder dringlicher; warum das so ist, darüber sollte ich mal nachdenken, wenn ich die Zeit dazu habe… Und schließlich: Ich mache das ja eigentlich schon lange so; spricht also wirklich so viel dagegen?
Zweite Assoziation: Wandern und Radfahren
Meine zweite Assoziation ist das Wandern und Radfahren. Wenn ich hier in Mitteldeutschland im hügeligen Gelände unterwegs bin, kann ich meine Wege ziemlich frei wählen, kann mal einen Abstecher machen und dann auf einem anderen Weg zur ursprünglich geplanten Route zurückkehren. Notfalls geht es auch einmal quer über ein winterlich gefrorenes Feld oder über einen holprigen Feldweg. Und zu Fuß ist auch ein Grashang oder eine krautige Böschung einfach und schnell überwunden. Der Freiheit der Wegvarianten sind kaum Grenzen gesetzt. Umkehren ist meist nicht nötig. Anders sieht es in den heimatlichen österreichischen Hochgebirgen aus. Da ist es dringlich geboten, sich strikt an den markierten Steig zu halten; aus mehreren Gründen.
- Erstens: Wildtiere und Wildpflanzen haben karge Lebensbedingungen und können sich von menschlichen Störungen kaum erholen. Es gilt also, sie so weitgehend wie möglich zu schützen, wenn man schon in ihren Lebensraum eindringt.
- Zweitens: Im weglosen Gelände, z.B. auf Hochplateaus, kommt man zwischen dem Kriechgehölz nur sehr langsam und beschwerlich voran. Unvorhersehbare Mulden und Abbrüche zwingen zu Umwegen; leicht kann man sich verirren, ganz schnell bricht da die Dämmerung herein, und man schafft es nicht rechtzeitig ins Tal oder die geplante Unterkunft; denn die Distanzen, die man zurücklegen muss, sind lang.
- Drittens: Befindet man sich in der felsigen Flanke und stellt fest, dass man den Weg verloren hat, gibt es wirklich nur eines: zähneknirschend umkehren. Schon oft sind unerfahrene Bergwanderer im losen Geröll abgestürzt. Und selbst der erfahrenste Kletterer wird nicht einfach versuchen, eine ihm unbekannte Wand zu ersteigen. Sie kann sich als viel zu schwierig und gefährlich zu klettern erweisen; oder der Fels wird brüchig und Sicherungen sind nicht möglich. Und was dann, wenn man die Wand trotzdem erstiegen hat und dort geht es dann gar nicht mehr weiter? Wer nach einem schönen Bergtag sicher und zufrieden sein Abendbrot genießen will, wird sehr gut auf den Weg achten und schnellstens umzukehren, wenn man sich vergangen hat.
Meine Analogie: Wenn es im Leben locker dahingeht, kann ich mir ungestraft viele Freiheiten leisten. Aber wenn es steil und steinig wird, und ich den rechten Weg verliere, dann hilft nur Einsicht und Umkehr. Alles andere kann tödlich sein.
Unlogisch?
Perspektivenwechsel weg von den Bildern und Analogien und hin zur Theologie: Umkehr steht nicht nur im Kontext der Sünde, sondern viel wichtiger der Nachfolge. Auch unsere Beichtpraxis bezieht sich ja in aller Regel nicht auf Todsünden, sondern ist geistliche Begleitung, ist Seelenführung. Markus fasst zu Beginn des Auftretens Jesu dessen Botschaft knapp und prägnant: „Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt.“ (Mk 1,15) Nachfolge und Umkehr gehören also zusammen. – Ich habe immer gern konkret und praktisch gedacht, und das war mir unlogisch. Wenn jeder Mensch in seiner ganz individuellen Richtung unterwegs ist, dann geht jeder anders. Wieso ist dann Jesus immer und für jeden genau in die Gegenrichtung unterwegs, sodass wir immer umkehren müssen, um ihm nachzufolgen?
Lösung aus der Esoterik
Einen interessanten Gedanken dazu fand ich in der christlichen Esoterik und seitdem kann ich mit dem Bild gut leben. Dort wurde die Umkehr nicht so beschrieben, wie ich sie mir bisher vorgestellt habe: Ich drehe mich 180 Grad um meine vertikale Achse; was bisher vorn war, ist jetzt hinten, was bisher hinten war, ist jetzt vorn. Das esoterische Bild ging anders: Ich drehe mich (was ich nur geistlich schaffe), um eine horizontale Achse; was bisher oben war, ist jetzt unten, was unten war ist jetzt oben. Der aufgerichtete Mensch mit ausgebreiteten Armen stellt ein Kreuz dar. „Ganz normal“ bin ich, wenn ich fest auf dem Boden der Tatsachen stehe und meine Nase – vielleicht sogar hoch-näsig, anmaßend, mich selbst gottgleich wähnend? – in den Himmel recke. Wenn ich mich „umkehre“, stelle ich mich mit den Füßen in die Wolken, stehe auf dem Boden der Logik des Himmels, und bin mit Augen und Nase ganz nah an all den Problemen und Nöten der Erde. Und ich kann nicht anders, als mich liebend zu erbarmen. Das halte ich nicht lange durch, „falle aus allen Wolken“ und trete wieder die Nöte und Probleme der Welt mit Füßen.
Wunder des Reiches Gottes
Der obige Mk-Text ist etwas umfassender. Jesus verkündete das Evangelium Gottes und sprach. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Wenn mir die Frohbotschaft, das Reich Gottes so nahe kommt, dass es mir nahe geht, erfahre ich die Fülle der Zeit, einen Kairos der Ganzheitlichkeit, die liebende Barmherzigkeit Gottes, den Sturm des Geistes, die Genialität und Schönheit der Schöpfung. Ich werde umgekehrt und finde mich mit den Füßen in den Wolken, sie tragen mich und alles wird leicht; auch wenn es ein Joch ist. Und wenn ich dann wieder hart auf dem Boden der Tatsachen des „Ganz normal“ gelandet bin, ist mein Glaube die Hoffnung, dass sich das Wunder der Umkehr, das Wunder des Reiches Gottes, das mir nahe geht, in Gottes Barmherzigkeit auch wieder ereignen wird.
Dr. Maria Widl war von 2005 bis 2024 Professorin für Pastoraltheolgie und Religionspädagogik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt.
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