Eine überfällige Transformation des Fronleichnamsfestes sondiert Wolfgang Beck dort, wo das Heilige in fremde Hände gegeben wird. Eine Kunstaktion von Otfried Kallfaß wird dabei zur Impulsgeberin.
Der Hamburger Künstler Otfried Kallfaß war offensichtlich fasziniert von den barocken Formen katholischer Religionspraxis und hat sie in ein Kunstprojekt überführt. Am Beginn steht ein beeindruckender Nachbau einer barocken Monstranz. Dieses reich verzierte liturgische Gerät, das dem Zeigen der konsekrierten Hostie dient, zieht gerade am Fronleichnamsfest mancherorts mehr Aufmerksamkeit auf sich als die darin befindliche schlichte Hostie selbst. Mit reichlich Gold und Zierwerk übt die Monstranz eine Faszination aus, der auch Kallfaß mit seiner Betrachtung erlegen ist. Otfried Kallfaß baut die barocke Monstranz aus Papier nach, eine Papp-Monstranz.[1] Erst auf den zweiten Blick wird damit erkennbar, dass hier aus dem selbstbewussten Instrument zur Gottes- und Selbsterhebung ein äußert empfindliches und verletzliches Kunstwerk geworden ist.
Die Papp-Monstranz in den Händen der Menschen.
Die Monstranz aus Papier mit ihrem durchscheinenden Herz in der Mitte, der sonst üblichen Leerstelle für die geweihte Hostie, gibt er Menschen in die Hand. Es sind Menschen, denen er zufällig begegnet. Sie verhalten sich unterschiedlich zu dem fremd und verletzlich wirkenden Gegenstand. Ein Brautpaar, liebende Paare aus der Queer-Community oder eine große Familie. Diese Monstranz beeindruckt nicht nur, sie bewirkt auch etwas in Verhalten, in Mimik und Miteinander der Menschen. Das liegt auch daran, dass ihnen die Monstranz in die Hand gegeben wird. Sie wird bei Fremden in Obhut gegeben. Welche Küster*in, welcher Pfarrer oder welche*r Leiter*in eines Diözesanmuseums würde das mit einer barocken Monstranz schon wagen? Dabei ist die Papier-Monstranz weit empfindlicher. In der Hand ganz unterschiedlicher Menschen verkörpert sie das notwendige Risiko, das dem christlichen Glauben eingeschrieben ist.
Die Papp-Monstranz in den Händen unterschiedlicher Menschen außerhalb von kirchlichen und liturgischen Kontexten repräsentiert den von Karl Rahner beschriebenen „Tutiorismus des Wagnisses“, die Verbindung aus Vertrauen und Risikofreude als Kern des christlichen Glaubens. Die Botschaft Jesu, seine Hinwendung zu allen Menschen, ist eben nicht ein zu schützender Besitz einer Kirche. Die „Menschheit hat (…) ein Mitspracherecht daran“[2], sie hat deshalb sich und das ihr Heiligste risikofreudig in die Hände der Mitmenschen zu legen.[3]
1. Ein Fest des unbehaust Sakralen.
Nahezu grotesk aus der Zeit gefallen und anachronistisch wirkt das Fronleichnamsfest mit seinen Prozessionen und seinem Brauchtum im Empfinden vieler Menschen. Auch unter katholischen Kirchenmitgliedern sind spöttelnde Bemerkungen und verdrehte Blicke längst üblich, wenn es um das kirchliche Brauchtum geht. Gerade in urbanen Kontexten scheint kaum etwas so deplatziert wie die öffentliche Praxis einer kirchlichen Tradition, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als machtvolle Präsenz instrumentalisiert und damit auch belastet wurde.
Ein Fest gegen Rückzug und Eigenlogik.
Was also tun mit diesem Fest? Wäre es denkbar, mithilfe der gegenwartskulturellen Spiegelung das Eigentliche der christlichen Hinwendung darin wiederzuentdecken? Schließlich steht in seinem Zentrum eine Bewegung (Prozession), mit der das Heilige den geschützten Bereich des Sakralraums verlässt. An keiner anderen Stelle kirchlicher Praxis kommt es zu einer derart expliziten Begegnung von Sakralem und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten. Und gerade diese Öffentlichkeiten sind der Ort, an dem Kirche zu sich selbst und gerade vor dem Hintergrund der Missbrauchs- und Vertuschungserfahrungen ihr wichtigstes Korrektiv findet. Auf nichts ist das Christentum gerade in seiner katholischen Ausprägung so angewiesen wie auf unabhängige gesellschaftliche Öffentlichkeiten. Es ist ein Fest gegen die Versuchung des Rückzugs und die Beschränkung auf Eigenlogiken.
2. Sakral nicht durch Absondern, sondern durch Aussetzen.
Hier kommt ein Verständnis des Sakralen zum Ausdruck, das nicht auf Separation und der Inszenierung des Verborgenen aufbaut, sondern auf dem offenen Zeigen und der Hinwendung. Das christliche Verständnis des Sakralen beruht ja nicht einfach darauf, Aufmerksamkeit für das Besondere und Mysterienhafte dadurch zu inszenieren, dass es dem Zugriff und Einblick entzogen und damit in einer Sphäre des Geheimnisvollen platziert wird. Das wäre eine allzu simple Struktur des Sakralen. So, wie Andacht und Liturgie noch nicht durch die Anhäufung von Tee-Lichtern aus dem Möbelhaus entstehen, so lässt sich das Sakrale nicht bloß durch kontrastierendes Verhalten, Verborgenheit oder geheimnisvolle Dramaturgie bestimmen.
Das Sakrale besteht zumindest komplementär in dem Wissen, dass sich in der Praxis Jesu das Heilige auch durch besonderes Zeigen, durch Hinwenden und Sichtbarmachen bildet. Gerade dieses Zeigen ermöglicht ein spätmodernes Anknüpfen: Was Jürgen Habermas als „kooperative Übersetzung von religiösen Gehalten und säkularer Vernunft“[4] beschreibt und auf Theodor W. Adornos Begriff von der „Einwanderung theologischer Gehalte in das profane Denken“[5] aufbaut, könnte seine rituelle Ausgestaltung im offenen Anbieten zentraler Vollzüge des Christentums finden. Es wäre eine risikofreudige Selbstauslieferung, die sich vom Habitus der machtvollen Kontrolle über die eigenen Traditionsbestände zu verabschieden hätte und Freiheit und Kreativität des Glaubens in „wirklichkeitssetzende Handlungen“[6] überführt. Das Fronleichnamsfest ließe sich als rituell-liturgischer Vollzug jener topologischen Wende verstehen, mit der die jeweilige Gegenwartsgesellschaft zu einem entscheidenden theologischen Lernort wird.
Möglich wäre diese liturgische Formation einer „Theologie des Zusammenlebens“[7] mit einer gesamtgesellschaftlichen und gemeinwohlorientierten Perspektive aber nur dort, wo es von den machtförmigen Exklusionsgesten und klerikalistischen Selbstüberhöhungen, von der Dominanz der geschilderten separationstheoretischen Sakralitätsverständnisse und einer unbedarften Gottesgewissheit befreit würde.
3. Das Heiligste in fremde Hände!
Warum also nicht anstelle einer Prozession Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen einladen, angesichts von Monstranz und Sakrament der Kirche eigene Erwartungen, Forderungen und Impulse vorzutragen? Warum nicht spezifische Formate entwickeln, in denen bewusst das Gespräch mit Akteur*innen der Stadtgesellschaft oder der Region gesucht werden? Es könnte eine Form sein, sich als Kirche von gesellschaftlichen Akteur*innen einen impliziten Segen zusprechen zu lassen und dabei die Überzeugung auszudrücken, dass niemand so sehr auf die kritischen und anregenden Öffentlichkeiten angewiesen ist, wie Religionen. Die katholische Kirche vergewisserte sich darin ihres konziliaren Selbstverständnisses als Welt-Kirche, die sich von einem kontrastiven Gegenüber zur Gesellschaft befreit weiß. Eigentlich muss erstaunen, wie wenig dieses Fest mit der Begegnung von Sakralem und Öffentlichkeiten in den zurückliegenden Jahrzehnten dadurch weiterentwickelt und gestaltet worden ist, solche Begegnungsflächen mit Personen des gesellschaftlichen Lebens – den bekannten wie auch den vielfach übersehenen – zu ermöglichen. Schon Navid Kermani hatte mit seinem „ungläubigen Staunen“ vor wenigen Jahren einen nicht-christlichen und damit besonders geistlichen und geistreichen Zugang zur katholischen Schaufrömmigkeit angeboten. Er hat mit darin mit einem ungewohnten Blick auf eine Monstranz den christlichen Glauben neu ins „Spiel“ [8] gebracht und mit einem stilvollen Schmunzeln den Gewinn durch Fremdperspektiven aufgezeigt.
An den meisten Orten wird das Fronleichnamsfest hingegen so gestaltet, als feiere die Kirche sich hier selbst und versuche an diesem Tag, die Präsenz von Skandalen und Reformstau vergessen zu machen. Doch diese Formen der Selbsterhebung und Selbststabilisierung konterkarieren den eigentlichen Kern. Wo hingegen das liturgische Fest in seinen rituellen Vollzügen geweitet würde, könnte es zu seinem eigentlichen Zentrum zurückfinden: der Segnung und Würdigung von Gegenwartsgesellschaften, in denen das Christentum sich selbst zu finden und zu verlieren hat.
4. Der zunehmende Trend zum Rückzug.
In großen Teilen der Kirche ist die Idee des Christentums als eines öffentlichen und damit ausgesetzten Glaubens vielen suspekt. Denn hinter Volksfrömmigkeit und kirchlichem Brauchtum, die vielerorts auch den schalen Beigeschmack vormoderner Machtdemonstration mit sich tragen, steckt diese durchaus anspruchsvolle und provokante Idee: Das Sakrale, gar das „Allerheiligste“, wird hier nicht durch Rückzug und Separation vom Säkularen bestimmt, um damit strukturelle Ungerechtigkeit und Intransparenz einer Religionsgemeinschaft zu legitimieren. Vielmehr wird es zum sichtbaren und verehrten Ort einer Risikofreude der Hinwendung zu allen Menschen. Vielleicht trägt das Fronleichnamsfest mit dieser Idee der Hinwendung des Sakralen zur jeweiligen Gegenwartsgesellschaft mehr spätmoderne Theologie des Aufbruchs in sich als bei aller Last des Brauchtums noch wahrgenommen werden kann. Es wäre eine alternative Lesart einer kurios anmutenden Tradition.
Vielleicht wäre es an der Zeit, dieses katholische Fest endlich weiter zu entwickeln: Hier ließe sich feiern, dass christlicher Glauben und kirchliches Leben sich risikofreudig auf Gegenwartskulturen einlassen, um von ihnen heilsam irritiert zu werden. In solchen Begegnungen eines Festes ließe sich Kirche als „Raum langfristiger Erinnerung der Geschichten vom möglichen Leben“[9] entdecken, wie es Dorothee Sölle sehnsuchtsvoll formulierte. Und dabei ließe sich auch als säkulare Gesellschaft feiern, dass sie von Religionen und Kirchen mitgestaltet wird, die sich nicht in Sonderwelten und Eigenlogiken zurückziehen. Es wäre das Fest einer Bereitschaft, sich selbst in die Hände von fremden Menschen zu geben und von ihnen mitbestimmen zu lassen – ohne die Angst, das Heiligste könnte Schaden nehmen.
Wie die Papp-Monstranz von Otfried Kallfaß in den Händen unterschiedlicher Menschen das Sakrale mit gegenwärtigen Lebenswelten verbindet, so wäre nach Formen zu suchen, ein Fest in die Hände unterschiedlicher Gesprächspartner*innen zu legen.
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Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Foto: PTH Sankt Georgen
Fotos: Wolfgang Beck (die Bilder im Text sind Bestandteil der Kunstinstallation)
[1] 2008 wurde die Kunstinstallation von Otfried Kallfaß mit dem Kunstpreis der Erzdiözese Freiburg ausgezeichnet.
[2] Sander, Hans-Joachim, Weniger oder mehr an Synodalität?, in: Winkler, Dietmar W. / Cerny-Werner, Roland (Hg.), Synodalität als Möglichkeitsraum. Erfahrungen – Herausforderungen – Perspektiven, Innsbruck 2023, 55-58, 58.
[3] Vgl. Beck, Wolfgang, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese, Ostfildern 22022, 333.
[4] Ich danke Thomas M. Schmidt für die Anregung zu diesem Gedankengang. Vgl. Schmidt, Thomas M., Aufhebung – Übersetzung – Dispersion. Religionsproduktive Tendenzen in postsäkularer Gesellschaft, in: Dürnberger, Martin / Krain, Judith / Stosch, Klaus von (Hg.), Gott – Welt – Mensch. Eine Auseinandersetzung mit Hans-Joachim Höhn, Würzburg 2023, 193-211, 203.
[5] Adorno, Theodor W., Vernunft und Offenbarung, in: Ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1969, 20-28, 20.
[6] Wendel, Saskia, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020, 121.
[7] Hilberath, Bernd Jochen, Dialog und Gewalt. Zu den Aufgaben einer Theologie des Zusammenlebens, in: Ders. / Abdallah, Mahmoud (Hg.), Theologie des Zusammenlebens. Christen und Muslime beginnen einen Weg, Ostfildern 22018, 241-271, 265
[8] Kermani, Navid, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, 214.
[9] Sölle, Dorothee, Mutanfälle. Texte zum Umdenken, Hamburg 1993, 46.