Ein langsam sterbender Baum, der sich über vier Stockwerke zieht. Vertrocknende Wasserlachen auf Vorarlberger Lehmboden. Und eine Künstlerin aus Nigeria, die kürzlich im Kunsthaus Bregenz zu sehen war. Christian Bauer entführt auf einen bilderreichen Erkundungsgang in die faszinierende Kunst von Otobong Nkanga.
Manchmal ist Kunst eine Offenbarung. So ging es auch uns, als wir vor einigen Wochen das Bregenzer Kunsthaus besucht haben. Allein schon die Architektur Peter Zumthors ist eine Reise wert. Vom 23. Oktober 2021 bis zum 6. März 2022 war dort ein großartiges, mehrdimensional inpirierendes Kunstwerk von Otobong Nkanga zu sehen.
Verwurzelt und vernetzt
Nkanga wurde 1974 in Nigeria geboren und lebt heute in Antwerpen. Sie hat unter anderem auf der documenta 2017 ausgestellt. Otobong Nkanga arbeitet konstellativ – in Bregenz konstelliert sie nicht nur verschiedene Materialien (Holz, Erde, Glas, Stoff) miteinander, sondern auch Rauminstallationen, Wandteppiche und poetische Verdichtungen.
Und sie arbeitet verwurzelt und vernetzt: mit lokalen Materialien und lokalen Partner:innen. An ihrer Kunst ist also nicht nur das Was von Bedeutung, sondern auch das Wie.
Starke, universale Bilder
Nkanga schafft starke, universale Bilder, die ins Auge fallen und im Kopf bleiben. Ihre Werke wirken, weil sie mit elementaren Dingen umgehen, die ein Fascinosum wie auch ein Tremendum sein können und in jedem Fall ein Gefühl des Augustum erzeugen: Erde, Wasser, Sonne.
Ein durchgängiges Narrativ („Abyss, Midnight, Twilight, Sunlight“) zieht sich über alle vier Stockwerke des Kunsthauses, verbunden durch den Stamm eines 33 Meter hohen Baumes aus dem Bregenzer Wald:
Mehrstöckige Erzählung
Diese mehrstöckige Erzählung wird nicht nur zu den vier Strophen eines Gedichts in Beziehung gesetzt, sondern auch mit vier großformatigen Wandteppichen:
Ein künstlerischer Grenzgang zwischen den Extremen des Lebens, von der Tiefsee bis hinauf zum Sonnenlicht:
Vielschichtiges Gesamtkunstwerk
Nkangas vielschichtiges Gesamtkunstwerk entzieht sich jeder direkten Verwertbarkeit – und doch eröffnet es ebenso inspirierende wie erschreckende Echoräume. Es setzt in unterschiedlichste Richtungen hinein Sinneffekte frei, ‚funktioniert‘ auf verschiedenen Ebenen:
- Politisch als Metapher für den erreichten Kipppunkt des Klimawandels,
- sozial als Metapher für die rassistischen Untiefen der Black history,
- kirchlich als Metapher für das Absterben einer überkommenen Sozialform,
- existenziell als Metapher für die transformative Dynamik des Lebens,
- spirituell als Metapher für die menschliche Suche nach Gott,
- theologisch als Metapher für eine terrestrisch gewendete Rede von Gott.
Zunächst zum Politischen: Wie auf globalem Makroniveau die Erdgeschichte[1], so hat auch Nkangas Kunst einen konstitutiven Zeitindex: Wasser vertrocknet mit der Zeit, ein Baum stirbt allmählich – und parallel dazu wächst in Echtzeit neues Leben im geschützten Raum von biosphärischen Kugeln.
Invertierte Inseln
Besonders eindruckvoll habe ich in diesem Zusammenhang die invertierte Insel im Erdgeschoß erlebt: Eine langsam austrocknende Wasserpfütze, die nicht insulares Land in reichlich vorhandenem Wasser sinnenfällig zur Darstellung bringt, sondern allmählich verschwindendes Wasser auf reichlich trockenem Land.
In Nkangas Narrativ näher an der sengenden Sonne befinden sich ebenfalls vertrocknende Wasser-Land-Inseln in den anfangs noch großen Wasserflächen auf dem Lehmboden im obersten Stockwerk.
Sitzen wir in der planetarischen Falle?
Manchmal sind es auch unbeabsichtigte Details, die intensiv weiterwirken – wie das grüne Exit-Zeichen über einer verschlossenen Fluchttür: Gibt es einen Ausweg aus der Katastrophe? Oder sitzen wir ohne extraterrestrischen Fluchtweg in der planetarischen Falle?
Zum Sozialen: Otobong Nkanga ist eine schwarze Frau. Auf ihren Wandteppichen ist die marginalisierende Geschichte von Afrikaner:innen in elementare Bilder hineinverwoben – zum Beispiel die Gliedmaßen von Menschen aus gekenterten Schiffen, die zusammen mit jeder Menge Zivilisationsmüll im Netz festhängen:
Biosphären neuen Lebens
Zum Kirchlichen: Schnell identifziert man die vergehende Sozialform der gegenwärtigen Kirche mit dem Kontrast von absterbendem Baum und den Biosphären neuen Lebens, die mit ihm durch starke Taue verbunden sind. Schon immer mussten in der Kirchengeschichte neue Sozialformen des Christlichen den Anschluss an die kirchliche Tradition bewusst suchen und aktiv herstellen.
Zum Existenziellen: Nkanga sitzt sich mit den großen Fragen von Werden und Vergehen auseinander. In einem sehenswerten Interviewfilm beschreibt Otobong Nkanga diesen Zusammenhang des Lebens: „Tod, Leben und das Dazwischen. Den Tod nicht nur als Tod begreifen, sondern als das Ende von etwas, das ein Übergang zu etwas anderem ist. […] Der Mensch geht in etwas anderes, in ein anderes Wesen über, in ein Mineral, in Erde, in Pflanzen, die wir wieder nehmen und verwenden. Das ist ein Energiekreislauf, der sich unaufhörlich fortsetzt.“
Poesie verdichtet die künstlerische „Produktion von Sinn“ (M. de Certeau):
Gefährliche Annäherung
Zum Spirituellen: Im obersten Stockwerk ist die Kraft der Sonne am stärksten. Hier ist das Leben am fragilsten, denn es hier gibt keinen Schutz mehr. Dort oben ist – nachdem man die Stufen der Treppe Zumthors (Stichwort: Jakobsleiter!) hinaufgestiegen ist – auch der Ort einer möglichen und zugleich gefährlichen Annäherung an Gott. Wer sich seinem Geheimnis aussetzt, kann beschädigt werden. Denn Gott ist „verzehrendes Feuer“ (Dtn 4,24): „Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“ (Ex 33,20).
Um sich ihm zu nähern, braucht es schon eine gute spirituelle Erdung mit starken Wurzeln und reichen Quellen.
Aufklärende Offenbarung
Abschließend noch zum Theologischen: Die Ausstellung trägt den Titel Unearthed – was man zunächst einmal wörtlich mit ‚ent-erdet’ übersetzen kann, dann aber etwas freier mit ‚ausgegraben’ und ‚aufgedeckt’ oder in übertragenem Sinn auch mit ‚zu Tage gefördert’ und ‚ans Licht gebracht’.
Die aufklärende Offenbarungsqualität des Erdhaften ermöglicht einen material turn auch der Theologie. Angesichts der Klimakatastrophe wäre dann zum Beispiel auch die Kirche mit dem Zweiten Vatikanum nicht mehr nur global-abstrakt als „Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) zu verstehen, sondern auch terrestrisch-konkret als eine klimasensible Kirche auf dem Boden der Erde. Im Gespräch mit der terrestrisch gewendeten Soziologie Bruno Latours[2] könnte ein erdbezogen konstitutierter Gottesdiskurs[3] die anthropologische Wende Karl Rahners gegenwartssensibel fortschreiben. Denn man darf von Gott heute nicht mehr reden, ohne zugleich auch von der Erde zu sprechen.
Otobong Nkanga wäre dafür eine hervorragende Gesprächspartnerin.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie sowie Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
Bildquellen: Alexandra und Christian Bauer
[1] Vgl. expl. Dipesh Chakrabarty: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter, Berlin 2022. Siehe auch die großartige zweiteilige Terra X-Serie Klima macht Geschichte.
[2] Vor der Hintergrund der Klimakatastrophe fordert Latour eine elementare „Rückkehr zur Erde“ (Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Neue Klimaregime, Berlin 2017, 372) die von „Terrestrischen, von Erdverbundenen“ (Ders.: Das terrestrische Manifest, Berin 2018, 101) spricht, wenn sie von Menschen in ihrem doing locality redet: „Während das LOKALE sich […] abschließt, differenziert sich das TERRESTRISCHE durch Öffnung. […] Denn das TERRESTRISCHE hängt zwar an Erde und Boden, ist aber auch welthaft in dem Sinne, dass es […] über alle Identitäten hinausweist.“ (Ebd., 46f; 65f).
[3] Vgl. Christian Bauer: Theologie der Erde? Umrisse einer terrestrischen Rede von Gott, in: Ders., Daniel Bogner, Michael Schüßler (Hg.): Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie anders denken mit Bruno Latour, Bielefeld 2021, 109-148 (Open-Access-Ausgabe: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/68/a7/a3/oa9783839458693.pdf). Siehe auch die sechsbändige Mystique de la terre des zu Unrecht vergessenen französischen Jesuiten Victor Poucel (1872-1953), dessen terrestrische Spiritualität unter anderem auch seinen ungleich bekannteren Mitbruder Pierre Teilhard de Chardin beeinflusste: „Weil wir die Mystik der Erde vergessen haben, weisen wir jene des Himmels zurück. […] Es geht darum, sich wieder im Konkreten niederzulassen, um dort den Leitfaden des Lebens wiederaufzunehmen.“ (Victor Poucel: Plaidoyer pour le corps, Paris 1937, 5ff).