Medizinisch geboten ist es aktuell, auf Abstand zu gehen und auf Sozialkontakte zu verzichten. Solidarität ist das noch nicht. Andreas Hellgermann und Julia Lis weiten die Perspektive. Unser Händewaschen wird für die Geflüchteten in den Lagern Europas nicht ausreichen.
„Solidarität zeigen, indem Sie Abstand zueinander halten – eine scheinbare paradoxe Sache, die aber heute notwendig ist. Gerade den Schwächsten, den älteren Menschen, den Menschen mit Vorerkrankungen hilft man am besten, wenn soziale Kontakte so weit wie möglich gemieden werden. Das ist die Solidarität in dieser Zeit, die wir brauchen.“ (Angela Merkel, Tagesschau 13.3., 20 Uhr)
Ähnlich klingt es beim Münsteraner Bischof, Felix Genn: „Wir sind alle zu einer großen Solidarität herausgefordert, die bedeutet, dass wir einander Nähe zeigen, indem wir Distanz halten. Das klingt in der Tat paradox, ist aber sehr hilfreich.“ (Bischof Felix Genn, Pressemeldung vom 17.3.2020)
Distanz ist geboten. Aber das ist noch kein Zeichen von Solidarität.
Es ist egal, ob dies eine unfreiwillige Offenlegung, ein Art Freud’sche Fehlleistung oder ein ernstgemeinter Versuch ist. Und selbstverständlich bestreitet auch niemand die Notwendigkeit, die Weitergabe des Virus durch räumlichen Abstand zu unterbrechen. Ja, das ist geboten. Aber das ist noch kein Zeichen von Solidarität. Bei Solidarität geht es um mehr und ganz anderes als jede noch so notwendige und hilfreiche Hygieneregel vermag. Das gilt auch, wenn gerade alles dafür spricht, solche Regeln einzuhalten!
Wie hingegen gerade über Solidarität gesprochen wird, spiegelt vor allem eins wieder: Was es in der Corona-Krise augenscheinlich braucht, scheint das Subjekt zu sein, das wir schon aus dem neoliberalen Alltag kennen: atomisiert, isoliert, auf sich allein gestellt. In seiner stärksten Ausprägung ist es gleichzeitig das digitale Subjekt, das über eine Vermittlungsinstanz, über einen Filter im Kontakt mit der Welt ist – oder besser: mit dem, was dieser Filter als „Welt“ autorisiert.
Das Wir-Gefühl trügt: die Gegensätze treten sogar drastischer und deutlicher denn je zutage.
Am wenigsten gefährdet und gefährdend ist die Person, die im Idealfall sowohl ihre „Sozialkontakte“ als auch ihre Konsumaktivitäten realisiert, ohne das Haus, die Wohnung, den Stuhl vor dem Bildschirm zu verlassen. Und das stimmt gerade natürlich. Angela Merkel hat Recht. Aber dieses neoliberale digitale Subjekt ist auch dasjenige, das im neoliberal-kapitalistischen Alltag außerhalb der Corona-Krise am besten klarkommt. Was das bedeutet, könnte uns vielleicht deutlicher denn je vor Augen treten, wenn die Pandemie überstanden ist.
Indessen trügt das Wir-Gefühl, das landauf landab unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung beschworen wird. Wir sitzen genauso wenig in einem Boot wie auch sonst in unserem neoliberal-kapitalistischen Alltag. Im Grunde treten die Gegensätze sogar drastischer und deutlicher denn je zutage. Auf der einen Seite stehen Menschen, die gelernt haben, mit den neoliberalen Gegebenheiten in einer digitalisierten Welt umzugehen und darin den Alltag zu bewältigen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, für die die neoliberale Atomisierung schon immer nichts anderes als Leiden produziert hat.
Nicht alle befinden sich in der privilegierten Situation, Corona „abfedern“ zu können.
Nicht alle können ihren Arbeitsplatz in das Homeoffice verlegen oder befinden sich in der privilegierten Situation, über die finanziellen Mittel zu verfügen, Corona „abfedern“ zu können. Es gibt diejenigen, die das gar nicht können: die prekär Beschäftigten, die Pflegeberufe, diejenigen, welche die Basisfunktion der Gesellschaft aufrechterhalten. Und es gibt Menschen in Lagern, in Gefängnissen, Menschen, die deshalb nicht zu Hause bleiben können, weil sie gar kein „Zuhause“ haben.
Die Zusammengehörigkeit von Abstand und Solidarität sei eine scheinbar paradoxe Sache, so sagt es Bischof Genn: Paradox bedeutet gegen, entgegen der Meinung. Aber warum nur scheinbar? Soll es bedeuten, dass wir es nur noch nicht wissen, dass die Tugend des Abstandhaltens, der Verzicht auf Sozialkontakte neuerdings Solidarität heißt? Das dürfen wir nicht einmal ansatzweise denken.
Solidarität bedeutet, im Horizont des guten Lebens aller Menschen zu denken und zu handeln.
Solidarität ist keine Anstands- oder Verhaltensregel. Sie meint vielmehr etwas ganz anderes. Solidarität bedeutet, im Horizont des guten Lebens aller Menschen zu denken und zu handeln. Das schließt ein, jene Grenzen zu sprengen, die errichtet worden sind und gesichert werden, um das gute Leben einiger auf Kosten vieler aufrechtzuerhalten.
Christlich gesprochen lässt sich Solidarität in diesem Sinne als Einheit der Nächsten- und Fernstenliebe beschreiben. Es geht um viele mehr als um mich, meine Familie, meine Freund*innen, Nachbar*innen, Bekannten. Es geht um alle. Unterhalb dieses Maßstabs ist Solidarität nicht zu haben.
Solidarität ist von den Anderen her zu denken, den Ausgeschlossenen und Bedrohten.
Das bedeutet in Zeiten einer Pandemie wie Corona, die weltweit die Körper und Leben so vieler Menschen bedroht, dass es Formen von Solidarität braucht, die sich mit dem Verzicht auf soziale Kontakte nicht zufrieden geben. Christlich gefordert ist eine Solidarität, die nicht einfach nur von der Mitte der Gesellschaft her denkt, von denen, die mir unmittelbar nahe sind, weil sie meine Lebensumstände teilen. Solidarität ist von den Anderen her zu denken, den Ausgeschlossenen, Bedrohten, der Lebensperspektiven Beraubten.
Unser Händewaschen wird nicht ausreichen für die Menschen auf Lesbos, die Geflüchteten in den Lagern Europas mit ihren katastrophalen medizinischen Bedingungen, die Wohnungslosen und Gefangenen. Sie brauchen unsere Stimmen, die nach wirklicher Solidarität schreien und sich dafür einsetzen, dass unsere Sorge auch im Angesicht der Pandemie nicht auf die Menschen der europäischen Mittelschichten beschränkt bleibt, sondern weltweit allen Menschen gleichermaßen gilt.
Solidarität besteht darin, die medizinischen Notwendigkeiten absolut ernst zu nehmen, aber das, was sie erfordern, gerade nicht Solidarität zu nennen.
Bezeichnend ist, dass diese Menschen in Bischof Genns Botschaft gar nicht vorkommen. Die gegenwärtige Situation produziert also Unsichtbares und Unsichtbare. Solidarität besteht darin, die medizinischen, epidemologischen Notwendigkeiten zwar selbstverständlich zu benennen und sie absolut ernst zu nehmen, aber das, was sie erfordern, gerade nicht Solidarität zu nennen.
Wir dürfen uns der Feindeslogik des Ausnahmezustands nicht beugen! Diese Logik ist nämlich langfristig ein genauso schwieriger Gegner wie die Pandemie selbst. Wir müssen Corona bekämpfen wollen, aber nicht um jeden Preis, nicht um den Preis der Aussetzung der Menschenrechte und der Aufgabe einer universalen Solidarität. Vieles spricht zudem dafür, dass der Kampf gegen Corona aus einer Perspektive universaler Solidarität eher und besser zu gewinnen ist.
Obwohl wir medizinisch geboten gerade auf Distanz gehen müssen, suchen und wollen wir gegenseitige Nähe!
Das aber stellt die eingangs zitierten Empfehlungen auf den Kopf: Obwohl wir medizinisch geboten gerade auf Distanz gehen müssen, suchen und wollen wir gegenseitige Nähe!
Papst Franziskus bringt diese ganz andere, umgekehrte Paradoxie auf den Punkt: „Denken wir zum Beispiel an die Nähe Jesu zu den verängstigten Emmaus-Jüngern. Er nähert sich ihnen nach und nach, macht ihnen die Botschaft des Lebens verständlich. Und er bittet auch uns, einander nah zu sein. In diesem Moment der Krise, den wir wegen der Pandemie erleben, müssen auch wir diese Nähe zeigen.“ (Papst Franziskus, Ansprache in der Frühmesse am 18.3.2020) Lasst uns gemeinsam nach Formen und Wegen dafür suchen und uns in unserem Mut und unserer Kreativität gegenseitig inspirieren.
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Dr. Andreas Hellegermann und Dr. Julia Lis sind Katholische TheologInnen und MitarbeiterInnen des Instituts für Theologie und Politik in Münster.
Bild: congerdesign / pixabay.com