Spätestens seit Corona und der Klimakrise wird klar: Das Verhältnis von Wissenschaft(en) und Gesellschaft ist alles andere als unkompliziert. Bernhard Laux und Rita Sturm zur Frage, was etwa Universitäten leisten sollen und können – und was sie dafür brauchen.
“Hört auf die Wissenschaft“ – so der Appell der neueren Klimabewegungen. Der Wissenschaft wird viel zugetraut: sie soll fundierte Analysen der Situation, der künftigen Entwicklung, der Ursachen und Folgen erarbeiten und schließlich Konzepte und Technologien für ein zielführendes Handeln liefern. Beides kann sie zwar, allerdings liegt die Bestimmung der Ziele nicht in ihrer Zuständigkeit. Zwischen der wissenschaftlichen Analyse und der Entwicklung wissenschaftsbasierter Handlungskonzepte und Technologien erstreckt sich das Feld der Klärung von Werten, Prioritäten und Zielen.
Wissenschaft muss dabei (mindestens) zwei Fehler vermeiden: Erstens darf sie keinen Kurzschluss zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischen Lösungskonzepten herstellen. Damit würde die Werte- und Zielefrage negiert (bzw. unter der Hand entschieden), dem demokratisch-politischen Diskurs entzogen und einer Herrschaft der Wissenschaft Vorschub geleistet.[1] Zweitens kann sich die Wissenschaft auch nicht distanziert zurücklehnen; schließlich werden ihre Analysen der Situation, der Realisierbarkeit von Zielen und der erfolgversprechenden Handlungsstrategien in den politischen Debatten über Werte und Ziele gebraucht. Nötig sind Wissenschaftler:innen, die ja zugleich Bürger:innen sind, die mit dem eigenständigen Feld des ethischen Erwägens und Urteilens reflektiert umgehen.
Universität als normativ bestimmte soziale Praxis
Universität ist eine soziale Praxis – oder: ein Bündel von Praktiken – und damit unausweichlich von Werten und Regeln durchzogen. Dabei kann eine innere Normativität, die die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse sichern soll, von einer äußeren Normativität unterschieden werden, die auf die Qualität der Leistungen ausgerichtet ist, die der Gesellschaft zukommen. Es geht um „Wissen über die Welt und für die Welt“ (N. Stehr). Durch die Verbindung von Forschung und wissenschaftlicher Bildung ist die Universität der zentrale Ort der Arbeit am wissenschaftlichen Wissen in der Gesellschaft. Daraus ergibt sich eine besondere Chance und Verantwortung.
Die normative Struktur der Forschung
Die innere Normativität soll an einem einzelnen Aspekt verdeutlicht werden: dem Diskurs in der scientific community, der Gemeinschaft der Forschenden. Er kann als das Herzstück der Wissenschaft und als ihre Basismethode verstanden werden. Forschungserträge müssen sich hier der kritischen Prüfung aussetzen, die sich u.a. auf die Hypothesenbildung, die methodische Qualität der Datengewinnung sowie die Tragfähigkeit und Schlüssigkeit der theoretischen Folgerungen bezieht. Dieser Diskurs soll machtfrei, argumentativ und kritisch sein und die Teilnahmemöglichkeit nur an inhaltliche Kompetenz knüpfen. Nur dann kann er Forschungsergebnissen den Status geprüften und damit (vorläufig) gültigen wissenschaftlichen Wissens zuerkennen. Zugespitzt veranschaulicht: Wenn Wissenschaft vornehmlich von weißen Männern betrieben wird, sind Aussagen über die Geschlechter oder über andere Kulturen mit Vorsicht zu genießen, wie feministische und postkoloniale Wissenschaftstheorie und -kritik hinlänglich gezeigt haben.[2]
Die auf gesellschaftliche Leistungen und Wirkungen bezogene äußere Normativität umfasst zunächst die Verantwortung für die Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendung. Wissenschaftlichem Ethos angemessen ist es, Nutzen und Risiken bereits im Forschungsprozess zu antizipieren. Entscheidend für reflektierte Anwendungsentwicklungen und Nutzungsentscheidungen bleibt aber deren Abwägung im Dialog zwischen gesellschaftlichen Akteuren und Forschenden. Letztere haben, auch wenn die Nutzung letztlich nicht in ihrer Hand liegt, eine Mitverantwortung, die sie durch Antizipation von Folgen und vor allem durch ihre Beteiligung bei der gesellschaftlichen Abwägung von Nutzen und Risiken wahrnehmen.
Wissenschaftliche Erträge sollen der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Wenn sie bevorzugt bestimmten Gesellschaftssektoren (v.a. der Wirtschaft) Nutzen bringen oder nur privilegierte Bevölkerungsgruppen erreichen, stellt dies eine Ungerechtigkeit dar, die in Erweiterung von Miranda Frickers Konzeption als „epistemische Ungerechtigkeit“ [3] bezeichnet werden kann. Verlangt wird zum einen die gerechte Berücksichtigung der gesellschaftlichen Wissensbedarfe über gesellschaftliche Sektoren und soziale Gruppen hinweg, zum anderen eine gerechte Teilhabe an der Wissenschaft und an den Entscheidungsprozessen über die Ausrichtung des Wissenschaftssystems.
Ersichtlich ist, dass Forschung unweigerlich in ethische Reflexionen verstrickt ist und normativen Ansprüchen genügen muss. Zugleich wirken diese über die vielfältigen gesellschaftlichen Verflechtungen auch in die Gesellschaft hinein und stellen Ansprüche an sie.
Bildung reflektierter Expertinnen und Experten
Wissenschaftliche Bildung hat zwei Grundaufgaben: die Befähigung erstens zur Wissenschaft und zweitens zur Nutzung der Wissenschaft in gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Die Erträge der Wissenschaft kommen der Gesellschaft nur in Form von Wissen zu, das in das Handeln von Personen eingeht. Erst wissenschaftliche Bildung macht es gesellschaftlich wirksam.
Befähigung zur Wissenschaft bedeutet die Hinführung zur Methodologie und zum wissenschaftlichen Stand einer spezifischen Disziplin. In diesem Prozess können aber auch allgemeiner der kritisch-reflektierte Umgang mit Wahrheitsansprüchen erlernt sowie diejenigen ethischen Haltungen und sozialen Kompetenzen entwickelt werden, die der normativen Struktur der Wissenschaft entsprechen. Dazu gehören insbesondere die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich im Raum der Gründe zu bewegen, strittige Geltungsansprüche argumentativ zu klären und andere Personen im Diskurs als gleichberechtigt anzuerkennen.
Die Nutzung wissenschaftlichen Wissens in gesellschaftlichen Handlungsfeldern trifft auf eine Lebenswelt mit ihrem Dickicht von Geltungsansprüchen und Wertungen. Gefordert ist zweifellos Fachlichkeit, aber mindestens ebenso sehr ein realitätsgerechtes Verständnis der Stellung und Reichweite der Wissenschaft in sozialen Handlungskontexten. Unverzichtbar ist die Befähigung zum Umgang mit den Grenzen wissenschaftlichen Wissens und damit zum Umgang mit Werten, ästhetischen Ansprüchen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, politischen und ökonomischen Logiken.
Wissenschaftliche Bildung muss Fachlichkeit ausbilden, besteht aber – eine Formulierung von Tenorth aufgreifend – weitergehend in der „Transzendierung der Fachlichkeit“[4]. Damit erst wird reflektierte Expertise möglich, die der gesellschaftlichen und politischen Relevanz der Wissenschaft gerecht wird, zugleich ihre Grenzen kennt und um die Bedeutung anderer Geltungsansprüche weiß. Welche Universität brauchen wir also?
Eine souveräne und gesellschaftsoffene Universität
Universitäten, die nicht nur gültiges, sondern auch relevantes Wissen erarbeiten, die nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern reflektierte Expertinnen und Experten ausbilden sollen, müssen ihre Grenze zur Gesellschaft weit offenhalten. Dann können sich beide irritieren und anregen: Die Wissenschaften können die Vernünftigkeit eingelebter sozialer Praktiken hinterfragen, gesellschaftliche Akteure und politische Öffentlichkeiten die Relevanz und Ausrichtung von Forschung und Bildung kritisch thematisieren. Beide bleiben dabei souverän; Universitäten müssen die Standards wissenschaftlicher Arbeit in eigener Regie behalten.
Eine diskursive und demokratische Universität
Universitäten benötigen eine ausgeprägte Offenheit der inneren Kommunikation, in der sowohl externe Erwartungen verarbeitet als auch interne Prozesse und Strukturen thematisiert und reflektiert werden. Einer wissenschaftlichen Einrichtung angemessen ist es, Prozesse, Strukturen und Strategien in einem von Argumenten bestimmten Diskurs zu klären, der die Beteiligung aller ihrer Mitglieder ermöglicht und demokratische Strukturen erfordert.
Eine diverse Universität
Die Universität muss die Breite der Gesellschaft ausreichend widerspiegeln. Sowohl die Gültigkeit und als auch die Relevanz von Forschungserträgen hängen davon ab. Auch für die Bildung reflektierter Expertinnen und Experten ist ein Verständnis der verschiedenen gesellschaftlichen Milieus und Handlungsfelder erforderlich, zu dem Lehrende und Studierende beitragen können. Der intensive Diversitätsdiskurs an Universitäten ist notwendig und im Hinblick auf die soziale Herkunft als unterbelichtetem und zugleich folgenreichstem Diskriminierungsfaktor zu vertiefen.[5]
Welche Gesellschaft braucht die Universität?
Die Universität ihrerseits braucht dazu eine Gesellschaft, die an ihrer Universität interessiert ist, ihre Unabhängigkeit sichert, Wissenschaftsfreiheit achtet und zugleich ihre Erwartungen und ihren Wissensbedarf an die Universität adressiert, Einseitigkeiten benennt und Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen artikuliert. Kurz: eine Gesellschaft, die mit der Wissenschaft kommuniziert und sie nicht primär durch Macht und Geld zu steuern sucht.
Dementsprechend scheint dieser Appell passender: „Diskutiert mit der Wissenschaft! Sie braucht euch, ihr braucht sie.“ Ohne bürgerschaftliche Klärungen, wo es hingehen soll, bleibt das Potenzial der Wissenschaft ziellos. Ohne wissenschaftliche Klärungen, was passiert, wenn nichts passiert, welche Ziele erreichbar und welche Wege gangbar sind, fehlt der gesellschaftlichen Debatte ein wichtiges Rationalitätselement. Nur in der Verbindung kann ein Handeln entstehen, das es verdient, vernünftig genannt zu werden.
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[1] Vgl. Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Ditzingen: Reclam 2021.
[2] Vgl. als Überblick Mona Singer, Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie, in: R. Becker, B. Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 285–294.
[3] Vgl. Miranda Fricker, Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, München: Beck 2023 (engl. Original 2007).
[4] Heinz-Elmar Tenorth, Was heißt Bildung in der Universität? Oder: Transzendierung der Fachlichkeit als Aufgabe universitärer Studien, in: Die Hochschule 1/2010, S. 119–134.
[5] Vgl. Jürgen Gerhards, Tim Sawert, „Deconstructing Diversity“. Soziale Herkunft als die vergessene Seite des Diversitätsdiskurses, in: Leviathan 46 (4/2018), S. 527-550.
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