Mehr als 100 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht. Als 16 Jähriger ist Tariq Khan Shinwari allein aus Afghanistan geflohen. Seine Schilderungen lassen gerade nach den Weihnachtsfeiertagen angesichts der Verschärfung der EU-Asylpolitik und politischer Äußerungen zu einem angeblichen Sozialtourismus mit einem unerträglich fahlen Nachgeschmack und tief beschämt zurück.
Inmitten einer schneereichen Winternacht mit Minusgraden stand ich vor tausend Meter hohen Bergen im Iran. Diese mussten wir überwinden, um das nächste Land auf unserem abenteuerlichen „Reiseweg“ zu erreichen. Was sich in dieser Nacht zutrug, vermag ich bis heute nicht zu vergessen.
Es war früh morgens, wir schliefen zu mehreren in einem engen Zimmer, bis wir geweckt wurden. Die Hähne krähten, die Menschen standen auf, um ihr Morgengebet zu verrichten. Wir jedoch wurden durch den Menschenschleuser aus dem Schlaf gerissen, weil an dem Tag ein „Game“ geplant war, ohne dass wir davon in Kenntnis gesetzt worden waren. „Game“ ist im Schleuserjargon die Bezeichnung für Grenzübertrittsversuche auf nicht dafür vorgesehenen Wegen. Nachdem wir aufgestanden waren, zogen wir uns schnell um, packten unsere Sachen ein und verließen das muffige Zimmer. Zum Frühstücken war keine Zeit. Draußen wartete ein alter Toyota-Transporter auf uns, welcher bereits weit über die ordnungsgemäße Kapazität hinaus mit anderen Flüchtlingen besetzt war. Wir wurden in diesen Transporter hineingepfercht und die Fahrt begann. Ich saß auf dem Boden des Wagens mit gesenktem Kopf, ohne dass ich mich nach links oder rechts bewegen konnte.
Brutale Gefahren: Iranische Berge, Polizei, Mafia.
Wir fuhren mehrere Stunden, meine Beine waren bald eingeschlafen, mein Nacken tat mangels Bewegungsfreiheit fürchterlich weh und die Luft in diesem Wagen war zum Ersticken. Wir fuhren in diesem quälerischen Zustand stundenlang und dann hielt der Wagen ex abrupto an. Ich nahm an, dass die ganze Qual zu Ende war, wir mussten jedoch in buchstäblich schockierender Weise feststellen, dass wir von der iranischen Polizei erwischt worden waren. Wird man von der iranischen Polizei erwischt, dann wird man erst mal krankenhausreif geprügelt, bis auf die Unterwäsche ausgeraubt und anschließend abgeschoben. Dieses Szenario realisierte sich zum Glück nicht bei uns; die Polizei ließ uns weiterfahren; sie war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestochen. Wir fuhren nach diesem Vorfall noch einige Stunden.
Am Ende der Fahrt stiegen wir aus dem Transporter und da waren diese hohen, mit Schnee bedeckten, anmutigen und zugleich angsteinflößenden Berge. Wir mussten diese Berge überwinden, um in die Türkei zu gelangen. Nach einer kurzen Pause begannen wir tief inmitten jener dunklen, eiskalten Winternacht, diese Berge zu besteigen. Wir liefen stundenlang; wir mussten bei jedem Fußtritt höchste Sorgfalt anwenden, weil ein kleiner Fehler uns das Leben hätte kosten können, indem wir in die Tiefe hätten stürzen können. Nach einiger Zeit verließen mich meine Kräfte. Ich hatte an dem Tag aus Aufregung nichts gegessen. Ich ging in die Knie und konnte mich nicht mehr fortbewegen. Ich verharrte einige Zeit in dieser Position, die anderen gingen aber weiter. Als sich die anderen Fluchtgenossen so weit von mir entfernt hatten, dass sie sich meiner Sicht entzogen, überkam mich die Angst, von der iranischen „Mafia“ entführt zu werden, die Flüchtlingen an den Grenzregionen auflauern, um sie zu entführen.
Die iranische „Mafia“ entführt Flüchtlinge, vor allem junge Menschen, um ihre Familien zu erpressen. Mir war unterwegs eine Geschichte erzählt worden, dass ein junger Mann von der iranischen „Mafia“ gekidnappt worden war. Dem Jungen wurden die Finger abgehackt, nachdem seine Eltern auf die erste Mahnung hin das geforderte Geld nicht bezahlt hatten. Schließlich wurde der Junge ermordet. Die Angst vor diesem Schicksal ließ mich Karft und Mut fassen, weiter aufzusteigen. Ich rannte der inzwischen weit entfernten Gruppe hinterher und konnte sie einholen. Nach weiteren kräftezehrenden Stunden kamen wir endlich zum Stillstand, setzten uns hin und verschanzten uns hinter riesigen Felsen. Wir waren nur noch einige hundert Meter entfernt von der türkischen Grenze. Doch so nah uns die Grenze auf den ersten Blick erschien, so wurden es doch die längsten hundert Meter meines Lebens: an der Grenze lag nämlich eine Polizeiwache. Es herrschte Panik, weil unsere ganze Mühe umsonst gewesen zu sein schien.
Die richtige Gelegenheit für Grenzüberschreitungen.
Der Schleuser sagte zu uns, „wir warten auf die richtige Gelegenheit und legen dann los“, aber fraglich war, wann diese richtige Gelegenheit kommt. Wir warteten mehrere Stunden, aber es ergab sich immer noch nicht diese richtige Gelegenheit. Das Warten wurde mit jeder Sekunde unerträglicher, denn wir waren mangels unzureichender Versorgung gänzlich ermattet, hatten kein Wasser mehr zum Trinken und aßen zum Stillen des Durstes Schnee. Der Boden unter uns war schneenass und vom Himmel über uns fiel Schnee herab; die Kälte suchte uns mit ihrer zerstörerischen Wirkung heim. Einige meiner Leidensgenossen begannen zusammenzubrechen. Als wir nicht mehr imstande waren, die Situation zu ertragen, sagte uns der Schleuser, jetzt sei die richtige Gelegenheit gekommen.
Wir sind auf sein Geheiß sofort aufgestanden und rannten in Richtung Grenze. Als wir uns bis auf wenige Meter der Grenze genähert hatten, wurden die Grenzsoldaten auf uns aufmerksam. Sie gaben unverzüglich Warnschüsse ab, aber wir rannten in einem affektähnlichen Zustand weiter. Da wir uns von Warnschüssen nicht beirren ließen, begannen sie gezielt auf uns zu schießen. Eine Kugel traf einen Jungen, der neben mir rannte, er fiel sofort auf den Boden. Wir konnten ihm aber nicht helfen. Wir sind weitergerannt. Ob er noch lebt? Der Schuss hätte genauso mich treffen können.
In dieser Nacht gelang es uns, türkischen Boden zu erreichen. Wir kamen in der Stadt Van an und wurden dem für die Durchquerung der Türkei zuständigen Schleuser überantwortet. Wir wurden für einige wenige Stunden in einem kleinen Haus untergebracht und bekamen eine nicht genießbare Suppe zum Essen. Daher gab jeder von uns dem Schleuser etwas Geld und wir beauftragten ihn, Grillhähnchen zu kaufen. Noch nie schmeckte mir ein Grillhähnchen so wie in jenem Lebensmoment. Nachdem wir das Grillhähnchen verzehrt hatten, wurde uns mitgeteilt, dass ein Game nach Istanbul geplant sei und draußen ein Bus auf uns warte.
Wir machten uns fertig und begaben uns in den Bus. Von Van nach Istanbul sind es etwa 1.500 km. Wir fuhren in diesem Bus mehrere Stunden; ich konnte während der Fahrt vor Aufregung kein Auge zumachen, obschon ich seit Anbeginn des Games vom Iran in die Türkei nicht mehr geschlafen hatte. Kurz bevor wir Istanbul erreichten, wurden wir von der türkischen Polizei erwischt. Der Bus hielt an und die Polizisten stiegen in den Bus und kontrollierten ihn; sie erkannten natürlich sofort, dass die Passagiere Flüchtlinge waren. Alle dachten, dass wir zurück in die Heimatländer abgeschoben würden, was die Türkei in der Regel tut. Uns ließen die Polizisten jedoch aus mir nicht erklärlichen Gründen weiterfahren. Wir kamen endlich in Istanbul an und wurden im Keller eines Hauses untergebracht, in dem bereits einige andere Flüchtlinge einquartiert waren. Wir bekamen etwas zum Essen und einen Tee zum Trinken. Interessiert gesellten sich einige Bewohner zu mir und fragten mich, woher ich komme und wie unsere „Reise“ verlaufen war. Ich erwiderte, „es hätte schlimmer laufen können“.
Geschützte Außengrenzen: Stacheldraht, Soldaten, Hunde.
Im Laufe des Gesprächs zeigt einer von ihnen, ein Mann Mitte vierzig, sein rechtes Bein, das voller großer Wunden war. Der Anblick dieses Beins war buchstäblich grauenvoll. Ich fragte ihn, was diese entsetzlichen Wunden verursacht hatte. Er antwortete, „ich habe mehrere Male versucht, die bulgarische Grenze zu überschreiten und nach Bulgarien zu kommen, beim letzten Mal aber wurden wir von den bulgarischen Grenzsoldaten erwischt, die haben einen Diensthund auf mich gehetzt“. Der Mann riet mir mit eindringlichen Worten davon ab, es nach Bulgarien zu versuchen, weil es unmöglich sei. Ich habe das alles gesehen und gehört und empfand tiefes Mitleid. Sein wohlwollender Ratschlag hielt mich aber von meinem Vorhaben nicht ab, denn ich sagte mir tief in meinem Inneren, so zynisch es auch klingen mag: Es wird schon nicht schlimmer als das sein, was ich bisher erlebt habe. Wir blieben dann mehr als eine Woche in diesem Keller, ehe das erste vieler fehlgeschlagener Games nach Bulgarien stattfand.
Wir wurden von einem Transporter abgeholt, in den wir wie im Iran wie Tiere eingepfercht wurden. Wir fuhren bis in die Nähe der bulgarischen Grenze und wurden dort herausgelassen, um über die bulgarische Grenze zu gehen. Da die bulgarische Grenze umfassend von Grenzsoldaten bewacht wird, ist dies kein leichtes Unterfangen. Vielmehr mussten wir solange warten, bis die Soldaten einen Abschnitt der Grenze kurzfristig verließen. Nur dann konnten wir in Richtung der bulgarischen Grenze losmarschieren. Wir warteten viele Stunden, es fing an, dunkel zu werden, und wir warteten auf dem nassen Waldboden sitzend in einer eiskalten Nacht. Dann wurde uns gesagt, dass die Soldaten noch immer auf ihren Wachposten seien und wir daher nach Istanbul zurückfahren. Wir fuhren zurück in den Keller. Nach einigen Tagen unternahmen wir das nächste Game, das genauso endete wie das erste.
Wir versuchten es nochmal, aber diesmal blieben wir nicht untätig sitzen, sondern liefen auf gut Glück auf die bulgarische Grenze zu. Wie befürchtet wurden wir von den bulgarischen Grenzsoldaten entdeckt, diese gaben Warnschüsse ab, nahmen uns fest und schoben uns in die Türkei ab. Und wieder waren wir in diesem Keller. Der von dem Hund gebissene Herr, der noch immer dort hauste, sagte zu mir, „habe ich dir nicht gesagt, dass es unmöglich ist?“ Ich war so verzweifelt, dass ich ihm Recht zu geben geneigt war.
Game
Nach einigen Tagen war ein neues Game geplant. Der Schleuser beteuerte diesmal, dass dies ein sicheres Game sei, weil die Grenzsoldaten geschmiert worden seien. Viele schenkten ihm aber keinen Glauben und weigerten sich, an dem Game teilzunehmen. Da ich keine bessere Alternative wusste, sagte ich zu. Diesmal fand das Game am helllichten Tag statt und es waren auch einige Familien mit kleinen Kindern dabei. Es brach mir das Herz zu sehen, wie die kleinen Kinder unter unerträglichen Bedingungen jenem lebensgefährlichen Unterfangen ausgesetzt wurden. Ich nahm mich einer Familie an und erbot mich, ihre kleinen Kinder, soweit es ging, zu tragen. Nach langer Wanderung kamen wir in der Nähe der Grenze an; wir sollten auf den Befehl warten, auf die bulgarische Grenze zuzusteuern. Dort sollte dann ein LKW stehen, der uns weiterbringen sollte. Plötzlich kam der Befehl „Los!“. Ich rannte in Richtung der Grenze und erreichte den Transporter; dieses Glück hatten neben mir nur einige wenige andere. Der Rest wurde von den Grenzsoldaten geschnappt.
Es war kein normaler Transporter. Der Besitzer hatte den LKW so umgebaut, dass unter der eigentlichen Ladefläche eine niedrige zweite Ladefläche existierte. Diese war so niedrig, dass man nur liegen konnte. Zudem war sie nicht mit Fenstern ausgestattet. Damit man gerade noch so viel Sauerstoff bekam, um nicht zu ersticken, hatte er Löcher in die Seiten gebohrt. Wir fuhren um die zwei Stunden; es war eine fürchterliche Fahrt, wir waren nah dran zu ersticken.
Von Bulgarien ging es dann ohne große Probleme nach Serbien weiter. Dort angekommen waren wir nur noch einige hundert Meter von der Europäischen Union entfernt. Der Weg nach Ungarn war allerdings sehr schwer zu bewältigen, denn die ungarische Grenze ist durchgängig mit Zäunen aus Stacheldraht geschützt. Zudem wird sie umfassend durch Grenzsoldaten bewacht. An der Grenze zog der Schleuser eine große Schere heraus und begann den Stacheldraht zu zerschneiden. Just in diesem Moment sahen uns die Grenzsoldaten und fuhren von ihrem Wachposten in unsere Richtung. Der Schleuser bekam Panik und floh, ohne den Zaun so zu zerteilen, dass man gefahrlos durch ihn hindurchgehen konnte. Mit dem Schleuser zusammen flohen die meisten anderen Flüchtlinge auch zurück nach Serbien. Ich aber versuchte, irgendwie durchzukommen und schaffte es auch. Nur wenigen anderen gelang dies neben mir.
Auf der anderen Seite des Zauns rannte ich vor den auf mich zukommenden ungarischen Militärwagen weg. Ich verirrte mich in einem Wald und die Soldaten verloren mich aus den Augen. Ich rannte, rannte und rannte durch diesen dunklen Wald und landete in einem Dorf. Mein Gesicht war durch den Stacheldraht verletzt und blutverschmiert und meine Kleider waren zerrissen. Kurze Zeit später wurde ich von der ungarischen Polizei festgenommen und auf eine Wache gebracht. Von Ungarn ging die Reise dann weiter über Österreich nach Deutschland. In Deutschland wurde ich in einem Jugendflüchtlingsheim untergebracht und begann sofort, mir die deutsche Sprache anzueignen. Mein Traum war zu studieren. Dafür musste man, wie mir gesagt wurde, zuvörderst das Abitur absolvieren.
Integration durch Sprache
Ich aber wurde zu einem Deutschkurs geschickt, in dem uns in einem Monat so viel beigebracht wurde, wie ich an einem Tag alleine auf Youtube lernen konnte. Daraufhin weigerte ich mich, den Deutschkurs zu besuchen, und pochte darauf, ein Gymnasium besuchen zu können. Eine Betreuerin lehnte mein Ansinnen jedoch ab und sagte zu mir, dass nicht mal viele Deutsche das Abitur schaffen würden. Ich verweigerte trotzdem den Deutschkurs und lernte die deutsche Sprache allein. Eines Tages, als ich im Hauptsalon des Heims bei einem Kaffee saß, kam eine Frau auf mich zu. Sie war Deutschlehrerin und gab Geflüchteten ehrenamtlich Deutschunterricht. Da an diesem Tag kein anderer zugegen war, setzte ich mich mit ihr an einen Tisch und sie brachte mir Deutsch bei. Sie versuchte, mir die Logik der deutschen Artikel „der, die und das“ verständlich zu machen. Mir erschloss sich nicht, warum der Mond „männlich“, aber die Sonne „weiblich“ ist oder weshalb Gegenstände in der deutschen Sprache überhaupt ein „Geschlecht“ haben.
Im Lauf unserer Unterhaltung stellte sie fest, dass ich Abitur machen wollte. Da sie selbst an einem Gymnasium in Potsdam Deutsch unterrichtete, setzte sie sich mit dem Schulleiter ins Benehmen und die Schule nahm mich auf. Bald nervte ich sie nicht mehr mit der schwer nachzuvollziehenden Ratio der deutschen Artikel, sondern wir analysierten nunmehr „Kabale und Liebe“ oder das „Heideröslein“. Nach einigen Schuljahren absolvierte ich das Abitur mit einer adäquaten Note.
Heute, sieben Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland und nach 5.000 zurückgelegten Kilometern, bereite ich mich auf mein Staatsexamen in Rechtswissenschaften vor, welches demnächst stattfindet. Vor sieben Jahren, als ich in meinem sechzehnten Lebensjahr in den Gebirgen und Wäldern bei Minusgraden um mein Leben kämpfend unterwegs war, hätte ich mir das nicht vorstellen können. All dies zeigte mir, dass das Leben ein Kampf ist. Diesen gewinnt man nur, denke ich, wenn man nicht aufgibt.
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Bild: https://pixabay.com/de/photos/stacheldraht-kabel-winter-zaun-265674/