Der Roman von Simone Buchholz besticht nicht nur durch eine einzigartige Erzählweise, sondern auch durch theologisch relevante Motive. Eva-Maria Spiegelhalter
Simone Buchholz, die eigentlich als Krimiautorin bekannt ist, verlässt mit dem Roman „Unsterblich sind nur die anderen“ dieses Genre zugunsten von – ja, das ist schwer zu beschreiben. Zu Beginn liest sich das Buch wie ein üblicher Kriminalroman: Zwei Frauen, Iva und Malin, machen sich auf die Suche nach drei verschwundenen Männern. Doch schon schnell verändert sich der Erzählstil. Bereits das Hotel, in dem die beiden Frauen zu Beginn ihrer Suche übernachten, hat magische Elemente. Dass es nicht um einen Kriminalroman geht, wird spätestens dann klar, als die beiden das Schiff betreten, auf dem sie die verschwundenen Personen vermuten.
„An Deck war die Welt komplett blau. Das Blau des Meeres, da zogen ein paar Schlepper ihre Bahnen. Das Blau des Himmels, da machten die Wolken ein Riesendrama. Und dann dieser blaue Kunststoff, mit dem das Zwischendeck und wahrscheinlich alle anderen Decks überzogen waren, der strahlte, als hätte die Nordsee ein Fass Sonne getrunken.“ (S. 27) Auch die Besatzung und die übrigen Gäste scheinen einer anderen Sphäre anzugehören. „Die Haare der Frau waren auf überirdische Art blond, fast weiß und sie schimmerten, als hätte sie in Perlen gebadet. Ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Tänzerin.“ (S. 34)
Ein Schiff als Ort der Unsterblichkeit.
Das Schiff steht im Zentrum des Romans und wird zum Ort der Erzählung. Die Akteur*innen und das Schiff verschmelzen mehr und mehr. Selbst Iva, die zu Beginn der Reise dem Aufenthalt auf dem Schiff skeptisch gegenübersteht, lässt sich von der Atmosphäre des Schiffes einfangen. „Sie hatte das Gefühl, die Seele des Schiffes zu spüren. Die Arbeit, das Stampfen und das Grollen aus dem Maschinenraum, die Kraft, und auch die Wut, die zwangsläufig entstehen muss, wenn der Kiel das kalte Wasser da draußen verdrängt. Vielleicht, dachte sie für einen Augenblick, war es doch gar nicht so verkehrt, hier zu sein.“ (S. 34) Im Schwanken zwischen Lyrikteilen und Prosaerzählung, im Wechsel zwischen den Zeitepochen kommt der/die Leser*in selbst in den Wellengang, der das Schiff von einer auf die andere Seite wirft. Fantastische und reale Szene wechseln sich ab.
Solidarität, Schuld und Verantwortung
Eingeflochten sind Fragen nach Sterblichkeit und Endlichkeit, nach Solidarität angesichts lebensbedrohlicher Situationen und nach der Frage, wie das Leben auszuhalten ist. Dass das Leben Menschen in manchen Situationen Übermenschliches abfordert, wird in Rückblenden erzählt. Eine Mutter weigert sich angesichts des Untergangs der Titanic, ohne ihren fünfzehnjährigen Sohn das Rettungsboot zu betreten – und nimmt damit ihren eigenen Tod in Kauf. Diese eingeblendete Szene steht exemplarisch für Situationen des menschlichen Lebens, die in ihrer Überforderung und Abgründigkeit kaum zu übertreffen sind.
Und auch die Geschichte des Schiffs ist bestimmt durch eine ausweglose Situation: Während des Zweiten Weltkrieges kreuzte es, beladen mit Menschen, die vor dem Grauen des Faschismus fliehen, durch den Atlantik. Kein Land gewährt den Fliehenden Asyl und so bleibt den Passagieren nur eine Lösung: sie entschließen sich für den Suizid. Historisches und gegenwärtiges menschliches Leid verknüpft sich in dieser Situation, da man diese Stelle kaum lesen kann, ohne an die aktuelle Problematik der Seenotrettung im Mittelmeer zu denken. Der Roman ist durchzogen von der Frage, wie und ob das Leben auszuhalten ist und wer Verantwortung oder Schuld trägt.
Leben in der Unsterblichkeit: Vergessen, Glück und perfekte Körperlichkeit.
Sehr spannend aus theologischer Perspektive ist die Lebenswirklichkeit der Unsterblichkeit, die das Leben auf dem Schiff bestimmt und die sich durch Vergessen, Glück und ideale Körperlichkeit auszeichnet. Je länger sich die Menschen auf dem Schiff aufhalten, umso mehr geraten sie in den Prozess des Vergessens. Es ist wie ein Sog, dem die Passagiere des Schiffs nicht widerstehen können.
„Als es dämmert, fiel die rosa Sonne ins Wasser, Iva fragte sich, ja, was eigentlich, irgendwas hatte sie vergessen, irgendwas war doch wichtig gewesen, und der Weg zu ihrer Kabine war von Möwenrufen erfüllt.“ (S.55) Die Passagiere empfinden den Prozess des Vergessens als ungemein angenehm. „‚Ich stell mir das schön vor‘, sagte Malin, ‚so ohne jeden Druck leben zu dürfen. Und dass die Erinnerungen verschwinden.‘“ (S. 113) Die Hoffnung, alle persönlichen Leiderfahrungen zu vergessen, bringt die Menschen dazu, ihrem bisherigen Leben den Rücken zuzukehren und für immer auf dem Schiff zu bleiben. „Die Bilder aus den Kriegen, von denen er berichtet hatte, die Katastrophen im Kopf, die Bomben, die Einschläge, die Verletzten, die Toten, das Feuer, die Brände, die Stürme, die Fluten, das ganze verdammte Leid, das alles zu vergessen, vielleicht sogar für immer, war ein Versprechen.“ (S. 112)
Mit dem Vergessen kommt das Glück. „Es ist leicht hier glücklich zu sein“, verspricht der Kapitän Iva, die sich nicht so schnell auf die Wirklichkeit des Schiffes einlassen kann (S. 139). Und bald findet auch Iva auf dem Schiff „Ruhe und Wahnsinn in einem Herzschlag“ (S. 173). Der Grund des Glückes liegt in einer veränderten Körperlichkeit, die in ekstatischen Glücksmomenten ihren Höhepunkt findet. „Die drei Frauen zogen sich aus und wieder an, und die Kleider saßen auf ihren Körpern, als wären sie ihnen gerade gewachsen.“ (S. ??) Aus der körperlichen Transformation erfolgt eine übermenschliche Schönheit, die alle Menschen auf dem Schiff ausmacht. „Sie war brutal schön, wie eine Mischung aus Schwan und Braut. Iva trug das blaue, knöchellange Kleid, es fühlte sich an, als wäre es flüssig, und wahrscheinlich sah es auch so aus.“ (S. 214f.)
Doch nicht nur körperlich vollzieht sich eine Verwandlung. Auch mental verändert der Aufenthalt auf dem Schiff. Die Passagiere werden „eine bessere, in einer heimlichen Werkstatt reparierte Version ihrer selbst“ (S. 80). Die eschatologischen Begriffe von Heilwerden, Wandlung und Vollendung klingen hier an. Alles passiert, wenn sich die Menschen dafür entscheiden, das Schiff nicht mehr zu verlassen und ihr früheres Leben aufzugeben. Der Preis für das Glück liegt jedoch im Vergessen der eigenen Geschichte.
Rückkehr ins Leben
„Unsterblich sind nur die anderen“ – der Titel scheint die Einsicht der Protagonist*innen des Romans zu sein. Denn zwei Personen kommen im Laufe des Romans zu dem Entschluss, das Schiff verlassen zu wollen. Dies ist jedoch nicht so einfach, denn mit dem Eintritt in die fantastische Welt des Schiffes ist der Rückweg ins frühere Leben eigentlich unmöglich. Nur durch die Initiative der gesamten Schiffsbesatzung gelingt die Rückkehr in ein Leben, geprägt von Erinnerung, Begrenztheit und Tod. So ist der Roman am Ende eine klare und starke Entscheidung für das Leben mit all seinen Herausforderungen, Abgründen und Schönheiten. Er zeigt aber auch auf, was Menschen im Laufe des Lebens zugemutet wird und, dass es zuweilen mehr ist, als Menschen aushalten können.
Theologisch bedeutsam ist die Bejahung des Lebens, die sich in den Zeilen niederschlägt und der Kampf und die Krise der verschiedenen Personen angesichts der individuellen bzw. kollektiven Leiderfahrung. An mehreren Stellen des Romans lassen sich Querverbindungen zur theodizee-empfindlichen Theologie von Johann Baptist Metz schlagen. Der Roman nimmt im Sinne von Metz die Leidensgeschichte der Menschen wahr und er nimmt sie ernst. Das Leiden der einzelnen Menschen an den Wendungen und Schicksalsschlägen des Lebens kommt ungeschönt zur Sprache und wird gleichzeitig literarisch faszinierend im Roman aufgegriffen.
Gottesrede als Schrei nach Rettung der Anderen.
Auf dem Schiff sammeln sich Menschen aus unterschiedlichen Epochen, die mit ihren Leidensgeschichten aus guten Gründen nicht zurechtkommen. Weil sie sich nicht abfinden wollen, mit dem, was das Leben ihnen abverlangt. Denn das individuell erfahrene Leid übersteigt die Kraft eines einzelnen Menschen und die Rettung in eine andere Welt – im Roman in die Welt des Schiffes – erscheint als einzige Lösung. So lässt sich das Motiv der Theologie von Metz, die „Gottesrede als Schrei nach der Rettung der Anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte“ (Metz S. 103) zu verstehen, immer wieder im Roman finden.
Die Frage nach Gott stellt „Unsterblich sind nur die anderen“ nur an einer Stelle: An einem Tag im Jahr findet die Logik des Schiffes ihren Höhepunkt und wird zugleich außer Kraft gesetzt. „Das passiert jedes Jahr. Vielleicht sind sie es, vielleicht ist es das Schiff selbst, vielleicht gibt es noch einen anderen Gott, von dem wir gar nichts wissen.“ (S. 222) Einmal jährlich scheint die Möglichkeit auf, die ausweglosen Situationen zum Positiven zu verwandeln. Als Grund dieser Situation wird auch die Möglichkeit eines anderen Gottes angenommen, der eine Wandlung der ausweglosen Situationen bewirken könnte.
Beeindruckend ist der Ausgang des Romans: Allein die Beziehung zwischen den Romanfiguren und die Liebe zum Leben in seiner ganzen Abgründigkeit führt am Ende dazu, dass die Welt des Schiffes, die ohne Leid, ohne Erinnerung und ohne körperliche Vergänglichkeit ist, wieder zu verlassen. Ein Ende, das sowohl mit oder ohne den Glauben an einen menschenzugewandten Gott der unbedingten Liebe Gott beindruckt.
Literatur:
Simone Buchholz, Unsterblich sind nur die anderen, Berlin 2022.
Johann Baptist Metz, Theologie als Theodizee, in: Oelmüller, Willi (Hg.): Theodizee – Gott vor Gericht? München 1990,103-118.
Eva-Maria Spiegelhalter, Dr. theol., Akademische Rätin für Katholische Theologie/Religionspädagogik an der PH Freiburg/Br.