Die Kunstbiennale von Venedig ist zu Ende. Viera Pirker (Wien) blickt mit theologischem Interesse auf die Ausstellung und kommentiert zentrale Werke.
Ende November hat die 57. Kunstbiennale von Venedig ihre Pforten geschlossen. Sie gilt nach wie vor als einer der zentralen Umschlagplätze zeitgenössischer Kunst, trotz und wegen ihrer hohen Tradition und der immer neu attraktiven Umgebung.
VIVA ARTE VIVA war 2017 das Motto der Kuratorin Christine Macel vom Pariser Centre Pompidou, sie hat Kunst um der Kunst willen zum Thema der Hauptausstellung gemacht und Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus allen Kontinenten dazu eingeladen. Hinzu kamen schier unzählige Länder-Beiträge und „Eventi Collaterali“. „I will travel for art“, hieß die Devise.
Die hier ausgewählten künstlerischen Wege: Performance, Produktionswerkstatt, Soundinstallation, Videoinstallation verzahnten sich dabei mit verschiedenen theologischen Dimensionen: Anthropologie, imago dei, Raumerfahrung und Traditionsbefragung.
Goldener Löwe für Faust von Anne Imhof
Den Coup hat in diesem Jahr die Frankfurterin Anne Imhof gelandet. Für den deutschen Pavillon und ihre aufsehenerregende Performance Faust erhielt sie den goldenen Löwen! Gezielte architektonische Eingriffe machten den Bau aus der NS-Zeit so sichtbar wie selten. Hinter vorgelagerten Stahlzäunen lauerten und spielten zwei junge Dobermänner. Der seitliche Eingang führte das Publikum über eine Treppe auf den um 90 cm nach oben verlegten Glasboden. Die Performenden bewegten sich mittendrin, darüber, darunter. So war es schwer, diese Arbeit als Ganze wahrzunehmen. Sie fand in der viereinhalbstündigen Langform nur an wenigen Tagen zwischen Mai und November statt, nur 100 Besucher wurden jeweils eingelassen. Man musste sich trotzdem seine Position im Raum erkämpfen und wurde so gleich zum Teil des Stücks: Menschen in ihrer unnahbaren Selbstbezogenheit und in der Abhängigkeit vom anderen, Menschen als Voyeure, Kameras und Handys, mit denen kontinuierlich die Social-Media-Streams befüllt wurden.
Der gesellschaftlich längst nicht verhandelte Status von Individuum und Gemeinschaft wurde neu verhandelt.
Die Performer waren überall und nirgends zugleich, oben an den Wänden auf gläsernen Plattformen, unter dem Glasboden, in den Seitenräumen, draußen hinter dem Zaun. Sie lagen, liefen, tanzten, kämpften, verkeilten sich ineinander. All das in konsequenter Langsamkeit und Wucht. Sie zeigten wenig Rücksicht und viel Zärtlichkeit, wurden begleitet von einer Musik eigener Dramatik, in starken Gesangspartien, im Zueinander und im wortlosen Suchen. Konsistente Narrative scheitern hier, und doch bauen sich in Wellen Eindrücke verschiedener Intensitätsstufen auf. Die Gruppe war aufeinander geworfen, füreinander verantwortlich, und einander in gewaltsamen und zugleich sanften Interaktionen zugewandt, in einem psychisch und physisch gleichermaßen harten Einsatz, in den auch Watte, Feuer, Ketten, Ladekabel, Seife, Steinschleudern, Musikinstrumente eine Rolle spielten. Die leeren, nicht zielgerichteten Blicke und Mienen der Performenden sind schwer aus dem Gedächtnis zu löschen. Anne Imhof, mitten im Publikum, schickte Botschaften auf die omnipräsenten Smartphones der Performenden. Ein Blick auf ihre Displays und eine Wende kam in das polyvalente Geschehen.
Hier kam kein erprobtes Theaterstück zur Aufführung, sondern die Performance entstand je neu in situativen Verbindungen. Kommunikation und Vernetzung, Einsamkeit und Eigenständigkeit, Überleben und einander Unterstützen. Der gesellschaftlich längst nicht verhandelte Status von Individuum und Gemeinschaft wurde neu verhandelt. Ein Bild unseres „Heute“? Ein Bild vom Menschen in seiner dystopischen Zukunft?
Imitatio Christi, als Weg der Selbstentäußerung. Die Stille, Einsamkeit und Ausgesetztheit der miserablen Figuren, in Wärme- und Kältekammern liegend und schließlich in irren Verkrümmungen endend, verfolgte die Besucher.
Im italienischen Pavillon im Arsenale, dem zweiten Standort der Biennale, hat Roberto Cuoghi mit seiner diesjährigen Arbeit Imitazione di Cristo eine gewaltige morbide Produktionsstätte aufgebaut. Fünf Medaillons mit dem Volto Santo eröffnen den dunklen, drückend warmen Raum. Der Mailänder Künstler, wollte „certain traditions of Italian art“ aufgreifen – es ist ihm auf bedrückende Weise gelungen, denn Dutzende Figuren des Gekreuzigten aus organischem Material, die schnell von Prozessen des Zerfalls und der Verwesung erfasst wurden aktualisierten den Tod Christi in bedrängender Weise. Blasphemie? Oder doch theologisch wertvolle Aktualisierung?
Jedenfalls rückte die immense Maschinerie den Besuchern physisch und psychisch unausweichlich auf die Pelle. Eine regelrechte Jesus-Allergie bekamen hier manche, je nachdem welche Materialien, in die Form eines Korpus am Kruzifix gepresst worden waren. In mehreren Kammern, ähnlich Raumkapseln in einem schwarzen muffigen Universum gärten sie ihrer ausgehärteten Endgestalt entgegen. Frei flottierende Schimmelsporen inbegriffen. Imitatio Christi, als Weg der Selbstentäußerung. Die Stille, Einsamkeit und Ausgesetztheit der miserablen Figuren, in Wärme- und Kältekammern liegend und schließlich in irren Verkrümmungen endend, verfolgte die Besucher. Der Mensch – ein Bild dieses Gottes?
Der Glaube kommt vom Hören – eine Audio-Theologie muss noch entwickelt werden.
Der Pavillon von Wales ist streng genommen nicht Teil der Biennale selbst, sondern einer der „Eventi Collaterali“. In der profanierten Kirche Santa Maria Ausiliatrice stand mit Migratory Motor Complex eine Sechskanal-Soundinstallation des Künstlers James Richards. Mit musikalischen und textlichen Elementen, Klängen, Rhythmen und Geräuschen lotete er die Möglichkeiten des akustischen Raumes aus und verführte so zum Hinhören, Niederlassen, Augenschließen – eine visuelle Entspannung in dieser so stark den Sehsinn fordernden Stadt. Da-sein, sein-lassen: In verschiedene Richtungen schweifte das Denken während der Hörerfahrung. Der Glaube kommt vom Hören – eine Audio-Theologie müsste noch entwickelt werden. Der Blick auf eine ästhetisch anspruchslose Madonna mit Kind vom alten Hochaltar blieb regelrecht leer neben dieser fluiden Hör-Raumerfahrung.
Narrativität, Gestaltung, Linearität: die Vieldimensionalität der filmischen Reflexion fand in idealen Projektionen oft zu sich selbst
Wie häufig auf aktuellen Kunstschauen, wurde in Venedig der Film zum entscheidenden Medium der Gegenwartskunst. Narrativität, Gestaltung, Linearität: die Vieldimensionalität der filmischen Reflexion fand in idealen Projektionen oft zu sich selbst.
Irland hat mit Tremble, Tremble (Jesse Jones) die gefilmte Performance einer faszinierenden alten Frau gezeigt, ein getanztes und gefilmtes Gedicht auf der Suche nach feministischen Archetypen, zudem eine Reminiszenz an die Tradition der Hexen und Giganten, die im Irland des Vorchristentums geglaubt und verehrt wurden. Ein langsam sich bewegender Körper, nackt und in Großaufnahme, aber auch zerstiebend in Close-Ups. Das erinnerte ein wenig an Douglas Gordon, entwickelt aber doch eine ganz andere Dynamik. Die Künstlerin reagiert mit diesem Werk ausdrücklich auf die in Irland heftig geführten Diskussionen um Missbrauch und Körperautonomie auch im Kontext des allgegenwärtigen Katholizismus, der dem Land tiefe Wunden geschlagen hat. Jesse Jones liefert einen Beitrag zum notwendigen Selbstheilungsprozess der eigenen Kultur durch Rückbesinnung auf vorherige kulturellen Schichten. Ob das immer gelingt, kann man fragen. Jedenfalls suchte die intensive akustische und visuelle Darbietung dieses Filmes auf zwei gigantischen Leinwänden, sowie die intensive Widmung der Kamera an einen alternden Körper – Jones hat auch konzeptionell eng mit der Schauspielerin Olwen Fouéré gearbeitet – auf dieser Biennale seinesgleichen.
Postkolonial informierte Überlagerung von Aspekten, wie sie in europäischen Werken erinnert werden, aufgeladen mit der Gegenbefragung durch die Maori-Tradition
Ähnliches gilt für den Pavillon von Neuseeland. In der fünf-Kanal-Video Projektion in pursuit of Venus [infected], die auf die Panoramatapete Les Sauvages De La Mer Pacifique von Jean-Gabriel Charvet aus dem Jahr 1804 reagiert, erzählte die Künstlerin Lisa Reihana die frühen Begegnungen der Maori mit den Neueinwanderern rund um James Cook, die teilweise real, teilweise fiktiv, im Schatz der Mythen sowohl der Maori als auch der Engländer überliefert werden. Eine postkolonial informierte Überlagerung von Aspekten, wie sie in europäischen Werken erinnert werden, aufgeladen mit der Gegenbefragung durch die Maori-Tradition. Die langsame Machart und das sanfte Erzählen beeindrucken zutiefst. Der Film ist bis 2019 in einer kleineren Darstellungsform im Weltmuseum Wien zu sehen.
Daneben wirkte der Film un hombre que camina (2011-2014) des chilenischen Künstlers Enrique Ramírez in der Hauptausstellung im Arsenale wie die Fabel einer vor- oder besser überzeitlich rituellen Wahrheit: Ein Schamane mit bunter Maske schreitet durch einen flachen Salzsee, hinter sich herziehend 10 schwarze Herren-Anzüge, die durchs Wasser gleiten. Eine meditative Anrufung der Pachamama, begleitet durch die getragenen Töne einer Marching Band, die ebenfalls durch die Landschaft prozessiert, alles eingebettet in stille unglaubliche Bilder der endlosen spiegelnden Wasserfläche.
Eindruck, dass Künstlerinnen und Künstler rund um den Globus vorrangig mit Nähen beschäftigt sind. Ein zentrales Zeichen unserer Zeit?
Was gab es sonst zu sehen? Die Venedig-Biennale ist in der Regel ein Ort der großen Werke und Installationen. In der Schau von Catherine Macel entsteht jedoch der Eindruck, dass Künstlerinnen und Künstler rund um den Globus vorrangig mit Nähen beschäftigt sind. Ein zentrales Zeichen unserer Zeit? Weben und Vernähen, das Patchwork, das Zusammenstückeln von Fäden, das Netze spinnen, dass Sich-Einbinden, Intertextualität und Partizipation waren in unzähligen textil gestaltet Werken präsent. Die Entscheidung für einfache Materialien und Produktionsformen ist keineswegs illegitim: Oft blieb leider der Eindruck auftrumpfender Atelierromantik und mit Ideologie aufgeladener banaler Handarbeit bei gleichzeitiger inhaltlicher Leere.
Reliquien eines Überlebenden von einer Expedition unter die Oberfläche von Zivilisation und Konvention
Ganz anders der Performancekünstler Tehching Hsieh, der im Pavillon von Taiwan mit Doing Time zwei seiner One-Year-Performances präsentierte. Sie gehören längst zu den großen Klassikern der neueren Kunstgeschichte. In minutiöser Strenge hat Hsieh verschiedene radikal-eremitische Eingriffe in das eigene Leben ohne Aufenthaltsgenehmigung im New York der frühen 1980er dokumentiert. Ein Jahr lang stündlich die Stempeluhr im eigenen Atelier zu drücken und sich dabei in einer an Gefängnisinsassen mahnenden Kleidung zu fotografieren – 365 Tage lang, 24 Bilder am Tag.
Ein Jahr lang entschied er sich, ohne Dach über dem Kopf zu leben, niemals, nirgends. 365 Tage dokumentierte er mit Einzeichnung der gewanderten Wege in einen täglich neu kopierten Stadtplan von New York und stellt seine Kleidung, Rucksack und Stiefel in einer Vitrine aus: Reliquien eines Überlebenden von einer Expedition unter die Oberfläche von Zivilisation und Konvention.
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Dr. theol. Viera Pirker ist Assistentin am Institut für Praktische Theologie / Religionspädagogik der Universität Wien.
Beitragsbild: Roberto Cuoghi _ imitatio christi 1
Weitere Bildnachweise: Jesse Jones: www.irelandatvenice2017.ie; James Richards: www.experiencewalesinvenice.org; alle anderen die Autorin