In den Skulpturen des Bildhauers Walter Moroder lassen sich in einer aktuellen Präsentation alternative Heilige ausmachen. Eine kulturelle Entdeckung von Martin Marahrens.
Die Regale waren voller geschnitzter Heiligenfiguren, Madonnen und Kruzifixe und trotzdem war da keine einzige Figur, die mir gefiel. So erinnere ich mich an einen Besuch in einem Laden der zahllosen Schnitzer im Grödnertal in Südtirol, das seit vielen Jahrhunderten für seine Schnitzkunst bekannt ist. Doch alle diese lieblich anmutenden Figuren haben mich nicht angesprochen. Ich suchte etwas Abstraktes, etwas das Raum lässt für Fragen und Zweifel, eigene Emotionen und Gedanken.
Ausstellung „Hinter den Dingen“
von Walter Moroder.
Der Künstler Walter Moroder, dem unter dem Titel „Hinter den Dingen“ bis zum 17. Februar eine Ausstellung im Dommuseum Hildesheim gewidmet ist, stammt aus dem Grödnertal. Von seinem Vater erlernt er das Schnitzerhandwerk und seine traditionellen Motive. Doch Moroder sucht sehr früh einen ganz eigenen Weg, der ihn zunächst in die radikale Abstraktion führt. Später nähert er sich wieder einer eher figurativen Kunst an, dennoch möchte er sich bis heute als abstrakter Künstler verstanden wissen. Wo es der Schnitzkunst seines Vaters um Ausdruck ging, geht es ihm ums Wegnehmen. Wo die Kunst seines Vaters den Betrachter*innen Eindeutigkeit anbot, verwickelt Moroder sie in Widersprüche.
Figuren, die sich emanzipiert haben.
Die Figuren des südtiroler Künstlers entziehen sich jeder allzu einfachen Einordnung. Auf den ersten Blick könnte man sie für ägyptische Statuen halten. Sie wirken distanziert und scheinen jeden Kontakt zu verweigern, doch zugleich sind sie auch nahbar und lebendig. Sie tragen keine individuellen Züge und sind doch ganz einzigartig. Sie strahlen Verletzlichkeit aus und sind doch stark.
Jede seiner Figuren scheint ganz eigentümlich in sich selbst zu ruhen. Diese zumeist weiblichen Figuren Moroders haben sich von den Betrachter*innen emanzipiert. Sie wollen nicht gefallen, machen sich nicht abhängig und haben eine Kraft aus sich selbst.
Heilige anderer Art, vom Leben gezeichnet.
In einem Zeitungsinterview anlässlich der Hildesheimer Ausstellung hat Walter Moroder (*1963) gesagt, dass er nie Heilige habe machen wollen, weil er daran nicht glaube. Doch wenn er mit den klassischen Heiligenfiguren und den dahinterstehenden Idealen nichts anfangen kann, so kennt er doch Heilige anderer Art. Davon zeugt in der Ausstellung eine Serie mit verblassten Fotografien Verstorbener, der er den Titel Santes gegeben hat. Es sind Bilder von Menschen aus Moroders Heimat, die vom Leben gezeichnet sind und denen der Künstler mit spürbarer Achtung und großem Respekt begegnet.
Eine Würde, vor der man sich verneigen möchte.
Diese Bilderserie zeigt einen Grundzug von Moroders Kunst: Jenseits überkommener Typologien versteht er es, seine Figuren als Heilige zu inszenieren, die eine solche Würde ausstrahlen, dass man sich als Betrachter*in instinktiv vor ihnen verneigen möchte.
Diese Heiligkeit von Moroders Figuren gründet allerdings nicht in der Eindeutigkeit eines makellosen Lebens; sie kennt auch nicht das Pathos des Heroischen, wie es für die Heiligen der klassischen Schnitzkunst des Grödnertals typisch ist. Die Heiligkeit seiner Figuren liegt vielmehr darin, dass uns in ihnen Persönlichkeiten begegnen, die an der Gefährlichkeit des Lebens nicht zerbrochen sind und die ganz paulinisch gerade darin stark sind, dass sie sich schwach zeigen. Jenseits der klassischen Dichotomie von heilig und profan findet Moroder das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen, das Staunenswerte im Alltäglichen, das Göttliche im Menschlichen.
Eine Madonna ohne ausreichende emotionale Wärme?
Eine dieser Heiligen ist die Goldene Madonna, die zum Hildesheimer Domschatz gehört und die Moroder dauerhaft mit dem Dommuseum verbindet. Bei dieser Figur aus dem 9. Jahrhundert handelt es sich um eines der frühesten Beispiele mittelalterlicher Großplastik. Die Madonna mit Kind ist jedoch nur als Torso erhalten. Im Barock vermisste man die emotionale Wärme, sodass die romanischen Köpfe entfernt und neue Köpfe angefertigt wurden. Später wollte man dies rückgängig machen, indem man die ursprünglichen Köpfe zu rekonstruieren versuchte.
Doch all diese Lösungen konnten nicht überzeugen, bis man schließlich Moroder damit beauftragte, moderne Köpfe zu schaffen. Sein Kopf der Maria zeigt weder eine ideale Schönheit, noch eine gottergeben Leidende. Vielmehr begegnet uns hier einfach eine junge Frau, die gerade in ihrer Schwachheit so stark ist, dass ihr der goldene Körper aus dem Mittelalter nur angemessen scheint.
Ein geflickter Körper.
Eine andere der insgesamt 26 Heiligen-Figuren in der Hildesheimer Ausstellung trägt den Titel die „Genähte“. Der aufgeschlitzte Körper dieser Figur wird durch grobe Nähte zusammengehalten. Auch durch die Aufstellung in Korrespondenz mit mittelalterlichen Kreuzen erinnert diese Genähte an die Fragilität und Sterblichkeit des menschlichen Körpers und stellt die Frage nach Chancen und Risiken der Medizin. Doch diese „Genähte“ ist nicht nur hinfällige Materie; ihre Haltung und ihr Ausdruck vermitteln zugleich, dass dieser geflickte Körper symbolischer Ausdruck einer Person ist, deren Ursprung und Würde sich geheimnishaft jedem menschlichen Zugriff entzieht.
Eine Leben wie ein Ameisenbau.
Persönlich beeindruckt mich besonders eine Figur, der Moroder den Titel „Ameisen“ gegeben hat. Wie ein Ameisenbau ist diese durchlöchert und in ihrer Struktur wabenartig auf ein Mindestmaß reduziert. Diese Heilige scheint durch alles, was ihr an Material fehlt, nur stärker geworden zu sein. Wenn sie das Leben auch einiges gekostet hat, so ist diese nicht daran zerbrochen, sondern gewachsen und gereift.
Was nun letztendlich hinter den Dingen steht, müssen die Besucher*innen selber entscheiden. Die Goldene Madonna als zentrales Objekt der Ausstellung macht ihnen zumindest aber einen Vorschlag: Hinter den Dingen steht eine Liebe, die auf die Niedrigen schaut und an ihnen Großes tut. Diese Liebe zeigt sich gerade da, wo Menschen in den Abgründen und Widersprüchen ihres Lebens Heilung erleben. Jesus Christus, den die Madonna auf ihrem Schoß trägt, gibt dieser Liebe ein Gesicht. Gott zeigt sich ganz menschlich. Dies ist für mich umso glaubwürdiger als uns die Evangelien erzählen, dass die Umstände seiner Geburt wie auch seines Todes so widersprüchlich und zweifelhaft wie das wahre Leben sind, von dem uns die Figuren Moroders viel zu erzählen haben.
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Autor: Martin Marahrens, kath. Theologe, Regens (Ausbildungsleiter) des Bistums Hildesheim.
Ausstellung: „Walter Moroder. Hinter den Dingen“, 21. September 2018 bis 17. Februar 2019, Ausstellungsansicht, Dommuseum Hildesheim.
Fotos: © Dommuseum Hildesheim, Foto: Florian Monheim