Was tut sich eigentlich gerade in Köln? Der Kardinal ist auf Exerzitien, ein Weihbischof in Kenia und der Diözesanadiministrator hat einen Bußgottesdienst gefeiert. Maria Mesrian analysiert tieferliegende Strukturen des Kölner Milieus.
Köln – das Rom des Nordens wird das Menetekel für die Zukunft der römisch-katholischen Kirche. Wie unter einem Brennglas kann man im Mikrokosmos Köln beobachten, wie eine Institution versagt. Als absurdes Theater könnte man es bezeichnen, doch es ist bittere und für viele schmerzhafte Realität. Die handelnden Akteure: ein weitgehend isolierter Kardinal, gespaltene Gemeinden und ein gesprengter Betroffenenbeirat.
Vertuschung legal
Köln liefert den Beweis, dass eine Täterorganisation niemals in der Lage sein wird, die Taten sexualisierter Gewalt und die Vertuschung in ihren eigenen Reihen aufzuklären. Die mächtige Institution ist gescheitert an der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Sie wird es nicht schaffen, Gerechtigkeit für die Betroffenen herzustellen. Zu sehr ist sie selbst verstrickt in Machtgier und Männerbünde. Das ist nicht nur in Köln so, aber Köln hat es in besonderer Weise gezeigt. Gerechtigkeit kann nicht hergestellt werden, wenn die Kirchen die Aufklärung und Aufarbeitung selbst verantworten. Das ist die große Lehre, die für die Weltkirche aus dem Desaster von Köln zu ziehen gewesen wäre und die einzige Botschaft nach Rom.
Rom hat diese Botschaft nicht verstanden. Mit dem Freispruch für die Verantwortungsträger beschleunigt sich der freie Fall, in dem sich die Institution befindet. Der Kippunkt ist überschritten und paradigmatisch sind zwei verheerende Folgen zu benennen: Die Legalisierung der Vertuschung und der Verlust von Autorität.
Schutz der Täter
Wenn ich etwas vertusche, muss ich es zuvor als bedrohlich erkannt haben – für mich selbst oder für die Institution für die ich arbeite. Der Vertuscher entscheidet sich bewusst dafür, den Schutz der Täter über die Fürsorge für Kinder und Jugendliche zu stellen. Papst Franziskus signalisiert mit seinen Entscheidungen, dass weder die Taten noch die Vertuschung ernstzunehmende Folgen haben. Ein Freibrief für gegenwärtige und zukünftige Täter und Vertuscher weltweit. Vertuschung ist in römisch-katholischen Kategorien nun offenbar legal und das ist beängstigend.
Macht bleibt – Autorität geht
Die Kölner Bistumsleitung hat durch ihr Tun und Unterlassen, ihr Taktieren und Lavieren, ihre schicken Anwälte und PR Krisenmanager die Macht öffentlich und schamlos zur Schau gestellt. Weniger reiche Bistümer wären unter dem in Köln immens hohen Druck der Gläubigen in die Knie gegangen. Die Hüter der Macht sind nun allerdings Hirten ohne Herden. Man glaubt ihnen nicht mehr. Wie konnte es dazu kommen?
In Köln geschah es offen vor den Augen einer fassungslosen Öffentlichkeit. Die allseits bekannten Amtsträger haben in ihren jeweiligen Funktionen als Geheimkapläne, Weihbischöfe, Erzbischöfe, Generalvikare und Personalchefs durch Ignoranz, Vertuschung oder Wegsehen Täter geschützt und weitere Taten gefördert. Die Behauptung Woelkis „von all dem nichts gewusst zu haben“ (Pressekonferenz am 18.3.2021) scheint vor dem Hintergrund seiner 21 Jahre auf der höchsten Führungsetage wenig glaubwürdig.
System der Willkür
Das System der Willkür, der unkontrollierten Macht gepaart mit moralischem Totalversagen treibt nicht nur viele Menschen aus der Kirche. Es verletzt den Kern der christlichen Botschaft: die Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe. Liebe zu Gott erweist sich nur in der Liebe und Sorge um den Nächsten als wahr. Sie zeigt sich in bedingungsloser Solidarität mit dem und der Nächsten. Im sexuellen Missbrauch wird dieser Nächste am wundesten Punkt auf Tiefste verletzt. Wer sich nicht mit dem Verwundeten solidarisiert, fördert durch Wegsehen, Ignoranz oder bewusste Vertuschung weitere Taten und verrät die christliche Botschaft.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Verantwortlichen den „Gehorsam“ gegenüber Rom über ihr Gewissen stellen und nicht selbstständig Konsequenzen aus ihrem Fehlverhalten ziehen und an der Macht festhalten. Durch diese beiden Faktoren – den Verrat der christlichen Botschaft und das Festhalten an der Macht – wird eine zweite Folge offenbar, die paradigmatisch für die Zukunft der römisch-katholischen Kirche sein wird: der Autoritätsverlust in Glaubensfragen. Man glaubt ihnen nicht mehr. Das ist für eine Religionsgemeinschaft, deren Währung der Glaube ist, fatal.
Ohnmacht angesichts der Macht
Aus vielen Gesprächen mit Betroffenen und Personen, die in verantwortlichen Positionen tätig waren oder sind, mit Priestern und Hauptamtlichen zeichnet sich ein düsteres Bild der Institution und der mächtigen Akteure in ihr. Eines wird deutlich: Nicht erst seit der Zurückhaltung des Münchner Gutachtens, sondern seit den eisigen Zeiten Hans Joachim Meisners ist das Hauptmotiv der Vertuscher der Schutz der Institution, aber auch der Schutz persönlicher Interessen. Die Opfer und deren Leidensgeschichten kamen in diesem System nicht vor. Sie wurden als “Störenfriede“ wahrgenommen.
Dass Macht- und Gewaltenteilung keine spinnerten Ideen linker Kirchenreformer sind, sondern existenziell notwendige Instrumente, um Willkür und Erpressung vorzubeugen, lässt sich in Köln beispielhaft zeigen. Der Begriff eines Regimes trifft die Zustände in Köln häufig am besten. Angst ist der lähmende Kitt, der das Bistum auf der Verwaltungsebene noch zusammenhält. Nach der Entscheidung aus Rom gesellt sich noch die Resignation hinzu. Schon hört man, welche der Kritiker „dran glauben“ müssen, sollten Rainer Maria Woelki und seine Getreuen wieder fest im Sattel sein.
Dreifache Spaltung
In Köln ist durch die Dichte und Intensität der Ereignisse längst eine Spaltung mit drei Stoßrichtungen in Gang. Drei Gruppen sind dabei auszumachen: Die, die durch einen Austritt das Weite suchen. Diejenigen, die durch Abhängigkeit weiter schweigend verharren und eine kleine Handvoll, die sich auf den Weg macht und offen die Missstände anprangert.
Aber Vorsicht! Mögen auch in Köln extreme Zustände in einer besonderen Mischung aus Ignoranz und Dilettantismus gespickt mit sehr viel Reichtum herrschen. Kein Bistum ist davor gefeit, in dieselben Fallen zu tappen. Aufklärung und Aufarbeitung mit dem Ziel der weitestmöglichen Gerechtigkeit für die Betroffenen ist nur in einer von kirchlichen Strukturen und Personen unabhängigen Kommission zu erreichen.
Der Wind hat sich gedreht
Das Erzbistum Köln wird nach dem 2. März nicht mehr das Gleiche sein. Die „Probezeit“, von der Rolf Steinhäuser in einem Interview (Kölner Stadtanzeiger, 27.11.2021) gesprochen hat, wird real sein. Überall wird der neue Stil, eine neue wertschätzende Kommunikation der Interimsbistumsleitung hervorgehoben. Eigentlich selbstverständlich, ist dieser Stil in Köln ein Novum. Viele der Hauptamtlichen merken erst jetzt, wie respektlos und ignorant sie seit Jahrzehnten behandelt werden. Sie werden sich nicht mehr ohne weiteres in dieselben Muster zurückbegeben. Das hat der unauffällig und zurückhaltend auftretende Administrator schon erreicht. Er sollte nicht unterschätzt werden.
Dennoch liegt die Zukunft nicht in den Händen geweihter Würdenträger. Dieses System steht immer mehr in offenem Widerspruch zu einer Gesellschaft, die Demokratie und Menschenrechte für universal gültig und unhintergehbar hält. Es liegt an den Katholikinnen und Katholiken selbst, ob sie dieses System weiter tolerieren oder eben nicht mehr.
Sich dem Leid stellen
Als die Visitatoren ihre letzten Gespräche führten, kam ein kleine Gruppe Pilger um einen aufrechten Pastor aus einem kleinen Dorf nach Köln gepilgert. Vorbei am Tagungsort der Visitatoren, am erzbischöflichen Palais, an den Repräsentationen der Macht und Herrlichkeit. Sie wurden von ein paar hundert Menschen empfangen, die sich bewusst waren, dass Veränderung nur möglich ist, wenn sich die Gläubigen dem stellen, wozu die mächtigen Männer der Kirche nicht in der Lage sind: Dem Leid, das durch die tausendfache sexualisierte Gewalt durch Amtsträger der katholischen Kirche verursacht wurde und das durch die Vertuschung dieser Gewalt noch einmal geschieht.
Es war ein einfaches, aber wirkmächtiges Zeichen, das durch diese Wallfahrt gesetzt wurde. Jetzt liegt es an den Katholikinnen und Katholiken selbst, Verantwortung zu übernehmen und Solidarität zu zeigen. Wir können und dürfen die Kirche in dieser Gestalt nicht retten, sie ist unrettbar verstrickt und verloren. Unseren Glauben und die befreiende und immer noch revolutionäre Botschaft des Mannes aus Nazareth können wir indes retten.
Maria Mesrian ist Diplomtheologin und Mitglied von Maria 2.0 Köln.
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