Den Umgang mit aussätzigen Menschen in der Tora greift Thomas Söding auf, um mit Klischees gegenüber biblischen Texten aufzuräumen. Er zeigt vor dem Hintergrund der Corona-Maßnahmen, welches Maß von Verantwortung hinter Formen der Quarantäne stehen kann und wie weit eine kirchliche Praxis dahinter zurückfallen konnte.
Die Corona-Pandemie hat nicht nur eine medizinische, eine soziale und eine ökonomische, sondern auch eine religiöse Seite. In den Kirchen aber herrscht dröhnendes Schweigen. Sie machen den allgemeinen Shutdown klaglos mit. Was haben sie den Menschen anzubieten? Beteuerungen der Betroffenheit, Homestories von Würdenträgern und Live-Übertragungen von Gottesdiensten ohne Gemeinde reichen jedenfalls nicht.
Blasphemische Rede von „Gottes Strafe“.
Der religiöse Fundamentalismus geifert von Gottes Strafe. Das ist Blasphemie. Aber was ist mit Gottes Vorsehung? Mit seiner Güte und Gerechtigkeit? Wo nimmt die Kirche teil an der „Freude und Hoffnung, der Trauer und Angst der Menschen von heute“, wie sie es auf dem letzten Konzil versprochen hat (Gaudium et spes 1)?
Die Vorsicht der Tora
Ein Blick in die Bibel weitet den Horizont. Was aus christlicher Sicht allzu oft verächtlich gemacht werden sollte, gewinnt höchste Aktualität: die alttestamentliche Gesetzgebung zu Reinheit und Unreinheit. Der „Aussatz“ – welche Krankheit auch immer gemeint war – ist ein Paradebeispiel. Das Gottesvolk muss eine Pandemie fürchten. Die Unreinheit, ist man überzeugt, breitet sich durch Sozialkontakte aus. Einen Impfstoff gibt es nicht. Also sind sorgfältige Untersuchung und im Fall des Falles harte Quarantäne das Gebot der Stunde.
Übertragung durch Sozialkontakte
Beides ist in der Tora gewährleistet – unter den Bedingungen der damaligen Zeit, mit klarem Blick für die Lage sowohl der Kranken als auch der anderen Menschen, die sich anstecken könnten. Über die diagnostische Kompetenz verfügten damals die Priester. Sie können auch die nötigen Sanktionen aussprechen oder die Unbedenklichkeit testieren. Das Buch Levitikus gibt im 13. Kapitel die Standards vor. Körperliche Symptome müssen exakt festgestellt, Zweifelsfälle penibel unterschieden und Maßnahmen zielsicher ergriffen werden. Die Quarantäne ist auf sieben und vierzehn Tage befristet. Dann sieht man weiter.
Die Infizierten tragen Verantwortung.
Die Aussätzigen müssen mitarbeiten. Solange sie unrein sind, haben sie andere Menschen vor Ansteckung zu schützen, auch wenn es sie in die Isolation führt. Wenn sie gesund werden, müssen sie sich beim zuständigen Priester-Arzt melden und ein Opfer darbringen, als rituelles Zeichen der körperlichen Reinigung, die zugleich eine religiöse Erneuerung, eine soziale Reintegration und eine menschliche Erlösung ist (Lev 14).
Die Tora schützt im Namen Gottes
die Gemeinschaft.
Was leistet in den archaischen Zeiten Israels die Religion bei Krankheit und Heilung? Sie lässt den Ernst der Lage erkennen und macht sie beherrschbar. Sie begründet die Rationalität des Vorgehens, und sie hält die Option für eine Genesung offen. Die Tora schützt im Namen Gottes die Gemeinschaft und die Betroffenen. Vor allem bietet sie eine Möglichkeit, zwischen der Krankheit und dem Menschen zu unterscheiden. Sie verdammt nicht, wenn sie isoliert, und verfällt nicht in Magie, wenn eine Besserung eintritt – jedenfalls dann nicht, wenn die Regelungen nicht missbraucht werden.
Problematische Moralisierung
des Reinheitsbegriffs.
Die größte Schwierigkeit heute ist die Kategorie der Reinheit, in der das Phänomen infektiöser Krankheit von der Bibel gedeutet wird. Das Problem liegt zum einen darin, dass gegen die Unterscheidungslogik der Tora doch der Mensch selbst als unrein gilt und dann im Namen Gottes verächtlich gemacht wird. Zum anderen liegt es an der Moralisierung des Reinheitsbegriffs im 19. Jahrhundert, in der katholischen Kirche konzentriert auf die Sexualethik. Die biblische „Unreinheit“ hat aber bei den alltäglich Betroffenen nichts mit Schuld und Sünde zu tun. Sie ist auch kein Schicksal – sie ist etwas, das geschieht und nach einer Reaktion verlangt, die Gott im Spiel sieht, um Gefahren zu mindern und Lösungen zu erleichtern.
Die Weitsicht des Messias
Auch im Neuen Testament ist Aussatz ein weit verbreitetes Phänomen. Deshalb sind Aussätzige Hauptfiguren der Evangelien. Jesus macht sie rein – das ist die Frohe Botschaft, mitgeteilt in kurzen Sätzen und stillen Gesten (Mk 1,40.45; Mt 8,2-4; Lk 5,12-16; 17,11-19; Mt 11,5; Lk 7,22). Immer geht es um das Mitleid Jesu, um seine Empathie. Immer ist er der „Arzt“, der heilt (Mk 2,17; Mt 9,12; Lk 5,31). immer hat er ein gutes Wort, das bewirkt, was es besagt. Immer bleibt er selbst vor Ansteckung bewahrt.
Jesus geht auf die Aussätzigen zu.
Die Praxis Jesu ist typisch. Er hat keine Scheu, die Unreinen zu berühren, obwohl der körperliche Kontakt als hoch gefährlich gilt. Wie er auf die Aussätzigen zugeht, so auch auf sündige Menschen. Wie er sich nicht verunreinigt durch den Kontakt mit Aussätzigen, so versündigt er sich nicht durch die Vergebung der Sünden. Jesus verkörpert die Heiligkeit Gottes, die ausstrahlt. In seinem Kommen ereignet sich, was er verkündet: dass Gottes Reich nahegekommen ist (Mk 1,15).
Jesu Umgang mit Menschen
als Verweis auf Gott.
In seinem Umgang mit Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, wird Jesus kritisiert, weil ein Heiliger sich nicht in schlechte Gesellschaft begeben dürfe. In seinem Umgang mit Kranken wird er bewundert – oft zu schnell und ohne den Tiefgang des Glaubens, zu dem Jesus hinführen will. In den Reinigungen verdichtet Jesus ebenso wie in den Heilungen und in der Vergebung der Sünden die Barmherzigkeit Gottes, die Gerechtigkeit schafft. Was rein und unrein ist, hat Jesus neu definiert: Nicht die Speise ist entscheidend, sondern das Herz (Mk 7,1-23; Mt 15,1-20). Die Reinigung eines aussätzigen Menschen zeigt deshalb, dass nicht die Krankheit sein Leben beherrscht, sondern sein Menschsein. Ein Samariter, ein Erbfeind, kann zum Vorbild im Glauben werden (Lk 17,11-19).
Die Umsicht der Kirche
Welche Aufgabe hat die Kirche in der Pandemie heute? Reinheit wird als Hygiene gesehen. Für ärztliche Dienste braucht es keine Priester mehr. Das Gesundheitssystem wird an seine Grenze geführt, aber die Kirche kann und darf es nicht ersetzen. Sie ist nicht Gott. Sie ist nicht unverwundbar. Sie kann durch unverantwortliches Handeln und Reden die Krise verschärfen. Sie kann sie nicht lösen. Aber sie kann in der Krise und mit der Krise leben. Was heißt das?
Corona als Seuche, nicht als Apokalypse.
Zum einen gilt es, hier und heute die Vorsicht der Tora zu beherzigen. Quarantäne tut not. Für die Gottesdienste, die Katechesen und die Sozialdienste der Kirche gelten die gleichen Beschränkungen wie für alle Welt. Die Autorität der Kirchenführer wird nicht mehr gebraucht, um die Einhaltung der Regeln einzuschärfen. Aber die Theologie muss die Kraft der Unterscheidung aufbringen, die aus dem Gottesglauben wächst. Die Pandemie ist eine Seuche – die Apokalypse ist sie nicht. Menschen müssen ihre Freiheitsräume einschränken – Ebenbilder Gottes bleiben sie. Viele haben sich angesteckt und werden sich anstecken – ihre persönliche Schuld ist es in den seltensten Fällen. Petrus musste einen langen Lernweg zurücklegen, bis er sagen konnte: „Mir hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen … unrein nennen darf“ (Apg 10,28). Wäre beim Aufkommen von AIDS so gedacht worden, wäre den Betroffenen viel erspart geblieben. Die Kirche hat zu allem Überfluss die Moralkeule geschwungen und sich deshalb an diesen Menschen versündigt.
Über die Quarantäne hinaus handeln.
Zum anderen gilt es, die Weitsicht Jesu zu gewinnen. In der Kirche muss der Blick für diejenigen geschärft werden, die über die Quarantäne hinaus handeln. In erster Linie sind dies die Menschen in Heil- und Pflegeberufen, die sich um die Erkrankten kümmern. Es sind die Lehrkräfte, die analog und digital Unterricht außerhalb der Klassenzimmer und Hörsäle erteilen. Es sind alle, die sich um die Versorgung mit Lebensmitteln kümmern, um Transporte und Reparaturen. Es sind diejenigen, die sich für andere einsetzen, von der Kinderbetreuung über die Bahnhofsmission bis zur Arbeit mit Geflüchteten. Keine Aktion ist ohne Risiko; jede muss klug abgewogen werden. Aber jede wird gebraucht, damit Menschen, die in Quarantäne sind, nicht isoliert werden.
Kirche, die mit ihrer Pastoral präsent ist.
Wo ist die Kirche präsent? Gewiss in den Schulen, den Krankenhäusern und den Sozialstationen. Aber was ist mit der Liturgie? Mit der Verkündigung? Die Fragen der Menschen, die Nöte, die Sorgen, auch die Erwartungen und Hoffnung sind da. Die pastorale Infrastruktur der Kirche funktioniert nicht mehr. Wie steht es um die digitale Pastoral? Manches ist da und muss jetzt ausgebaut werden: von Videobotschaften auf der Homepage über den Pfarrbrief auf Facebook bis zum Bibelteilen auf Twitter. Die Telefonseelsorge, hoch anspruchs- und verantwortungsvoll, kann heute als Modell einer Pastoral der Zukunft dienen. Die Fernseh- und Radiogottesdienste gewinnen an Bedeutung. Livestreams von Andachten sind angesagt. Aber nicht alle haben Zugang zum Internet. Warum nicht die Kirchenzeitungen an alle Haushalte verteilen? Warum nicht Pfarrriefe und Predigten unter die Leute bringen?
Keine frommen Sprüche!
Entscheidend ist die Botschaft, die überkommt: keine frommen Sprüche, sondern gesättigte Erfahrungen, die dem Glauben verdankt sind. Für die Erkrankten gibt es im Gebet eine Verbindung mit Gott und anderen Menschen, die ihren Horizont weitet; die Kirche sollte diese Gebete anregen und abhalten. Für die Sterbenden und ihre Angehörigen gibt es den Trost der Hoffnung über den Tod hinaus; wie Beerdigungen und Requien unter Quarantänebedingungen zu feiern sind – warum nicht unter offenem Himmel, in kleinen Gruppen, die stellvertretend für andere da sind? Für die Gemeinden gibt es Vorlagen für Hausgottesdienste, die nach dem Psalmwort Mauern überspringen (Ps 18,50) und neue Formen der Gemeinschaft herstellen. Für die ganze Gesellschaft gibt es das Glaubenszeugnis von Gottes Wort: „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (Ex 15,26).
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Autor: Thomas Söding ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK).
Foto: Pan Xiaozhen / unsplash.com