Vor 150 Jahren, am 8. Dezember 1869, wurde das I. Vatikanische Konzil eröffnet. Es ging um eine Frage, deren Dramatik bis heute anhält: Gewinnt die katholische Kirche Gegenwartsrelevanz durch die Rezeption berechtigter Anliegen ihrer Zeit oder Identität durch Abgrenzung? Von Klaus Unterburger.
Als vor 150 Jahren das I. Vatikanische Konzil einberufen wurde, standen zwei gegensätzliche Deutungen schnell fest. Die Konzilsankündigung Papst Pius IX. vom 26. Juni 1867 hatte bald eine Polarisierung der öffentlichen Meinung zur Folge, auch innerkirchlich.
Zwei Erzählungen über das Konzil kündigten sich an, zwei Konzilsbilder wurden geboren: Der Publizist Louis Veuillot (1818-1883) in seinem Agitationsblatt L’Univers und die Jesuiten um die römische Zeitschrift Civiltà cattolica – das halboffizielle Laboratorium der Päpste, weitgehend unabhängig auch von der eigenen Ordensleitung – entwarfen die rechtskatholische Sicht: Die Kirche, von Feinden bedroht, braucht ein Prinzip letzter Sicherheit in ihren Entscheidungen und Wegweisungen, den unfehlbar lehrenden Papst. Die Kirche habe dies seit langem immer klarer eingesehen, so dass die feierliche Definition im Glaubenssinn aller „echten“ Katholiken liege, die so letzte Sicherheit gewinnen. Eine oppositionelle Minderheit der Lauen müsse dann Farbe bekennen.
Erzählung und Gegenerzählung
Die Gegenerzählung entwickelte am einflussreichsten der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger in seinen pseudonymen Artikeln in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Eine kleine, rechtsautoritäre, personell eng mit dem Jesuitenorden verbundene pressure group versuche manipulativ über einen von ihr gelenkten Papst die Kirchenverfassung und damit die Glaubenstradition umzugestalten. Tendenzen hierzu gab es schon lange; anstatt dem gemeinsamen Glaubenszeugnis aller Zeiten und aller Bischofskirchen als Glaubensregel sollte ein ständig in Aktion tretendes unfehlbares Lehramt des Papstes treten: Die Produktion ständig neuer Glaubensdekrete anstatt der Tradition der Väter, gesteuert von den Jesuiten.
Der Konzilsverlauf schien beiden Parteien eine Bestätigung ihrer Sichtweise zu sein. Die öffentliche Debatte, die Verwirrung, die sie stiften konnte, die Quirinus-Briefe, die Döllinger pseudonym über den Gang des Konzils veröffentlichte, sie bestätigen den Streng-Ultramontanen: Sicherheit konnte nur der unfehlbare Papst stiften. Eine Petition wurde gestartet, dass das Konzil auch die Unfehlbarkeitslehre behandeln solle; gegen zu lange Debatten wurde die Redezeit durch eine Änderung der Geschäftsordnung begrenzt; Papsttum und Unfehlbarkeit wurden aus dem ursprünglichen Text über die Kirche herausgelöst, ihre Behandlung vorgezogen; der Papst – nach außen unbeteiligt – zeigte im Hintergrund selbst größtes Interesse, dass seine Unfehlbarkeit erklärt werde, und übte Druck aus; schließlich wurden noch Textentwürfe verworfen, die zum Anliegen der Konzilsminderheit Brücken bauen wollten.
Am Ende sollte die Dogmatische Konstitution Pastor aeternus (vom 18. Juli 1870) für Klarheit sorgen: Christus habe den Papstprimat eingesetzt und dem Petrus verliehen, der in den römischen Bischöfen seither fortdauere. Es sei ein voller, unmittelbarer und wahrhaft bischöflicher Primat über die ganze Kirche. Immer wenn der Papst in Fragen des Glaubens und der Sitten als Lehrer der ganzen Kirche etwas verbindlich lehre, sei es aus sich heraus unfehlbar.
Beide Parteien fühlten sich bestätigt.
Auch die Minderheit sah sich bestätigt: was man den Jesuiten unterstellte, es war eingetreten. Die dogmatischen Dekrete des Konzils wurden weitgehend von Angehörigen der Gesellschaft Jesu vorformuliert und mittels Agitation und päpstlichem Druck den Konzilsvätern vorgelegt. Da man die Mehrheit der (zahlreichen kleinen) Bischofssitze der romanischen Länder, vor allem Italiens und Spaniens, hinter sich wusste, musste man theologische Einwände der Minderheit nicht weiter ernst nehmen.
Das maximalistische Schreckgespenst der omnipotenten Papstgewalt in Kirchenregierung und unfehlbarer Lehre, es wurde schrittweise verwirklicht und war nicht nur ein aus liberalkatholischen Befürchtungen geborenes Zerrbild. Schließlich blieb den Bischöfen der Minorität (darunter die Majorität der deutschen Bischöfe) nur die Abreise aus Rom, um mit der Dogmenverkündigung nicht gleichzeitig als Häretiker exkommuniziert zu werden.
Lagerbildung auch in der Rezeption des Konzils
Die Lagerbildung hat auch die Rezeption des Konzils dominiert. Im Anschluss an das Konzil erschienen die ausführlichen Konzilsgeschichten des Döllinger-Schülers Johann Friedrich, der die liberalkatholische Verschwörungstheorie belegen wollte (drei Bände, 1877-1883) und die ultramontane Gegendarstellung des Jesuiten Theodor Granderath, der im Gegensatz dazu zeigen wollte (drei Bände, 1903-1906), wie die Kirche den Geist der Aufklärung, die liberalkatholische Verschwörung abwehren musste. Im Bann dieser Opposition befinden sich auch alle späteren Geschichten des Konzils, auch dann, wenn sie zwischen den Gegensätzen vermitteln wollten wie Klaus Schatz, der die letzte große wissenschaftliche Gesamtdarstellung des Konzils verfasst hat (1992-1994).
Ein längst vorhandener Gegensatz: Mündigkeit des Einzelnen oder „falscher Subjektivismus“
Aus der Tatsache, dass die beiden gegensätzlichen Erzählungen vom Konzil bereits vor der Konzilseröffnung ausformuliert waren, wird aber deutlich, dass um das I. Vatikanum ein längst schon vorher vorhandener Gegensatz ausgetragen wurde: Die Moderne verlangte Eindeutigkeit. Konnte man ihre Postulate, die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auch Religions- und Gewissensfreiheit, und damit Mündigkeit des Einzelnen und Pluralismus akzeptieren, oder war hier ein falscher Subjektivismus am Werk, der durch souveräne, letztverbindliche Autorität des Papstes, des Prinzips des Vaters, überwunden werden musste. Beide Einstellungen bestanden auch nach 1870 weiter. Die Debatten um das II. Vatikanum sind davon ebenso geprägt wie die heutigen Polarisierungen: Gegenwartsrelevanz durch Rezeption berechtigter Anliegen oder Identität durch Abgrenzung? Muss das II. Vatikanische Konzil primär aus dem Bemühen um ein aggiornamento verstanden werden oder in Kontinuität zum I. Vatikanum?
Bis heute bestehende Polarisierungen: Gegenwartsrelevanz oder Identität durch Abgrenzung
Dabei hatte das I. Vatikanum auch noch andere Themen auf der Tagesordnung: Das Problem des Verhältnisses von Glaube und Vernunft wurde vor dem Hintergrund der Diskussion der als zu rationalistisch verurteilten Theologen Georg Hermes und Anton Günther debattiert, es ging aber auch um den sog. Ontologismus der Löwener Theologie. Glaube sei die über alle Maßen feste Zustimmung zur Offenbarung Gottes, die nicht falsch sein kann, da Gott nicht täuschen kann und sich nicht täuschen kann. Dass es sich aber um eine Offenbarung Gottes handelt, kann man an den Wundern und den auf wunderbare Weise erfüllten Prophezeiungen erkennen.
Dies und auch die Erweiterung des Begriffs eines „katholischen Lehramts“ des Papstes gemäß der immer ausgreifenderen päpstlichen Lehrpraxis des 19. Jahrhunderts war Gegenstand der Dogmatischen Konstitution Dei Filius vom 24. April 1870. Anderes wurde vorbereitet, aber eben nicht zu Ende beraten: etwa das Projekt eines weltweiten Einheitskatholizismus oder die Selbstdefinition der Kirche im Gegensatz zum modernen Staat und zugleich in Analogie zu diesem (societas perfecta-Lehre), was letztlich für die Kodifizierung des kirchlichen Rechts im CIC von 1917 den Anstoß gab. All dies stand bereits unter der dem Vorzeichen der Polarisierung vor dem Konzil und des Streits um die Frage, ob die Lehre des Papstes an die gesamte Kirche unfehlbar sei.
War wirklich klar, unter welchen Bedingungen der Papst unfehlbar lehre?
So fest die Fronten waren: War wirklich klar, unter welchen Bedingungen nach Meinung der Konzilsmehrheit der Papst unfehlbar lehre? Die Ultramontanen waren sich hier selbst nicht völlig einig: Während der Paderborner Bischof Konrad Martin und Kardinal Luigi Bilio die Unfehlbarkeit in ihrem Textentwurf auf die geoffenbarte Glaubenslehre beschränken wollten, ging es den Maximalisten um den Regensburger Bischof Senestrey, den Erzbischof von Westminister Manning und die Jesuiten Matteo Liberatore und Joseph Kleutgen darum, dass auch definitive bzw. allgemeine Aussagen, die nicht geoffenbarte Glaubenslehre sind, unfehlbar seien. Immer wenn der Papst eine Lehre für die gesamte Kirche verbindlich entscheide, sei dies unfehlbar, zudem auch das, was die Kirche allgemein als verbindlich lehre. Man denke an den Syllabus von 1864 und all die Fragen, die zum sog. „sekundären Objekt“ der Unfehlbarkeit gehören. Über die Öffentlichkeit der Civiltà cattolica und eine Papstaudienz erreichten die Maximalisten die gewünschte Ausweitung der Formulierung, die Kleutgen vorlegte.
Unversöhnbare Deutungen und eine Neuinterpretation
Nach dem Konzil standen die beiden Deutungen des Konzils unversöhnt gegenüber. Die Bischöfe und Theologen, die die Lehre bislang abgelehnt hatten, mussten sich entscheiden. Alle oppositionellen Bischöfe und ein größerer Teil der Theologen unterwarfen sich. Die Begründung der Münchener Fakultät galt für viele: Da im Nachhinein ein Konsens zustande gekommen sei, seien die Beschlüsse nunmehr als ökumenisch verbindlich zu betrachten.
Dies widersprach zwar eigentlich dem Wortlaut des Konzils, nach dem ein Beschluss nicht erst durch die Rezeption unfehlbar wurde. Trotz in Rom geäußerter Bedenken gab man sich damit zufrieden. Ebenso mit der restriktiven Deutung der Unfehlbarkeit in den Hirtenbriefen vieler deutscher Bischöfe. Mochten die Altkatholiken noch so oft darauf hinweisen, dass die Konzilsmehrheit die Unfehlbarkeit gerade nicht nur auf die geoffenbarten Glaubenswahrheiten einschränken wollte, wurde dieser Deutung nun um der Unterwerfung willen nicht widersprochen. Ja, sie setzte sich allmählich immer mehr durch.
Nichtintendierte Nebenwirkung: Dogmen können neu- und weitergedacht werden.
Das I. Vatikanum wollte eine letzte Sicherheit im kirchlichen Leben durch die unfehlbaren Entscheidungen der Päpste sichern. Damit es allgemein rezipiert wurde, akzeptierte man aber doch wieder eine einschränkende Neuinterpretation. Dass Dogmen also durch einen neuen Blickwinkel neu- und weitergedacht werden können, scheint die nichtintendierte Nebenwirkung dieses Konzils zu sein.
—
Klaus Unterburger ist Professor für Historische Theologie/Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Regensburg.
Bild: Public domain