Woran orientieren wir uns und unser Handeln? Jede Ethik muss auf die Wirklichkeit bezogen sein, darf aber nicht vergessen, woraufhin diese zu verändern ist. Cornelia Mügge sondiert einen prekären Zusammenhang.
Moni streckt den Hals und genießt es, gekrault zu werden. Auch ich genieße die ungewohnte und zugleich berührende Nähe zu ihr. Moni ist ein Zwergzebu und lebt zusammen mit anderen Tieren auf einem Lebenshof[1] in Deutschland. Dort hocke ich neben ihr auf einer Wiese. Im Hintergrund höre ich die Hühner, am Zaun streicht eine Katze entlang, in Sichtweite steht meine Tochter bei den Ponys. Ein Idyll, das sich in meine Erinnerung geprägt hat und seit meinem Besuch schon oft ein wohliges Gefühl in mir ausgelöst hat. Ich war auf diesen Lebenshof gefahren, weil ich mich gefragt hatte, ob ich dort eine Art gelebte Utopie erleben könnte, die Utopie eines anderen Mensch-Tier-Verhältnisses. Und weil ich mich ganz grundsätzlich frage, welche Bedeutung solche Orte und Utopien für uns haben.
Im gesellschaftlichen wie auch im wissenschaftlichen Diskurs werden Utopien oder das Utopische oft eher kritisch bewertet („das ist doch utopisch“ ist in aller Regel nicht wertschätzend, sondern problematisierend gemeint). Auch in der theologischen Ethik ist der Blick auf Utopien meist ein kritischer, denn Ethik sollte wirklichkeitsgemäß sein und eben nicht utopisch.[2] Was soll eine gelebte Utopie überhaupt sein? Die Bezeichnung scheint in sich widersprüchlich, weil Utopien – als Nicht-Orte – per definitionem nicht realisierbar zu sein scheinen. Und sind sie nicht eben deswegen für ethische Fragen ungeeignet, weil Ethik darüber nachdenkt, wie man – in der realen Welt – handeln sollte?
Die Frage von Realität und Vollkommenheit
Ich denke allerdings, dass Utopien durchaus hilfreich und wichtig für die Ethik sind und dass sie maßgeblich zur Veränderung von Realität beitragen können. Dass sie so stark abgelehnt werden, beruht m.E. auf einer Reihe von Missverständnissen und einseitigen Lesarten, insbesondere mit Blick auf die Fragen von Realitätsbezug und Vollkommenheitsanspruch: Tatsächlich stehen Utopien nicht notwendig in dem oft angenommenen schroffen Gegensatz zur Realität. Sowohl klassische Utopien als auch viele ethische Utopien der jüngeren Philosophie weisen allein deswegen einen großen Realitätsbezug auf, weil sie sich meist ausdrücklich kritisch auf die Gesellschaft beziehen, in der sie entstanden sind. [3] So widmet z.B. Thomas Morus den ersten Teil (immerhin etwa ein Drittel) seines begriffsprägenden Werks „Utopia“ der kritischen Beschreibung des Status Quo seiner Gesellschaft und der Benennung zahlreicher Missstände. Und auch die philosophischen Utopien der vergangenen Jahrzehnte beziehen sich in der Regel eng auf die vorgefundene Realität, die sie als ungerecht kritisieren.
Auch auf Utopia gibt es Krankheit, Tod und Verbrechen.
Natürlich geht es Utopien aber nicht nur um Kritik, sondern um einen positiven Gegenentwurf. Und man könnte das zentrale Problem für die Ethik gerade darin vermuten, dass Utopien vollkommene, perfekte Welten imaginieren, die unter den Bedingungen der Wirklichkeit und mit realen Menschen nie verwirklicht werden können. Aber auch das ist mindestens eine einseitige Lesart: Viele Utopien beschreiben keine in jeder Hinsicht vollkommene, perfekte Welt, sondern denken menschliche Fehler und Unzulänglichkeiten ebenso mit wie die Bedingungen der Wirklichkeit. Auch hierfür lohnt ein Blick auf Morus‘ Insel Utopia, auf der trotz der bestmöglichen Gesellschaftsstruktur Tod und Krankheit ebenso stattfinden wie Verbrechen, weil es eben nicht immer allen Menschen gelingt, der gerechten Idee entsprechend zu leben.[4]
Eschatologie und Utopie
Theologisch interessant sind die Überlegungen von Realitätsbezug und Vollkommenheit nicht zuletzt wegen der naheliegenden und oft gezogenen Parallele zwischen Utopie und Reich Gottes bzw. Eschatologie. Denn es ließe sich fragen, ob sich nicht in dieser Parallelisierung eine genuin theologische Problematik von Utopien zeigt, insofern Utopien fälschlicherweise suggerierten, der Mensch könne im Hier und Jetzt das vollkommene Reich Gottes selbst herbeiführen. Wenn man sich jedoch erneut daran orientiert, dass es bei Utopien nicht um solche Vollkommenheit gehen muss, kann man Utopien dann nicht für die theologische Ethik retten?
Jede Ethik lebt von einer Poetik… (Paul Ricœur)
Indem man sie etwa versteht als Vorstellungen von einer besseren, gerechteren Welt, die zwar über den Status quo so weit hinausweisen, dass sie vielen nicht machbar – und eben in diesem Sinn „utopisch“ – erscheinen, die aber durchaus theoretisch in den Bedingungen dieser Welt und mit realen Menschen machbar wären und insofern klar unterschieden werden können von eschatologischen Vorstellungen? Dabei wären beide, Reich Gottes und Utopie, weiter in einem Verweisungszusammenhang zu denken, man müsste aber weder das Reich Gottes ethisch vereinnahmen noch utopische Vorstellungen in der Ethik aufgeben.
Utopien sind ethisch wichtig
Tatsächlich sollte man Utopien für die theologische Ethik nicht aufgeben: Wir brauchen sie angesichts von Gewalt und vermeidbarem Leiden von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen im Status Quo und mit Blick auf die ungerechten gesellschaftlichen Strukturen und die sie rechtfertigenden wissenschaftlichen Konzepte – auch in der Theologie[5]. Utopien helfen Ungerechtigkeit drastischer wahrzunehmen und sich vorzustellen, wie es anders sein könnte (auch wenn wir aktuell nicht wissen, wie wir zu dem utopisch imaginierten Zustand gelangen können und nur in kleinen Schritten darauf zugehen können). Utopien sind insofern ethisch von Bedeutung, weil sie den Möglichkeitshorizont, wie eine gerechtere, weniger gewalt- und leidvolle Welt aussehen könnte, aufreißen, indem sie eine radikal vom Status Quo unterschiedene bessere Welt imaginieren (und damit über „bloße“ realistische Normen hinausgehen). Darüber hinaus kann der utopische Gegenentwurf, gerade weil er als Imagination einer anderen Welt mehr ist als Kritik am Status Quo, Menschen oftmals besser zum Handeln hin auf eine solche Welt motivieren.[6]
Lebenshöfe als gelebte Utopien?
Lebenshöfe kann man als Orte verstehen, an denen versucht wird, eine bessere Welt zu leben. Ob sie deswegen gelebte Utopie sind? Wohl eher eine Annäherungsstufe. Die Tiere sind oftmals von schlechten Erfahrungen geprägt, haben Vorerkrankungen oder sind Opfer von Nutzungszüchtungen – manche Hühner bekommen zu ihrem eigenen Schutz Testoteron, um das auf ihrer Züchtung beruhende hohe Maß an Eiern zu reduzieren, das ihre Knochen zerbrechlich werden lässt; Hähne müssen eingeschläfert werden, weil sie sich mit ihrem überzüchteten Körper nicht mehr bewegen können usw. Außerdem können Lebenshöfe nur begrenzt Tiere aufnehmen und bleiben eine kleine Blase in der Tiernutzungswelt.
Eine andere Welt ist möglich…
Vieles ist also nicht nur nicht vollkommen, sondern auch nicht bestmöglich. Aber auch ohne wirklich gelebte Utopie zu sein verweisen Lebenshöfe auf die Utopie und geben eine Ahnung davon, wie ein Zusammenleben von Menschen und Tieren besser sein könnte. Und das macht sie zu individuell und gesellschaftlich wichtigen Begegnungs-, Lern- und Erfahrungsorten. Darüber hinaus ist es schlichtweg sehr wohltuend, in einem weitgehend friedlichen und gewaltarmen Kontext mit anderen Menschen und Tieren sein zu dürfen. Meine Tochter kann es kaum erwarten, wieder auf den Lebenshof zu fahren. Und ich auch nicht.
[1] Lebenshöfe sind Orte, an denen Tiere leben, ohne von Menschen genutzt zu werden. Früher sprach man häufig von Gnadenhöfen, gegen diese Bezeichnung verwehren sich aber viele Höfe mittlerweile, da das nutzfreie Leben von Tieren ihrer Ansicht nach eine Frage der Gerechtigkeit und eben nicht der Gnade ist.
[2] Ich beziehe mich hier vorrangig auf den protestantisch-theologischen Diskurs, der stark geprägt ist von einer verantwortungsethischen Perspektive, die die Wirklichkeitsgemäßheit von Ethik ins Zentrum stellt.
[3] Vgl. Kuster, Friederike (2002): Artikel „Utopie/Utopisten: I. Philosophisch“, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 34, 464-473, hier: 465.
[4] Der Utopieforscher Gregory Claeys geht so weit, dass er in seiner Definition Utopie generell gegen die Suche nach dem perfekten Leben und gegen die Vorstellung von Vollkommenheit abgrenzt: Claeys, Gregory (2011): Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, WBG, 11f.
[5] Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rechtfertigung von Gewalt gegenüber Tieren in theologischen Argumentationen vgl. meinen Aufsatz: Mügge, Cornelia (2021): „Gewalt und Tierrechte in der theologischen Ethik. Eine kritische Analyse“, in: Horstmann, Simone (Hg.): Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt, transcript, 223-247
[6] Die Frage nach der Bedeutung von Utopien für die theologische Ethik ist ein zentraler Gegenstand meines gerade begonnenen Forschungsprojekts zu Utopie, Verantwortung und Tierethik. Vgl. https://cris.uni-muenster.de/portal/project/81875779
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Dr. Cornelia Mügge ist protestantische Theologin und Philosophin und forscht zu einem Projekt über Utopie, Verantwortung und Tierethik.
Bild: Peter Bohot – pixelio.de