Der Begründer der „Arche“ lebte die Überzeugung, dass grundsätzlich jeder Mensch wertvoll ist und den anderen Menschen bereichern kann. Denn: „Wir alle haben Handicaps.“ – Eine Erinnerung von Hubertus Lutterbach (mit Nachtrag vom 20. Mai 2019).
Wenn Johann-Baptist Metz von der Ungleichzeitigkeit des Christentums spricht, meint er damit gerade nicht, dass Christen hinter den sonstigen gesellschaftlichen Entwicklungen hinterdrein zockeln. Vielmehr optiert er für Christen an der gesellschaftlichen Spitze, die aus religiöser Überzeugung mit gesellschaftsprägender Wirkung unterwegs sind.
Jean Vanier, der in der vergangenen Woche im Alter von 90 Jahren verstarb, war solch ein christlicher Pionier. Bereits in den 1960er Jahren, als noch kaum jemand von Inklusion redete, hat er sich nach einigen biografischen Suchprozessen für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung stark gemacht. Schon damals brachte er sich über Ländergrenzen hinweg als inspirierender Inklusionsaktivist ein und baute nach und nach sein Netzwerk der „Arche“-Gemeinschaften auf. Heute teilen in 154 dieser weltweit verbreiteten und ökumenisch ausgerichteten Kommunitäten Menschen mit und ohne geistige Behinderung ihr Leben alltäglich miteinander.
Jean Vanier – Biografische Orientierung
1928 in der Schweiz geboren und dort auch getauft, betrachtete Jean Vanier die klare Zustimmung seines Vaters zu dem Wunsch, als 13-jähriger auf das Elite-College der britischen Marine in Dartmouth zu wechseln, rückblickend als die Basis für sein lebenslängliches Selbstbewusstsein und sein beständiges Vertrauen in andere Menschen. Ab 1946 diente er auf einem Ausbildungskreuzer. Nachdem sein Bruder im gleichen Jahr in den Trappistenorden eingetreten war, intensivierte auch Jean seine christliche Lebenspraxis weiter und trat aus der Armee aus.
Sein Lebensweg: von der Marine zur „Arche“.
1950 lebte er für einige Monate in New York im „Friendship House“, in einem sozialen Zentrum für Arme. Von dort zog es ihn nach Paris, wo er den Dominikaner Thomas Philippe kennenlernte. Die geistliche Freundschaft zu diesem Menschen betrachtete er als einen Glücksfall seines Lebens. (Nachtrag: Von diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit hat sich Jean Vanier über Jahre hinweg nicht distanziert. Dieses Beharren mutet im Rückblick umso erschreckender an, weil inzwischen klar ist, was Jean Vanier wohl schon seit Jahren wusste, dass nämlich Pater Thomas Philippe ein Missbrauchstäter war.) 1
1962 schloss Jean Vanier sein Studium der Philosophie und Theologie in Toronto mit einem Doktorat zum Freundschaftsbegriff bei Aristoteles ab. 1964 entschied er sich, – wie zuvor Pater Thomas – in das kleine Dorf Trosly-Breuil nordöstlich von Paris zu ziehen und dort ein Haus zu kaufen. Nachdem er hier in Kontakt zu Menschen mit geistiger Behinderung gekommen war, lud er zwei Männer mit einer geistigen Behinderung ein, das Leben mit ihm zu teilen. Ihre Kommunität nannte er „Arche“, weil auch Noah die Menschlichkeit und die Lebendigkeit vor der Flut gerettet hatte.
Nicht zuletzt sah sich Jean Vanier zu diesem geschwisterlichen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung inspiriert durch Impulse des Jesuiten Almire Pichon (+ 1919), der mit seiner mystischen Theologie akzentuiert, dass Gott im Herzen jedes Menschen und jeder Mensch im Herzen Gottes lebt.
Gott im Herzen jedes Menschen und jeder Mensch im Herzen Gottes.
Bis zu seinem Tod vor einigen Tagen blieb Jean Vanier seiner beständig wachsenden Initiative treu. Jahrzehntelang lebte er in Trosly-Breuil, während er weltweit Vorträge hielt, sich kirchenpolitisch einsetzte und geistliche Bücher schrieb.
Auf Augenhöhe – Menschen mit und ohne Behinderung
Im Unterschied zu der auch christlicherseits traditionsreichen (und oftmals aus den „Werken der Barmherzigkeit“ abgeleiteten) Überzeugung, dass sich die Reichen um die Armen kümmern oder die Menschen ohne Behinderung sich den Menschen mit Behinderung caritativ zuwenden mögen, weitete Jean Vanier dieses Spektrum von Anfang an aus. Ihm ging es nicht um ein vor Gott als verdienstlich eingestuftes Geben von oben nach unten. Stattdessen sprach er sich mehr denn je für die Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe aus. So formuliert er grundsätzlich: „Wenn wir zu viel für den andern tun, und ihm nicht bei der Weiterentwicklung oder beim Übernehmen von Eigenverantwortung behilflich sind, dienen wir dann nicht nur uns selber? Auf der Suche nach Macht und Ansehen? Zerbrochenen Menschen dienen heißt ihnen helfen – so wie auch eine Mutter ihrem Kind hilft –, die eigenen Gaben und die eigene Schönheit zu entdecken und an Selbständigkeit dazu zu gewinnen, so dass wir immer mehr in den Hintergrund treten können.“
Hilfe dazu, die eigenen Gaben und die eigene Schönheit zu entdecken.
Immer wieder weist der „Arche“-Gründer auf die Wichtigkeit eines mitmenschlichen Klimas im Zusammenleben hin, damit Menschen zu sich selber finden und für ihre Anliegen einzutreten lernen: „Unsere Gemeinschaften sind Orte, wo Menschen lieben und geliebt werden. Jede Heilung erwächst aus menschlichen Beziehungen.“ Anstelle einer „Einbahnstraßen-Caritas“, bei der sich die Vermögenden und Gesunden um die Kranken und Behinderten „kümmern“, um so vor Gott besser dazustehen, ging es Jean Vanier um das Bewusstsein, dass grundsätzlich jeder Mensch wertvoll ist und den anderen Menschen bereichern, ja ihn in seiner Bedürftigkeit stützen kann. Denn, so formuliert der „Arche“-Gründer: „Wir alle haben Handicaps, einige offensichtlich, andere verborgen.“ So hätte sich auch Jesus selbst als Bedürftiger gesehen, wenn er sich Menschen liebevoll zugewendet hätte: „Jesus dient nicht einfach nur den Armen, sondern wird einer von ihnen. (…) Der Mann des Mitleidens wird zu einem Mitleidsbedürftigen, zu einem armen Mann.“
Rollenzuschreibungen halten der Realität des Alltagslebens nicht stand.
Die beschriebene Akzentverlagerung ist – wie oben bereits angesprochen – bei Jean Vanier der Ausdruck eines persönlichen Lernprozesses: So hatte auch er sich ursprünglich als ein Vermögender und die Menschen mit geistiger Behinderung als die Bedürftigen und Empfangenden empfunden. Doch alsbald wurde ihm klar, dass diese Rollenzuschreibung der Realität des Alltagslebens nicht standhielt: „Schon meine ersten beiden Mitbewohner Raphael und Philippe wollten nicht mit einem ehemaligen Marine-Offizier zusammen leben, der alle befehligt und sich selbst für den Größten hält. Ebenso wenig wollten sie ihr Leben mit einem Ex-Philosophieprofessor teilen, der von sich glaubte, er wisse eine Menge. Vielmehr wollten sie mit einem Freund zusammen leben; (…) mit einem Menschen, der sich am Zusammenleben mit den anderen freut.“
Seitdem erlebte sich Jean Vanier immer wieder in Situationen, in denen er, der Mensch ohne Behinderung, in der Rolle des Schwächeren war. Von seinen Mitbewohnern mit Behinderung sah er sich in solchen Situation oftmals reich beschenkt. Diese Erfahrungen ließen in ihm die innere Bereitschaft wachsen, als der vermeintliche Könner die persönliche Leiter herabzusteigen, um so bei einer Einfachheit anzugelangen, die einen öffnet für die menschlichen Beziehungen zu anderen in der Gruppe, anstatt sich einfach auf das Erreichen des persönlichen Erfolgs auszurichten.
Wahrhaftig Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit eingehen.
Aus seiner eigenen geistlichen Erfahrung heraus bringt Jean Vanier seine Grundüberzeugung im Blick auf die „Arche“ alltagskonkret ins Wort: „Für die ‚Arche‘ besteht die Treue darin, mit geistig behinderten Menschen im Geist des Evangeliums und der Seligpreisungen zu leben. Mit ihnen leben ist etwas anderes als sie zu betreuen. Es heißt nicht nur, an einem Tisch zu essen und unter einem Dach zu schlafen. Es heißt auch, wahrhaftig Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit einzugehen: Menschen mit Behinderung zuzuhören, ihre Gaben anzuerkennen und sich mit ihnen zu freuen. An dem Tag, an dem wir nur noch Fachleute und Therapeuten sind, die andere erziehen und behandeln, sind wir nicht mehr die ‚Arche‘ – selbst wenn das Zusammenleben fachliche Betreuung natürlich nicht ausschließt.“
In seinen Reflektionen zum guten gemeinsamen Leben in den „Arche“-Gemeinschaften erläutert Jean Vanier das Miteinander auf Augenhöhe zwischen Menschen mit und ohne Behinderung eindrucksvoll anhand des gemeinsamen Feierns: „Ein Fest ist etwas Anderes als eine Aufführung, bei der einige Schauspieler oder Musiker die Zuschauer unterhalten und entspannen. Beim Fest ist jeder Schauspieler und jeder Zuschauer. Jeder muss spielen und teilnehmen, sonst ist es kein Fest.“ Diese Grundüberzeugung sieht Jean Vanier auch im größeren Kontext des kirchlichen Lebens fortgesetzt: „Es ist wunderbar, wie sich die Kirche den Sinn für das Feiern bewahrt hat. Jeder Tag ist bei ihr ein Fest! (…) Untereinander müssen wir innerlich verbunden sein, weil wir mit Jesus verbunden sind.“
Mystik – Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis?
Jean Vanier zeigt sich gewiss, dass das christliche Leben seinen Referenzpunkt in der Begegnung hat: in der Begegnung zwischen den Menschen und in der Begegnung der Menschen mit dem Göttlichen. Die horizontale und die vertikale Begegnung wirken bestärkend aufeinander, wie er in häufigem Rückgriff auf die Begegnungstraditionen des Christentums in Erinnerung ruft: „Johannes vom Kreuz sagt, die Liebe Gottes und die Nächstenliebe haben denselben Ursprung und dasselbe Ziel. Wächst man in der Nächstenliebe, so wächst man auch in der Gottesliebe. Verschließt man sein Herz den anderen, so verschließt man es auch Gott.“
Verschließt man sein Herz den anderen, so verschließt man es auch Gott.
Bei Jean Vanier bleibt sein aus der christlichen Mystik hergeleitetes Ideal der Begegnung kein bodenloses Gerede. Vielmehr entwickelt er aus dieser Maxime vielfältig alltagsprägende Folgerungen für das Miteinander zwischen Menschen mit und ohne Behinderung: „Die anderen lieben heißt ihre Gaben anerkennen und ihnen helfen, sie zu entwickeln. Es heißt auch, ihre Verwundungen anzunehmen und Geduld zu haben. Wenn wir nur ihre Gaben und ihre Schönheit sehen, dann erwarten wir viel zu viel von ihnen, dann idealisieren wir sie. Wenn wir nur ihre Verwundungen sehen, dann tun wir zu viel für sie, und wir laufen Gefahr, sie am Wachstum zu hindern.“
Fazit
Auch wenn Jean Vanier es kaum einmal offen aussprach: Sein Engagement wurzelte zutiefst in seiner Überzeugung, dass Jesus im Herzen eines jeden Menschen wohnt und zugleich jeder Mensch seinen ganz eigenen Platz im Herzen Gottes einnimmt. Aus dieser Grundauffassung, die er seit den 1960er Jahren hochgehalten hatte, folgerte er, dass erstens die individuelle Stärke jedes einzelnen Menschen, zweitens das ganzheitliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung sowie drittens – im Sinne einer von ihm stets hoch gehaltenen Institutionenskepsis – die gesunde Reserve gegenüber einer allzu leistungsorientierten Gesellschaft zusammengehören. In diesem Dreiklang erblickte Jean Vanier zugleich die zukunftsweisende Grundlage für eine neue Sozialordnung. Das Miteinander, wie er es in der „Arche“ verwirklichte, empfiehlt er zugleich als Ausdruck einer alle Menschen guten Willens umgreifenden Nächstenliebe, die den anderen nicht klein macht, sondern ihm zu eigener Stimme verhilft.
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Hubertus Lutterbach, katholischer Theologe und Historiker, ist Professor für Christentums- und Kulturgeschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Photo by Kotukaran, cropped by Gabriel Sozzi [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]
- Zu diesem Zusammenhang, der über Frankreich hinaus kaum bekannt ist, stellt feinschwarz.net als Ergänzung zu diesem Artikel demnächst einen weiterführenden und vertiefenden Mailwechsel zwischen Daniel Bogner und dem Autor dieses Artikels, Hubertus Lutterbach, online. (Nachtrag vom 20. Mai 2019) ↩