Ulrich Engel OP blickt auf das Ende der Zeit. Angesichts der großen Krisen in der Spätmoderne plädiert er dafür, den „eschatologischen Zeitdruck“ als Chance zu begreifen. In der Hoffnung auf die Rettung durch Gott geht es darum, hier und jetzt, inmitten der realen Gewaltgeschichte, ganz praktisch eine andere, bessere Welt zu antizipieren.
Ernst Troeltsch: Eschatologische Bürostunden
„Ein moderner Theologe sagt: Das eschatologische Bureau sei heutzutage zumeist geschlossen. Es ist geschlossen, weil die Gedanken, die es begründeten, die Wurzel verloren haben.“ Mit diesem Satz hat Ernst Troeltsch Theologiegeschichte geschrieben – auch wenn bis heute nicht bekannt ist, welchen ‚modernen‘ Theologen er da als Zeuge aufruft. Vielfach zitiert reicht die Wirkung des Satzes bis hin zu Giorgio Agamben, der 2009 anlässlich der „Conférences de Carême“ in Notre-Dame de Paris feststellte, dass inzwischen auch „die römische Kirche […] ihr eschatologisches Bureau geschlossen [habe].“
Wenn das eschatologische Büro
gar einen Anbau benötigte.
Ganz anders sah Hans-Urs von Balthasar die Sache. In „Verbum Caro“ veröffentlichte er „Umrisse der Eschatologie“. Auf die liberale Theologie gemünzt heißt es dort: „Wenn für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts das Wort von Troeltsch gelten konnte: ‚Das eschatologische Bureau ist meist geschlossen‘, so macht dieses im Gegenteil seit der Jahrhundertwende Überstunden.“ Ob das eschatologische Büro im 20. Centenario für sein gestiegenes Arbeitsaufkommen gar einen „Anbau“ benötigt hätte – so wie Kurt Aland ihn einst (allerdings im Blick auf das 2. Jahrhundert) einforderte –, das sei an dieser Stelle dahingestellt.
Peter Sloterdijk: Eschatologischer Zeitdruck
Auf jeden Fall wird auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts über eine angemessene Deutung des Endes der Zeit gestritten. So wirft beispielsweise Peter Sloterdijk dem Monotheismus vor, mit der Lehre von der begrenzten Zeit das westliche Geschichtsbild theopolitisch manipuliert zu haben. Durch das Modell einer linear verlaufenden und um ihre Grenzen wissenden Geschichte sei ein Zeitdruck in die Welt gekommen, den er für die in seinen Augen fatale Hypermoralisierung der Politik, wie sie typischerweise in modernen Gesellschaften anzutreffen sei, verantwortlich macht.
Sloterdijk denunziert den
eschatologischen Zeitdruck
In der Konsequenz bereite das Theologumenon von der befristeten Zeit allen Formen des von ihm verachteten Gutmenschentums den Weg: „Solidarität mit den Fremden“, „Politik der offenen Grenzen“, „Souveränitätsverzicht“ – einschließlich der dazugehörigen „Tugenddiktatur“. Dementsprechend denunziert Sloterdijk den in Judentum und Christentum gründenden eschatologischen Zeitdruck als den eigentlichen Antrieb und damit den Schuldigen der entgleisten Moderne.
Johanna Rahner: Eschatologische Kontingenzverschärfung
Eine systematisch-theologische Befassung mit den letzten Dingen hat bei der Kritik des Mythos einer unbefristeten Zeit anzusetzen. Dieser Mythos, so der Vorwurf von Johann Baptist Metz, imaginiere die Welt im Horizont „einer leeren, überraschungsfreien Unendlichkeit, die jede substantielle Erwartung zersetzt.“
In solch einer endlosen und unterbrechungsfreien Verlaufsgeschichte wäre allerdings kein Platz mehr für Hoffnung. Denn einzig im Ausgriff auf einen „eschatologischen Horizont“ (J.B. Metz) kann sich eine zukunftsoffene Hoffnungspraxis entfalten.
Eine Hoffnungsfigur mit
menschlicher Verantwortung
Wenn diese Hoffnung aber, wie die neue Politische Theologie nicht müde wird zu betonen, zuerst und bevorzugt den Opfern der Geschichte gilt, dann drängt die Zeit. Denn die Rettung derjenigen, die unter die Räder der Geschichte kommen bzw. bereits gekommen sind, kann nicht warten! Eine solche Hoffnungsfigur weist dem Menschen die geschichtliche Verantwortung zu – auch da noch, wo Astrid Heidemann zu Recht darauf hinweist, dass der Mensch Gerechtigkeit, Sinn und Leben nicht selbst verbürgen kann. Die endgültige Rettung bleibt Gott vorbehalten.
Der Druck, den die befristete Zeit aufbaut, eröffnet dem Menschen einen „Horizont der Ungeduld“ (T.R. Peters OP), der die Bedingung der Möglichkeit von Glaube und Hoffnung überhaupt darstellt. Denn die Befristung der Zeit bedeutet bei aller Vorläufigkeit der Geschichte auch eine „Kontingenzverschärfung“ (J. Rahner). Das muss nicht von Nachteil sein, denn Kontingenzerfahrungen können dem Menschen Freiheitsräume des Handelns eröffnen bzw. erweitern: Eine andere, bessere Welt wird möglich!
Giorgio Agamben: Eschatologische Kontraktion
Giorgio Agamben liest zwei paulinische Texte, die für das Thema von Interesse sind: Röm 11,5 („Ebenso gibt es auch in der gegenwärtigen Zeit einen Rest, der aus Gnade erwählt ist“) und 1 Kor 7,29-32. Aus der konstellativen Zusammenschau der beiden biblischen Zeugnisse entwickelt Agamben in seiner Römerbrief-Auslegung die These von einer kairologisch zusammengedrängten Zeit: „Die Zeit ist kurz.“ (1 Kor 7,29). Das hier genutzte Verb συστέλλω bezeichnet – so Agamben – neben anderem auch „die Kontraktion eines Tieres vor dem Sprung“. Die (messianische) Zeit ist kontrahiert, zusammengezogen, gestaucht – so könnte man Vers 29 auch übersetzen.
Die vorletzten Dinge anders leben.
Aus dieser Kontraktion der Zeit ergibt sich für die Glaubenden im Blick auf die letzten Dinge die Möglichkeit und Aufgabe, „die vorletzten Dinge anders zu leben.“ ‚Anders‘ meint hier: verantwortungsbewusster. In Gal 6,10 heißt es entsprechend: „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann“. Das bedeutet, dass die zusammengedrängte Zeit ethische Konsequenzen zeitigt, denn die innere, von einem messianischen Ereignis hervorgerufene Transformation der Zeit bewirkt „ihrerseits eine Verwandlung des Lebens der Gläubigen“ zum Guten.
Carlos Mendoza-Álvarez OP: Eschatologisches Gemurmel
Dabei ist die messianisch kontrahierte Zeit allerdings keine andere Zeit als die chronologische. Agamben versteht sie mit Paulus vor allem als „eine innere Verwandlung der chronologischen Zeit“. In dieser verwandelten Zeit antizipieren die Gerechten das Ende der katastrophischen Zeit und lassen durch ihr gerechtes Tun die neue göttliche Zeit bereits anbrechen.
Messianische und chronologische
Zeit verschränkt.
Das geschieht allerdings nicht im Sinne einer Entweder-Oder-Dualität: erst die Krise, dann die Rettung. Vielmehr verschränken sich beiden Zeiten ineinander. Der mexikanische Theologe Carlos Mendoza-Álvarez OP wird nicht müde zu betonen, dass das Ende der Zeit (die unaufhaltsam neue Menschenopfer fordert) sich „stets auf flüchtige und paradoxe Weise inmitten der Geschichte voller Gewalt“ realisiert. Der Narrationsmodus solcher in zwei Zeiten kontraktiv-verschränkten Leid- und Befreiungserfahrungen kommt zurückhaltend und im Pianissimo daher: als schambehaftetes „Gemurmel der Hoffnung“, in Gestalt von „kleinen Erzählungen des erlösten Leibes“, als leidsensible Unterbrechungshermeneutik.
Karl Rahner SJ: Eschatologisches Wagnis
Die Zeit, die bis zum Ende noch bleibt, gilt es zu nutzen. Sie ist ‚Heute‘ und ‚Jetzt‘. In diesem Heute und Jetzt fallen alle drei zusammen: Geschichte, Gegenwart und „die Zeit, die bleibt“. Dieses Ineinsfallen der drei Zeiten nannte Walter Benjamin „Jetztzeit“. Sie, die Jetztzeit, verleiht dem Leben – vor allem dem geschundenen – erst Qualität.
Jetztzeitlich und zugleich endzeitlich.
Anders herum formuliert: Nur die subjektiv erfahrene Begrenztheit der individuell verfügbaren Lebenszeit gibt dem Leben seinen charakteristischen Wert. Sie schenkt der je eigenen Lebensgestaltung „jenen ernsthaften Antrieb […], der dem Erfordernis entspringt, ohne Möglichkeit des Aufschubs im Hier und Jetzt zu handeln.“ (S. Knell) Jetztzeitig und zugleich endzeitlich leben heißt damit immer auch ungesichert leben. Denn „wirkliche ‚Praxis’ […] ist nicht die bloße Exekution des Geplanten […], sondern […] Wagnis des Ungeplanten“. (K. Rahner) Im Horizont des von Gott gesetzten Endes der Zeit macht erst das reflektierte Wagnis des Ungeplanten Lebenszeit wertvoll.
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Ulrich Engel OP, Dr. theol. habil., ist seit 1984 Mitglied des Dominikanerordens. Er ist Gründungsbeauftragter und Professor für Philosophisch-theologische Grenzfragen am neu gegründeten Studienstandort „Campus für Theologie und Spiritualität Berlin“. Er ist zudem Direktor des „Institut M.-Dominique Chenu Berlin“ und Co-Schriftleiter der theologischen Zeitschrift „Wort und Antwort“ der Dominikaner.
Literatur:
Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912. Mit einem Vorwort von Marta Troeltsch, München – Leipzig 1925.
Peter Sloterdijk, „Das kann nicht gut gehen“ [Interview mit Alexander Kissler und Christoph Schwennicke], in: Cicero v. 28.01.2016 (Nr. 2), 14–23.
Johanna Rahner, Einführung in die christliche Eschatologie (Grundlagen Theologie), Freiburg/Br. 2/2016.
Giorgio Agamben, Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato (Edition Suhrkamp Bd. 2453), Frankfurt/M. 2006.
Carlos Mendoza-Álvarez, Eschatologie und Apokalypse in Zeiten der Postmoderne. Aus der Perspektive der Opfer und der Gerechten der Geschichte. Aus dem Spanischen von Bruno Kern, in: Concilium 50 (2014), 285-294.
Karl Rahner, Gnade als Freiheit. Kleine theologische Beiträge, Freiburg/Br. 1968.
Titelbild: Morgan Housel /unsplash.com