Christine Funk lehrt als systematische Theologin die Dringlichkeit einer Theologie, die endlich die Mechanismen des Ausschlusses bzw. der systemischen Abwertung von relevanten Themen und Lebenserfahrungen wie von Frauen durch die Geschichte der Kirche hindurch offenlegt.
Es gefällt mir, theologische Seminare vorzubereiten. Obwohl ich meist in einer Art Verzweiflung anfange und mir zuerst immer nur einfällt, was ich nicht will. Das ist meist viel. Mein Fach ist die Systematische Theologie. Als „Erosion des Dogmatischen“ hat Rudolf Englert das Phänomen treffend beschrieben.1 Zumal unter dem Eindruck dessen, was im Kommunikationsraum Kirche seit Jahrzehnten und speziell in Deutschland seit 2010 an Zögerlichkeit in der Auseinandersetzung mit Missbrauch der geistlichen Macht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu erleben ist, geht es nicht nur um „Verschiebungen“ (Englert), sondern mächtig um das „Elend der Theologie“, das Michel de Certeau bereits am 1. Juli 1973, vor fünfzig Jahren, diagnostizierte. Damit fangen wir schon in der Einführung an!
Mechanismen der Ausgrenzung in der Geschichte.
Fundamentaltheologie – die Dringlichkeit einer Theologie, die endlich die Mechanismen des Ausschlusses bzw. der systemischen Abwertung von relevanten Themen und Lebenserfahrungen weiter offenlegt, ist nicht überholt. Feministisch und rassismuskritisch arbeitende Theolog*innen haben dazu seit Jahren Beiträge geleistet.2 Sie werden meist vom meinungsprägenden kirchenleitenden Mainstream nicht nur nicht rezipiert, sondern auch exkludiert, gerade weil und wenn sie zu aktuellen Themen gearbeitet haben. Beispielhaft in meiner Theologie-Erinnerung die nihil-obstat-Verweigerung 2000 und 2003 für Regina Ammicht-Quinn, die Anfragen an Elisabeth Johnson in den USA – Theologinnen, von denen ich viel gelernt habe.
So ist weiter de Certeaus Empfehlung zu folgen, die partikulare Option, die der christliche Glaube darstellt, mit sozialen, ökonomischen, politischen, intellektuellen Formen der Praxis der Gesellschaft und ihrer Ausgestaltung in der Vergangenheit in Beziehung zu setzen3 – und ich ergänze sie um die Dimension der Beobachtung von Mechanismen der Ausgrenzung in der Geschichte.
Kürzlich habe ich im Seminar versucht, mit Biographien anschaulich zu machen, in welcher Form systemische Exklusion in kirchlichen Traditionen wirkt. Ein naheliegender Einstieg, Theologie als Biographie in Reminiszenz an Johann Baptist Metz vorzustellen.4 Bereits in zwei Sitzungen und studentischen Inputs zu Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Mary Ward, Charles de Foucauld gab es eine Reihe von interessanten Fragen, die alle auf Spezifika dessen hindeuten, was vielleicht „Exklusion in kirchlicher Erinnerungsgeschichte“ zu nennen ist. Sie wird vorwiegend als Institutionengeschichte „der Kirche“, der Orden, des Papsttums u.s.w. kommuniziert, und sogar in der Wahrnehmung von Reformen wird Erhalt als Erneuerung und Kontinuität erzählt. Konfliktgeschichte könnte nur von dissidenten Gruppen erzählt werden, die aber gerade in kirchlichen Konflikten nicht selten verbrannt, gebannt, exkommuniziert wurden, sofern sie nicht eh habituell schweigend sind. (Vgl. 1 Kor 14,34)
Entstehungsbeispiele von ‚epistemischer Ungerechtigkeit.‘
Hildegard von Bingen, Teresa von Avila und Mary Ward können als beispielhaft gelesen werden für „epistemische Ungerechtigkeit“5. Warum konnte Hildegard nicht als „Gelehrte“ bezeichnet werden, obwohl sie ein bereits von Zeitgenoss*innen anerkanntes theologisches, natur-und heilkundliches Werk hinterlassen hat (z.B. scivias)? Ganz einfach, weil sie ihre Werke nicht in der Form der deduktiven scholastischen Methode verfasste. So ergibt sich die einfachste Unterscheidung von Mystik und Scholastik nach dem Ort der Entstehung von Theologie: Mystik – aus innerem Dialog mit Gott und Welt, vermittelt in Dialogen mit Seelsorgenden, eine erfahrungsbasierte Kommunikation; Scholastik – aus der schulmäßig methodisch geleiteten Deduktion in Auseinandersetzung mit „Autoritäten“ der Antike bzw. kirchlichen Überlieferung in mittelalterlichen Universitäten, den Klerikern, d.h. Männern vorbehalten.
Auch Teresa von Avila kann nur Mystikerin sein, da sie keinen Zugang in die etablierte Institution des (kirchlichen) Wissens hat. Sie reflektiert dies in ihrem Werk vielfach, indem sie betont, wie wichtig für die geistliche Begleitung die Komponente der Erfahrung – gerade auch bei den Studierten – sei.6 Allerdings ist die Stimme der beiden Frauen in ihrem jeweils großen Werk erhalten. Und besonders die Stimme von Teresa kann trotz aller Zeitbezogenheit frisch vernommen werden, gerade weil sie innere Erfahrungen sehr genau beschreibt, die sie im inneren Dialog „mit Jesus“ bzw. mit „Gott“ gewinnt. So bietet der innere Dialog mit dem Unermesslich-Gott-Du einen Raum für die Artikulation der schmerzhaften Erfahrungen des Ausschlusses von Möglichkeiten der Beteiligung und von Einschränkungen. In diesem Raum wird die Stärke gebildet, um die „epistemische Ungerechtigkeit“ des Ausschlusses vom Gehört- und Anerkanntwerden unschädlich zu machen.
In ihm kann sie die Sicherheit gewinnen, dass Jesus (Gott) von Grund auf anders ist als die Gelehrten und Mächtigen der Umgebung und er sie „wie einen Freund“ anerkennt. Sie schafft sich Raum im Sagen (und Schreiben).7 Und daraus wächst Teresa Mut, Energie und ihre legendäre Courage zu. Im Seminar wird die „Leistung“ des inneren Dialogs mit „dem Herrn“ wie eine Form, – modern gesprochen – „Resilienz zu bilden“, gedeutet und zwar nicht nur im Kraftgewinn, Widriges ertragen zu können, sondern im Gegenteil noch aus Negativem Kraft für Neues und Kreativität zu schöpfen.
Andere äußern, dass doch seltsam sei, dass über Glaube als Widerstands- und Kreativkraft so wenig gesprochen werde. In der kirchlichen Verkündigung dominiere nach wie vor die Inhaltsseite dessen, was „die Kirche“ glaube (fides quae). Wer ist das eigentlich? Zu wenig Interesse daran, zu hören, wie genau Menschen ihren Lebensglauben, den sie vielleicht gar nicht so nennen, formulieren würden. (fides qua). Wahrscheinlich einer der blinden Flecken, dass etabliert behütete Priesterbiographien ganz andere Lebenserfahrungen haben und somit das Wichtigste gar nicht mehr vermitteln können, mit Ungesichertheit und wirklich offenen Fragen zu leben. Sie ist in den meisten Biographien nicht sichtbar. Auch wenn oft gesagt wird, die „Frage nach Gott offen halten“, sie wird gelebt, aber vermutlich wo ganz anders.
Permanente Verhinderung von Bildungsgerechtigkeit.
Kraft für Neues „aus dem Glauben“ wird bei Mary Ward (1585-1645) so sichtbar. Ihr Ziel war, „wie die Jesuiten“ Mädchen zu unterrichten. Sie möchte eine Gemeinschaft dafür gründen, die den Namen Jesu tragen soll. Nach dem Vorbild der Jesuiten will sie sich frei von der Klausur für das Wohl und Heil der Menschen einsetzen, nur dem Papst unterstehen, und die Gemeinschaft soll von einer Generaloberin geleitet werden. Ihre Lebensgeschichte ist geprägt von zahllosen Konflikten mit Klerikern, Jesuiten, mehreren Päpsten, Verboten, Gefängnis. Unterstützung erfährt sie von gleichgesinnten Frauen, die mit ihr in den Schulen arbeiten, die sie gründet. Besonders in süddeutschen Städten von Fürsten bzw. Stadtregierungen werden sie als nützlich und unterstützenswert anerkannt.
Im Rückblick zeigt ihr Leben die permanente Verhinderung von „Bildungsgerechtigkeit“ durch kirchliche Autoritäten. Dabei sah sie sich in ihrer Glaubensanschauung völlig selbstverständlich beauftragt, dafür zu sorgen, für junge Frauen Schulen zu schaffen, damit sie durch Bildung ein welttaugliches geistliches Leben führen können. Über dreihundert Jahre sollte es dauern, bis die Mary-Ward Schwestern, früher „Englische Fräulein“, die Erlaubnis bekamen, den Konstitutionen des Jesuitenordens zu folgen: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war es 1978 Pedro Arrupe, der dies genehmigte.
Kirchenlehrerinnen – was lehren sie wen?
Als Konsequenz des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Aufgabe, ein neues Verhältnis zur eigenen Geschichte zu entwickeln, ernannte Papst Paul VI. Teresa von Avila (und Caterina von Siena) 1970 zur Kirchenlehrerin. Seit 1295 gibt es den Titel Kirchenlehrer. Nach 700 Jahren nun also Frauen!
Die Erwägungen einer so „unverdächtigen“ Stimme wie der Edith Steins, die 1998 heiliggesprochen wurde, erstaunte das Seminar, als wir lasen, dass sie bereits in den 1930er Jahren geschrieben hatte: „Im heutigen Kirchenrecht kann zweifellos von einer Gleichstellung der Frau mit dem Mann nicht die Rede sein, da sie von allen geweihten Ämtern ausgeschlossen ist. […] Es wird naiv übersehen, dass die Kirche eine Geschichte hat, dass sie ihrer menschlichen Seite nach wie alles Menschliche von vornherein auf Entwicklung angelegt war und dass sich diese Entwicklung häufig auch in der Form von Kämpfen abspielt.“8
Warum werden die Kämpfe nicht erzählt? Wenigstens als Erneuerungsprozesse des Glaubens, der ja immer auf Herausforderungen in der Zeit reagiert, „sich bewährt“? Gerade im eigenen Glauben findet Neuwerden / Bekehrung statt. Tut Buße etc. nannte Luther dies. Im Rückblick war vielleicht erwartbar, dass nun auch die gesellschaftliche Wirklichkeit der Frauen zu einem neuen kirchlichen Verständnis von ihnen führen würde, wie es im Wandel der kirchlichen Soziallehre durchaus möglich war.9 Statt dessen begann etwa 1979 ein rollback der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, gipfelnd im Diskursabbruch 1994 zum Thema der Frauenordination.
Jetzt wäre Gelegenheit, ein neuerliches Lehrschreiben vorzubereiten, das 2024 zum dreißigsten Jahrestag erscheinen könnte, um den Abbruch zu lösen. Ich stelle mir vor, es könnte tricesimo anno heißen und mit einer Vergebungsbitte für die kirchlich verankerte Erbsünde des Sexismus10 beginnen. Ad experimentum subito könnte es die Ordination von Frauen ermöglichen, wo es welche gibt, die von ihren Gemeinden als priesterlich wirkend angesehen werden. Damit könnte man zeigen, dass man richtig schnell geworden ist, im Vergleich zu den vierzig Jahren, die die soziale Gerechtigkeit des Pius XI. 1931 im Rückgriff auf Rerum novarum 1891 gebraucht hat, um die veränderte Situation schon anzuerkennen.
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Christine Funk, Dr., Professorin für Systematische Theologin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin (KHSB).
Bild: https://www.congregatiojesu.de/gemeinschaft/unsere-geschichte/geschichte-mary-wards/gruendung-neapel
- Vgl. Rudolf Englert, Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallgeschichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern22019. ↩
- Vgl. Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 1/ 2023. ↩
- Vgl. Michel de Certeau, Das Elend der Theologie, in: ders., Glaubensschwachheit, Stuttgart 2009, S. 207-213, S. 212. ↩
- Vgl. Johann Baptist Metz, Theologie als Biographie. Eine These und ein Paradigma, in: Concilium 5/1976, 311-315. ↩
- Miranda Fricker, Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, München 2023. ↩
- Vgl. Teresa von Avila, Das Buch meines Lebens 13.16ff, Freiburg i.Br. 72013, S.214. ↩
- Vgl. ausführlich dazu: Michel de Certeau, Mystische Fabel, Berlin 2010, S. 305ff. ↩
- Zitiert nach Waltraut Herbstrith, Teresa von Avila die erste Kirchenlehrerin, Bergen-Enkheim 1971, S.22. ↩
- Vgl. Marie-Dominique Chenu, Kirchliche Soziallehre im Wandel, Luzern 1991. ↩
- Rosemary Ruether, Sexismus und die Rede von Gott, Gütersloh 1985. ↩