Religiöse und kirchliche Symbole, Bilder und Begriffe verschwinden, werden vergessen, nicht mehr verstanden oder tauchen an ungewohnter Stelle wieder auf. Wie kann dieser Prozess kulturwissenschaftlich gedeutet werden? Von Jan Loffeld.
Kürzlich unterhielten sich im Belgischen Biercafé in Utrecht, das in einer der ehemaligen Innenstadtkirchen untergebracht ist, junge Leute über die noch an den Wänden verbliebenen Heiligenfiguren von Willibrord und Bonifatius. Der eine müsse Mohammed sein, den anderen kenne man nicht. Eine ähnliche Geschichte ereignete sich vor einigen Jahren in einer Kirche in Ostdeutschland. Während der Kirchenbesichtigung einer Schulklasse erschrak eine Schülerin: „Wer ist denn der nackte Mann da oben am Kreuz?“
„Wer ist denn der nackte Mann da oben am Kreuz?“
Die religiös-säkularen Orientierungstypen der aktuellen KMU VI[1] lassen sich auch danach unterscheiden, inwieweit Menschen überhaupt noch eine substanziell-religiöse Sprache in Symbolen, Metaphern, Worten und Bildern sprechen bzw. verstehen.[2] Religiöse und kirchliche Codes bzw. ihr Gebrauch und Verstehen verschwinden immer deutlicher im Vergleich der Typen untereinander sowie im diachronen Vergleich mit anderen Studien durch das schnelle Driften zu den „Säkularen“ (56%) hin, wobei auch das Mindset von 9% der „Distanziert Kirchlichen“ bereits als säkular bezeichnet werden kann. Letztere beiden Gruppen bilden zudem die jüngsten Kohorten.
Der ehemalige Nimweger Praktische Theologe Hans van der Ven schreibt dazu schon 1993: „Religiöse Codes befinden sich im Bewusstsein der Menschen, zumindest in dem Ausmaße, wie die religiöse Tradition hierin ihren Niederschlag gefunden hat. Verschwinden sie daraus, dann verschwindet auch die Möglichkeit des Erlebens und Verstehens von religiösen Zeichen.“[3] Eine Allensbach-Untersuchung hat diesen Prozess für Deutschland 2021 untersucht und analysierte einen Dreischritt: Nach dem Aufgeben substanziell religiöser Überzeugungen und einem eventuellen Kirchenaustritt ist die christliche Kulturtradition dasjenige, was noch am längsten gekannt und geschätzt wird. Der Abschied hiervon ist der letzte Schritt der Distanzierung.[4]
Noch am längsten bekannt: die christliche Kulturtradition
Aber auch dieser ist, wie zuletzt die KMU VI gezeigt hat, in vollem Gange und wird zugleich derzeit kirchlich noch forciert. Ein schönes Beispiel für diese Prozesse lässt sich alle Jahre wieder an Weihnachten beobachten: Die alten, christlichen Weihnachtslieder werden noch gekannt, doch – etwa in Stadien in Köln oder Berlin – immer mehr durch andere Texte bzw. Songs überlagert. Ähnliches lässt sich schon länger in der Sakramentenkatechese oder der Kasual-, besonders der Trauerpastoral erleben: Traditionen brechen ab, werden schnell durch Anderes ersetzt und religiöse bzw. liturgische Sprachcodes nicht mehr gekannt. Gleichzeitig werden religionspädagogisch Konfessions- und Religionslosigkeit zum „Normalfall“.[5]
Wie kann man diese Prozesse kulturwissenschaftlich deuten? Aleida Assmann hat vor einiger Zeit innerhalb eines sehr lesenswerten Bandes über kulturelle „Formen des Vergessens“ nachgedacht.[6] Sie prägt hier unter anderem den Begriff des „Verwahrensvergessens“: „Zwischen dem aktiven Erinnern und dem vollständigen Vergessen gibt es noch eine Zwischenstufe: das Verwahrensvergessen, das ich mit der Existenzform im Archiv gleichsetze. […] Die Archivmaterialien befinden sich sozusagen in einem Purgartorium zwischen dem Inferno des Vergessens und dem Paradiso des Erinnerns; sie warten darauf, dass Spezialisten, Journalisten oder Künstler kommen, die in diesem Fundus Ausgrabungen machen, etwas entdecken und es ins allgemeine Bewusstsein zurückholen. Das tun sie, indem sie es in einen neuen Kontext stellen und für die Gegenwart mit neuer Bedeutung aufladen.“[7]
Das „Verwahrensvergessen“ (Aleida Assmann)
Diese Prozesse des Erinnerns dessen, was das kulturelle Gedächtnis ins Archiv des Verwahrensvergessen abstellt, sind hoch instruktiv, will man eine Gegenwartsbeschreibung des postkonfessionellen Christentums inmitten säkularisierter – also die christlichen Codes vergessenden – Kulturen versuchen. Denn auch das Erinnern findet statt, ähnlich wie es Assmann beschreibt. Es geschieht freilich bisweilen zynisch und sarkastisch, was man aufgrund der aktuellen und langen kirchlichen Schuldgeschichte sicherlich niemandem verdenken kann. Manche neurechte politische Bewegungen erinnern sich an die Rede von einem „christlichen Abendland“ und instrumentalisieren diese für ihre fremdenfeindliche Agenda. Aber Erinnerung passiert auch konstruktiv. Vermutlich dort, wo das Verwahrensvergessen bereits stärker beansprucht ist, umso mehr.
Vier Beispiele unkonventioneller Erinnerung
- Im schwedischen Nationalmuseum in Stockholm wird eine Ausstellung mit christlicher Kunst eröffnet. Man bittet zur Ausstellungseröffnung einen katholischen Pfarrer, damit er in die Bedeutung und den Entstehungshintergrund der Kunstwerke einführt, da sie von den meisten Besucher:innen nicht mehr „gelesen“ werden können.
- Ein zweites Beispiel ist prominent: The Passion, das cineastische Aufführen der Passion Christi in der Karwoche als TV-Event vor einer aktuellen Innenstadtkulisse. Seit einigen Jahren in England und den Niederlanden mit sehr großer Zuschauerzahl praktiziert, wird sie 2024 zum zweiten Mal in Deutschland, diesmal in Kassel, aufgeführt.[8]
- In der Katharinenkathedrale in Utrecht wird über Weihnachten 2023 durch das benachbarte Museum für religiöse Volkskunst eine sehr große neapolitanische Krippe aus dem 18. Jahrhundert ausgestellt, die Szenen der Weihnachtsgeschichte vor Utrechter Grachtenhäusern darstellt.[9] Der Zugang ist kostenfrei, allerdings durchläuft man vor dem Eingang zur Kathedrale einen kleinen Parcours im Museumsinnenhof, bei dem den Besucher:innen die christliche Weihnachtsgeschichte auf innovativ künstlerische und zeitgenössisch ansprechende Weise nahegebracht wird. Eine Museumsmitarbeiterin, die hierfür mitverantwortlich war, sagt, es ginge ihnen vor allem um eine „religiöse Kundigkeit“.
- Pfarrer:innen der Rotterdamer Zentralkirche „Laurenskerk“ laden zu Abenden ein, an denen die „großen Geschichten“ erzählt werden sollen. Historische Kunstwerke werden mit der dahinterliegenden biblischen Geschichte verbunden, „die Sie vielleicht von Bildern, aus Filmen, der Reklame oder Parodie noch kennen“. Aber, so schreiben sie weiter: „Was haben sie zu bedeuten?“ Vor allem: „Hast Du heute noch was davon?“
Es ließen sich sicherlich noch weitere Erfahrungen, etwa aus dem Ritualsektor, besonders von den „Disaster Rituals“, nennen. Ein weiterer Bereich ist der digitale Raum, insbesondere das Gaming. Was an diesen Formen des sporadischen und sehr diversen Erinnerns interessant ist: Sie transformieren die Rolle von Kirche und Pastoral auf fundamentale Weise. Bei The Passion sitzen die Kirchen allenfalls mit am Tisch, sie sind aber nicht mehr Ausrichterinnen. Bei anderen werden sie explizit in ihrer Erinnerungs- und Erzählkompetenz angefragt bzw. bringen diese ein.
Was es seitens der Kirche(n) bräuchte
Diese Beispiele zeigen: Die Narrationen, für die das Christentum steht, können auch heute noch `funktionieren´, das heißt, sie können Menschen helfen, ihr Leben zu deuten, indem sie ihre kleinen Geschichten mit größeren verweben. Letztere „gehören“ allerdings nicht mehr allein den Christ:innen bzw. Kirchen. Diese werden allenfalls dafür angefragt, ihre existentiellen Erfahrungen mit diesen Geschichten zu teilen, zu erinnern und sie auf heilsame Weise zur Verfügung zu stellen. Und das, ohne dass es zwingend kirchen- oder religionssoziologisch signifikant zu Buche schlägt.
Um für solche sporadischen Erinnerungsräume zur Verfügung zu stehen, bräuchte es mindestens zweierlei: Eine Kirche, die ihre eigenen Kommunikations- und Narrationsstörungen bearbeitet, vor allem aber den Mut und den Willen hat, dort innovativ und kreativ zu erzählen, wo es innerhalb säkularer Logiken verstanden werden will: eine schöne Agenda für eine Kirche, die sich künftig bewusst und gewollt als eine inklusive und schöpferische Minderheit verstehen möchte.
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Jan Loffeld ist Professor für Praktische Theologie an der Tilburg School of Catholic Theology in Utrecht. Er ist unter anderem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der KMU VI. Im Februar erscheint sein Buch: „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz“.
Beitragsfoto: Kamil Szumotalski / unsplash.com
[1] Vgl. zur Methodendiskussion: F. Friedrichsen-Wendt/J. Wischmeyer/E Wunder, Wie hältst Du`s mit der methodischen Sorgfalt? https://zeitzeichen.net/node/10867; sowie den schönen Essay zu Weihnachten im Kontext der KMU: Adventskranz oder Weihnachtsbaum? Präzise Zeitdiagnosen sind wichtig, nicht nur beim Weihnachtsschmuck: https://zeitzeichen.net/node/10910
[2] Vgl. Wie hältst Du`s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2023, 19-25, 32.
[3] J. A. van der Ven, Ecclesiologie in Context, Kampen 1993, 105. (Übersetzung JL)
[4] T. Petersen, Gehört das Christentum noch zu Deutschland?, in FAZ (22.12.21) (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/christen-vielleicht-keine-mehrheit-mehr-abkehr-der-kulturtradition-17695452.html 1).
[5] Vgl. U. Kropac/M. Schambeck (Hg.), Konfessionslosigkeit als Normalfall. Religions- und Ethikunterricht in säkularen Kontexten, Freiburg/Brsg. 2022.
[6] A. Assmann, Formen des Vergessens 52020 (2016).
[7] Ebd. 40f. Vgl. parallel zu Assmann auch: DFG-Netzwerk Kommunikationswissenschaftliche Erinnerungsforschung (Hrsg.), Handbuch kommunikationswissenschaftliche Erinnerungsforschung, Berlin 2023; sowie: L. Radonic/H. Uhl (Hg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs, Bielefeld 2016; H. Blume/E. Großegger (Hrsg.), Inszenierung und Gedächtnis, Bielefeld 2014.
[8] Vgl. M. Klomp, Re-Staging the Passion after the Death of God, Leiden/Boston 2021. Generell zur Popularität der Passionserzaählung in den Niederlanden: E. v. d. Hemel, Passie voor de Passie. De Matthäus, The Passion en andere passiespelen in ontkerkelijkt Nederland, Utrecht 2020.
[9] https://www.catharijneconvent.nl/tentoonstellingen/zininkerst/
- 09.22 ↩