Der katholische Moraltheologe Stephan Ernst legt ein Grundlagenwerk zur Medizinethik vor. Dabei geht er neue Wege. Eine Rezension von Markus Zimmermann.
Er ist ein Querdenker mit thematischer Weite und inhaltlichem Tiefgang, der Würzburger Moraltheologe Stephan Ernst. Doktoriert hat er im Fachbereich Dogmatik, habilitiert in der theologischen Ethik, er ist ausgewiesener Experte für Mittelaltertheologie und beschäftigt sich seit Jahren mit fundamentalmoralischen sowie bereichsethischen Fragen.
Nun hat er eine umfangreiche Grundlegung der Medizinethik vorgelegt, in welcher er einen von seinem Lehrer Peter Knauer SJ übernommenen, häufig als „Proportionalismus“ gescholtenen Ethikansatz weiterdenkt und bei heiklen Fragen betreffend Lebensende und Lebensanfang zur Anwendung bringt. Das Resultat ist lehrreich, anregend und weiterführend. Wenngleich die Lektüre anstrengend ist und Geduld erfordert – der Autor widersteht allen Versuchungen zur Emotionalisierung und Dramatisierung, für die sich Themen wie die Suizidhilfe oder der Schwangerschaftsabbruch besonders gut eignen würden –, sind seine Argumentationswege verblüffend stringent und führen nicht selten zu anderen Einschätzungen als beim katholischen Lehramt. Die konsequente Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit tritt bei Stephan Ernst sozusagen an die Stelle naturrechtlich begründeter, autoritativer Instruktionen und Verbote.
Proportionalismus statt Naturrecht
Der Aufbau der „Grundfragen“ ist einfach: Einer kurzen Einführung folgen ein ausführlicher erster Teil mit der Erläuterung des Grundprinzips der Verhältnismäßigkeit, ein zweiter Teil zu ethischen Fragen am Lebensende und ein dritter zu ethischen Herausforderungen am Lebenbeginn. Das Buch bietet einen hilfreichen Anhang mit Sach- und Namensregistern, doch leider fehlt ein Ausblick, so dass die Ausführungen relativ abrupt mit Überlegungen zur genetischen Editierung menschlicher Embryonen enden. Das Ziel, das der Autor mit seinem Buch verfolgt, ist genauso klar wie anspruchsvoll: Er möchte „(…) die lehramtliche Morallehre mit der Realität wissenschaftlicher, in diesem Fall medizinischer Forschung und Praxis, aber auch mit philosophischen, theologischen, juristischen und gesellschaftlichen Positionen sowie ganz einfach auch mit dem wirklichen Leben selbst (…) konfrontieren und in einen Dialog (…) bringen.“ (S. 11)
Diesen Anspruch löst er im ersten Teil (S. 29–82) auch gleich ein, indem er seinen Ansatz der Verhältnismäßigkeit diskursiv einbindet in eine Darstellung und Kritik der weltweit rezipierten Prinzipienethik der beiden US-Amerikaner Tom Beauchamp und James Childress. Er stellt die vier Prinzipien des genannten Ansatzes kurz und kritisch dar, also Autonomie-, Nicht-Schadens-, Wohltuns- und Gerechtigkeitsprinzip, und rekonstruiert sie dann aus Sicht seines eigenen Ansatzes. Für den Autor ist verantwortliches Handeln immer dann gegeben, wenn das angezielte Gut, etwa die Wiederherstellung der Gesundheit, die dabei zugefügten Übel rechtfertigen kann, ein zugefügter Schaden also verhältnismäßig ist (S. 46).
Eine Folgenethik, auf der Basis einer Güterlehre…
Seine an dieser Verhältnismäßigkeit ausgerichtete Ethik ist eine konsequentialistische oder Folgenethik, die zudem den Einbezug langfristiger Folgen, die Universalisierung der ethischen Perspektive sowie die Ausrichtung an Gütern beinhaltet. Meines Erachtens liegen Vor- und Nachteil dieses Ansatzes nahe beieinander und sind darin begründet, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip ein rein formales, inhaltsleeres Kriterium ist, dessen Anwendung jedoch nicht voraussetzungslos ist. Vielmehr ist dieser Ethikansatz gekennzeichnet von einer Güterlehre oder Axiologie, setzt beispielsweise die Wertschätzung der Wahrhaftigkeit oder des menschlichen Lebens voraus (S. 55 und 140). Es liegt auf der Hand, dass dieser axiologische Aspekt gerade bei heiklen Fragen rund um die Interpretation des Tötungsverbots am Beginn und Ende des menschlichen Lebens, aber auch bei Gerechtigkeitsfragen, eine eminent wichtige Rolle spielt.
Konkret wird dies zunächst in der ausführlichen Auseinandersetzung des Autors mit schwierigen Entscheidungen am Lebensende und insbesondere dem Tötungsverbot (S. 83–233). Seine Methode ist klar: Zuerst legt er die Gründe dar, welche beispielsweise vom katholischen Lehramt zugunsten eines strikten Verbots der Tötung auf Verlangen vorgetragen werden; anschließend macht er dasselbe mit einschlägigen Argumenten zugunsten einer bedingten Befürwortung der Tötung auf Verlangen, beispielsweise bei Peter Singer. Auf dieser Basis präsentiert er in einem dritten Schritt gleichsam eine die Verhältnismäßigkeit wahrende, vermittelnde Position und deren Begründung und möchte dabei beiden Positionen auf verantwortliche Weise gerecht werden (S. 123). Zunächst erinnert er an die traditionellen Ausnahmen vom Tötungsverbot und daran, dass das menschliche Leben ein grundlegendes, jedoch nicht absolutes Gut darstellt.
…erlaubt eine vorsichtige Öffnung in heiklen Fragen
Im Anschluss daran erörtert er seine Schlussfolgerungen für die Sterbehilfe-Diskussion, macht einen langen Anlauf über Entscheidungen zum Behandlungsverzicht bis zur indirekten Sterbehilfe, erinnert an die alternativen Möglichkeiten einer palliativen Behandlung und kommt dann endlich zur Frage der Tötung auf Verlangen: Hier vertritt er die Position, dass Ausnahmen denkbar seien, in welchen der Wunsch eines schwer leidenden Menschen, sein Leben zu beenden, nicht als ein Mord, sondern als Erlösung von einem unerträglichen Leid verstanden werden könne. Offen sei dann jedoch die Frage, wie sich solche Ausnahmen gesetzlich sinnvoll regeln ließen, ohne Gefahr zu laufen, dass es wie in den Niederlanden zu einer unerwünschten Ausweitung kommt. Auf ähnliche Weise vorsichtig bejahend taxiert er auch den assistierten Suizid. Klar ist: mit diesen theologisch-ethischen Argumentarien eröffnet der Autor neue Grundlagen für kontroverse Debatten, die bereits heute, sicherlich aber auch in den kommenden Jahren weltweit geführt werden.
Ganz ähnlich ist sein Vorgehen mit Blick auf Fragen am Lebensanfang (S. 234–388). Aus der Fülle der hier dargelegten ethischen Argumentarien, rechtlichen Regelungen und politischen Entscheidungen betreffend Embryonen- und Stammzellforschung, Reproduktionsmedizin, Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik und Genome Editing möchte ich nur eine kurze Passage erwähnen, nämlich die ethische Begründung zugunsten der Schwangerschaftskonfliktberatung, welche die katholische Kirche für die eigenen Beratungsstellen in Deutschland verboten hat.
Ein Lehrbuch und ein Statement zugleich
Aus dem Bedürfnis, so der Autor, sich die Hände nicht schmutzig zu machen, nehme die Kirche damit eine Verschlechterung des Lebensschutzes in Kauf, denn auf diese Weise werde verhindert, dass Frauen sich aufgrund einer guten Beratung durchaus auch gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden würden (S. 327). Damit liefert der Autor ein schönes Beispiel für die Anwendung seines Verhältnismäßigkeitsprinzips: Wird ein Gut wie das menschliche Leben auf die Dauer und im Ganzen eher gefördert als gefährdet, ist eine entsprechende Handlung aus Sicht der Verhältnismäßigkeit ethisch gerechtfertigt.
Das Buch erfüllt gleich mehrere Funktionen: es ist ein Lehrbuch, bietet einen eigenständigen Ethikentwurf und ist Vermittlungs- und Diskussionsangebot für anstehende Debatten und Streitgespräche, innerkirchlich wie gesellschaftlich. Der Autor formuliert im Buch unzählige Fragen, von denen er viele beantwortet, eine ganze Reihe aber auch offen lässt und zur Diskussion stellt. Die deutschsprachige Medizinethik wird um dieses Buch nicht herumkommen. Für einige mag es Stein des Anstoßes, für andere in seinen Vorschlägen zu vorsichtig sein. Unabhängig davon ist dem Buch eine möglichst breite Rezeption zu wünschen.
—
Prof. Markus Zimmermann lehrt Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg, Schweiz. Bild: Alfred J. Hahnenkamp – pixelio.de