Die Menschheit befindet sich in einer entscheidenden Dekade. Noch nie hat eine Zeit so viel Einfluss auf Künftiges genommen. Heute getroffene Entscheidungen werden massiven Einfluss auf unsere Zukunft nehmen. Eva Maria Daganato und Julia Hofmann über Naturbewusstsein, Schöpfung und globale Verbundenheit im Anthropozän.
Extraktivismus als globales Modell
Der Klimawandel schreitet weltweit voran: Biodiversität schwindet, Mensch und Natur kämpfen ums Überleben. Dennoch gehen die Menschen nicht sonderlich fürsorglich mit der Natur um. Auf die Spitze getrieben wird das durch plündernden Extraktivismus, der auf intensive Förderung und den Export von unverarbeiteten Rohstoffen setzt. Das führt meist zur staatlichen Abhängigkeit von Nachfrage und Preis auf dem Weltmarkt.
Im Zentrum der Kritik steht nicht die pauschale Ablehnung von Rohstoffgewinnung. Plündernder Extraktivismus muss jedoch überwunden und durch behutsamen ersetzt werden. Westlicher Fortschritts- und Wachstumsglaube führt zu einem Verständnis von Natur als auszubeutendes Objekt. Damit verbunden sind Macht- und Herrschaftsmuster, die erkannt und hinterfragt werden müssen.
Globale und Planetare Perspektiven
Dies knüpft an eine Dekolonisierung europäischen Wissens an. Dipesh Chakrabarty spricht sich etwa für die Provinzialisierung Europas aus, da Europa nicht Mittelpunkt der Geschichte ist, sondern nur ein Teil davon. Chakrabarty zeigt in diesem Zusammenhang zwei Perspektiven auf menschliches Dasein auf: Die „globale“ Perspektive wiegt die Menschheitsgeschichte in Sicherheit, da der Mensch aus dieser Perspektive die Welt erschaffen hat und sich in dessen Zentrum stellt. Darüber hinaus führt Chakrabarty die „planetarische“ Perspektive ein, indem er anerkennt, dass der Mensch nützlich für den Planeten und ein Produkt des Planeten ist, aber nicht das Ende der Geschichte. Die Erfahrung des heideggerschen Geworfenseins in den Abgrund eines tieferen Zeitverständnisses, der „deep history“, ist nach Chakrabarty ein Ausgangspunkt, die Erde nicht nur als menschlichen Wohnort zu betrachten, sondern sie in ihrer planetarischen Andersartigkeit anzuerkennen.[1]
Provincializing Humanity
Chakrabarty beschreibt im Austausch ein Abhängigkeitsverhältnis des Menschen: „We depend on the planet, but the planet does not depend on us.”[2] Der Mensch hängt vom Planeten ab. Dennoch bleibt der Planet von menschlichen Einflüssen nicht unberührt.
„What is the human being today? Question of being!“[3] In den Mittelpunkt stellt Chakrabarty die Frage des menschlichen Daseins und danach, wie sich das Leben auf der Erde durch den Menschen veränderte und welcher Änderungen es bedarf, um die Erde zu erhalten. Der Mensch profitiert von ihr und bildet außerdem die Minderheit aller Lebensformen. Chakrabarty plädiert dafür nicht nur Europa zu provinzialisieren, sondern die Menschheit im Ganzen.
Um extraktivistischen Bestrebungen entgegenzuwirken, setzt sich Riccarda Flemmer, Professorin für „Political Struggles in the Global South”, in ähnlicher Weise dafür ein, die Rechte der Natur anzuerkennen, da der Mensch Teil der Natur sei und nicht an ihrer Spitze stehe. Daraus könne eine „ethics of care, interspecies ethics“ entstehen.
Auswirkungen von Extraktivismus zeigen sich weltweit. Eine besonders betroffene Region ist der Amazonas Regenwald, der als „grüne Lunge“ essenziell für das Erdklima ist. Vorstellungen indigener Völker, des Staates und großer Investoren im Bereich Bergbau und Ölindustrie treffen aufeinander. Es kommt zum Kampf um bewohntes Terrain. Zum Beispiel dringen Ölkonzerne in die Amazonasregion ein und verschmutzen das Wasser durch Rückstände des Rohstoffabbaus. Die Folgen sind fatal: Die Biodiversität schwindet, Mensch und Natur kämpfen ums Überleben.
Naturbeziehungen – was uns der Amazonas lehrt
Patricia Gualinga, Menschenrechtsaktivistin und Verfechterin der Rechte der indigenen Kichwa-Gemeinde Sarayaku in Ecuador war im September zu Gast in Deutschland. Wir hatten die Chance, sie und die Grupo del Iglesias y Minería zu treffen und in den Austausch zu treten.
Mit dem Ausspruch „Yo soy natura“ lädt Patricia Gualinga zur Reflexion unseres Naturverständnisses ein. „Ich bin Natur“ verbindet die menschliche Identität mit der natürlichen Umgebung: Berge, Flüsse, Tiere. Alles hat einen Geist, eine Seele, und kommuniziert miteinander. Der Mensch ist in die Kommunikation des Lebens eingefasst. Die Sarayaku Gemeinschaft hat neben einem eigenen Lebensplan einen ontologischen Vorschlag: Kawsak Sacha – Der lebendige Regenwald. Der Wald soll als lebendiges Wesen mit eigenen Rechten anerkannt werden. Dieses Naturverständnis ist im Leben der Menschen alltäglich und wird ganz bewusst gelebt: „Die Natur hat keinen Preis, aber einen Wert und ich bin Natur.“
Der Regenwald als lebendiges Wesen mit eigenen Rechten
Hingegen geht es bei Ressourcenausbeutung immer um vergessene Naturverbundenheit. Menschen setzen sich über die Natur hinweg, vergessen, dass sie Natur sind und zerstören sich selbst durch ihre Erhabenheitsgedanken. Dabei gilt es nicht binäre Grenzen zwischen indigenen und westlichen Vorstellungen zu ziehen. Vielmehr sollte mit dem Konzept des Pluriversums „a world of many worlds“ – eine Welt, in die viele Welten passen – geschaffen werden.
Über Erzählungen zum Naturverständnis beschreibt die Grupo del Iglesias y Minería[4] Lebensrealitäten indigener Bevölkerung im Amazonas: „Die Mutter (Natur) wird wütend, wenn sich jemand mehr nimmt, als er braucht.“ Das Netzwerk „Kirchen und Bergbau“ umfasst elf südamerikanische Länder und begleitet Gemeinschaften, die von Extraktivismus betroffen sind. Gemeinsam reagieren sie auf Verletzungen der Umweltrechte, die durch Bergbau verursacht werden. Durch Extraktivismus entsteht ein Ungleichgewicht zur Natur, der Fluss als Lebensgrundlage vieler wird verschmutzt und vergiftet. Aufgrund des Goldabbaus, der nur mit Quecksilber möglich ist, erleiden vor allem Kinder Vergiftungen.
Auch Menschen des globalen Nordens und die akademische Welt müssen Verantwortung übernehmen.
Die Mitglieder der Grupo finden sehr deutliche, aufrüttelnde Worte: „Wer hat das Recht dazu, einfach herzukommen und unseren Fluss zu verschmutzen? […] Was bedeutet Fortschritt? Das Überschreiten von Menschenrechten!“ Angesichts eines lebensvernichtenden Systems fordert die Grupo del Iglesias y Minería Menschen des globalen Nordens auf, für die Natur Verantwortung zu übernehmen. Den Schrei von Erde und Menschen gilt es zu hören und darauf zu antworten. Weltweit müssen Menschen sich im privaten und beruflichen Bereich angesprochen und herausgefordert fühlen. Denn auch im heutigen Wissenstransfer würde nach Guilherme Cavalli, Koordinator des Netzwerkes, seit 500 Jahren anhaltende koloniale Unterdrückung über akademische Publikationen sichtbar. Auch die akademische Welt ist angehalten, die Komfortzone zu verlassen: Auch wir müssen uns immer wieder fragen, welches Wissen wir haben und verbreiten.
Ansätze einer postkolonialen Schöpfungstheologie
Hier kann der christliche Glaube anknüpfen: Alles ist Geschaffen, ein Geschenk und Gabe. Theologisch lässt sich der Begriff „Mitgeschöpflichkeit“ weiterdenken. Die Erinnerung an Mitgeschöpflichkeit ermöglicht eine neue Beziehung zu anderen Lebewesen. Dabei würde ein Wandel menschlicher Selbst- und Weltwahrnehmung vom Anthropozentrismus zum Biozentrismus angeregt. Human und non-human agency gilt es zusammenzudenken.
Schöpfungserzählungen indigener Völker regen zum Überdenken christlich-theologischer Epistemologie und Ontologie an. Wurde im globalen Norden der Zugang zur Natur vergessen? Wie konnte es eigentlich zu dem kommen, wie es ist? Was heißt es, Geschöpf zu sein?
G*tt und Welt stehen im wechselseitigen Prozess.
Uns erscheint es hilfreich unser Denken und Wirken aus der Überzeugung einer „creatio ex profundis“, einer Schöpfung aus der Tiefe und nicht aus dem Nichts heraus zu treiben.[5] Am Anfang war das Chaos, aber G*tt wird nicht als einseitige Macht gesehen, die über das Chaos herrschte und daraus die Welt erschuf: G*tt und Welt stehen im wechselseitigen Prozess. G*tt ruft uns, lockt uns Menschen und lädt dazu ein, in diesem Prozess Verantwortung zu übernehmen, Verbindungen zu suchen, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Neue Solidarität kann entstehen, um gemeinsam zu kämpfen. Für ein Leben in Fülle nicht nur für Viele, sondern für Alle – Menschen, Tiere, Natur.
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[1] Chakrabarty, Dipesh, The Human Condition in the Anthropocene, The Tanner Lectures in Human Values, Yale 2015, S. 181, S. 183.
[2] Vortrag im Rahmen der Studienwoche „Erinnern im Anthropozän“ der Akademie Rottenburg Stuttgart unter der Leitung von Barbara Janz-Spaeth, Verena Wodtke-Werner, Fana Schiefen, Sebastian Pittl.
[3] Vortrag im Rahmen der Studienwoche „Erinnern im Anthropozän“.
[4] https://iglesiasymineria.org/
[5] Keller, Catherine, Creatio ex profundis. Chaostheorie und Schöpfungslehre, in: Evang. Theol. 69/5 (2009), S. 356–366, S. 363.
Bildnachweis: Eva Maria Daganato (Logo der Grupo del Iglesias y Minería)
Eva Maria Daganato ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Praktische Theologie (kath.) an der Universität Tübingen.
Julia Hofmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Frühkindliche Bildung am Katholischen Institut für Berufsorientierte Religionspädagogik (KIBOR) der Universität Tübingen.