Zwanglose soziale Macht, basierend auf Zustimmung – wie geht das? Marco A. Sorace hat ein spannendes Theorieangebot: die theologisch noch kaum rezipierten Gefängnishefte des berühmten italienischen Linksintellektuellen Antonio Gramsci.
Antonio Gramsci (1891-1937) – Gründergestalt des Kommunismus in Italien – avancierte spätestens seit Beginn der 1990er Jahre zu einem weltweit ungemein stark rezipierten Politik- und Kulturtheoretiker. Vor allem in seinen sogenannten „Gefängnisheften“ (Quaderni del carcere)[1] erkannten die Vertreter jenes Neogramscianismus die Anlage einer universalen Theorie der Macht, die somit auch bezüglich der in den letzten Jahren stärker ins Bewusstsein gerückten kirchlichen Machtausübung greifen sollte.
Hinzu kommt, dass für derzeitige theologische Diskurse sehr relevante sozialphilosophische Positionen, wie etwa die von Michel Foucault oder Judith Butler, entscheidend von Gramsci beeinflusst wurden.
Ausnahme Befreiungstheologie
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verwunderlich, dass man in Theologie und Kirche – mit Ausnahme der Befreiungstheologie in Lateinamerika[2] – Gramscis Ansatz bislang kaum zur Kenntnis genommen hat. Dies gilt um so mehr, da einerseits die katholische Kirche in den Gefängnisheften eines der großen Themen ist (der Registerband der deutschsprachigen kritischen Edition notiert auf drei Seiten dazu fast unzählige Einträge; vgl. GH 10, S. 65-67) und da andererseits Gramsci unter den marxistischen Denkern ausdrücklich dafür bekannt ist, dass er, eine marxistisch-positivistische Religionskritik strikt ablehnend, Religion und Christentum wegen ihres utopischen, gesellschaftsgestaltenden Potenzials ausdrücklich geschätzt hat.
Im Folgenden soll lediglich angedeutet werden, wie man mit Gramsci aktuelle Krisenphänomene der Kirche verstehen und womöglich auch überwinden kann. Vom Verfasser entsteht derzeit eine umfangreiche Studie zu diesem Thema.
Zeichen eines gänzlichen „Hegemonieverlustes“ der Kirche
Der wohl prominenteste Begriff der Machtanalyse Gramscis ist jener der „Hegemonie“. Danach bedeutet ‚gute‘ (also: nicht repressive) Hegemonie – kurz gesagt – jene Form der Etablierung einer gesellschaftlichen Macht, die sich nicht zunächst durch Zwang, sondern durch Zustimmung ermöglicht. Für Gramsci galt es traditionell als die besondere Stärke der Kirche, dass es ihr immer wieder gelang, für ihre Deutungsanliegen der kulturellen Gegenwart hegemoniale Strukturen zu bilden.
Hegemonie durch Zustimmung
Als ein historisches Beispiel dafür benennt er etwa die italienische Kultur der Renaissance, für die einzig und allein die Kirche der „Hegemonieapparat“ gewesen sei (GH 4, 7 S. 82). So habe etwa die von Gramsci bewunderte Bewegung der Bettelorden nicht nur den intellektuellen Anliegen der Renaissance und des Humanismus Hegemonie verschafft, sondern auch die frühneuzeitliche Kirche nach innen bestärkt.[3]
Im Gegensatz dazu kann man heute aber allenthalben Zeichen eines gänzlichen kirchlichen „Hegemonieverlusts“ feststellen. Worin liegen die Ursachen dafür und was könnte gegen diesen Verlust getan werden?
Die Kirche müsste das zurückgewinnen, was Gramsci als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet.
Eng mit dem Hegemoniebegriff hängt Gramscis Auffassung der „Zivilgesellschaft“ (società civile) zusammen.[4] Der Ort, an dem die Hegemonie gewonnen oder verloren wird, ist nach Gramsci die Zivilgesellschaft. Damit sind für ihn nicht die Gesamtheit der Verhältnisse einer Gesellschaft gemeint, sondern nur jene Ebene einer nicht governal reglementierten Öffentlichkeit.
Auf eine kirchliche Gesellschaft bezogen ist dies etwa jener Bereich von Spiritualität und Volksfrömmigkeit (letzterer ein Begriff, den Gramsci aus der Erfahrung seiner sardischen Katholizität mit großer Hochachtung behandelte), der nicht unmittelbar auf einer kirchenamtlichen Legitimierung basiert. In diesem Bereich spielen „Alltagsverstand“ (senso comune) und „Alltagssprache“ (lingua comune)[5] die entscheidende Rolle.
Gute zivilgesellschaftliche Hegemonie
Hier sind wir an einem Knackpunkt der gramscianischen Theorie angelangt und auch an einem wichtigen Kritikpunkt von Religion und katholischer Kirche in seiner Zeit: Bei letzterer sah er nämlich das Bestreben, die „einfachen Menschen“ bei einer Art „primitiven“ Auffassung ihres alltäglichen Lebens zu belassen ( … tende a mantenere i „semplici“ nella loro filosofia primitiva del senso comune,… .; GH 6, S. 1383), eine Funktion, die heute andere „Religionen“, wie z.B. diverse Konsumreligionen, weitgehend übernommen haben. Dagegen führt Gramsci in seiner „Philosophie der Praxis“ aus, wie man im Sinne einer guten zivilgesellschaftlichen Hegemonie Alltagsverstand und -sprache moralisch und intellektuell wieder aufbauen könne.
An einem solchen Punkt auch nochmals theologisch und im besten Sinne „reformkatholisch“ anzusetzen, wäre m.E. ungemein fruchtbarer als die vielen, beinahe ins Unerträgliche gesteigerten Kaffeesatzlesereien über die Sprachprobleme der Kirche heute.
„Subalterne“ und „integrale Katholiken“
Wenn ein System – wie derzeit sehr auffällig die katholische Kirche – in eine Krise geraten ist, treten nach Gramsci folgende Phänomene auf: Es wird eine Dimension der „integralen“ Machtausübung sichtbar und das System produziert sozusagen „Subalterne“. Was heißt das?
Der zuletzt genannte Begriff bezeichnet die Untergeordneten, Unterworfenen und bei Gramsci insbesondere auch die, welche aus dem System der Macht ausgeschlossen sind. Etwas schwieriger ist das zu erklären, was er mit dem Wort „integral“ meint. In einer gelungenen Hegemonie spielen eine zivilgesellschaftliche Zustimmung und das Zwingende einer neugeschaffenen Ordnung derart zusammen, dass der Zwang quasi unsichtbar ist.
Integraler Katholizismus produziert Subalterne
Mit „integral“ markiert Gramsci daher häufig das krisenhafte Hervortreten des Zwangs und spricht daher in diesem Sinne auch von „integralen Katholiken“ (z.B. die Anhänger des Syllabus; vgl. GH 3, S. 587). Solche Krisen stellen also das genaue Gegenteil zu jener Entwicklung dar, in der eine Gruppe wirksam die Hegemonie gewinnen kann, Subalternität abgebaut wird und das integrale Moment nicht betont werden muss.[6]
Nun ist die Frage: Wie kann es zu einer neuen Hegemoniegewinnung kommen? Die entscheidende Rolle kommt nach Gramsci dabei dem „Intellektuellen“ zu, wobei es eine ganz zentrale Voraussetzung seiner „Philosophie der Praxis“ ist, dass dieser eigentlich in jedem Menschen zumindest angelegt ist.
Theologinnen und Theologen sollten sich heute alle als „organische Intellektuelle“ begreifen.
Nach Gramsci gibt es in der gesellschaftlichen Realität zwei Typen von Intellektuellen: „traditionelle“ und „organische“ Intellektuelle. Die meisten intellektuellen Theologinnen und Theologen, so darf man annehmen, gehörten und gehören dem ersteren Typus an. Denn während ersterer sich auf einem traditionell bürgerlichen Bildungsverständnis gründet und von dort her von der sozialen Wirklichkeit vermeintlich unabhängige Wahrheiten bedenkt, ist der organische Intellektuelle geistig und existenziell derart mit dem Volk verbunden, dass er ohne das, was ihm von den einfachen Menschen und ihren konkreten Nöten an Kenntnis zuwächst, seine Funktion nicht weiterhin ausfüllen könnte.
Subalterne legen das Evangelium aus
Die Befreiungstheologinnen und Befreiungstheologen haben dies sozusagen theologisch-hermeneutisch umgesetzt, wenn sie sich vornahmen, sich erst von den Armen (den zuvor Subalternen) her das Evangelium auslegen zu lassen. Sie verstanden und verstehen sich als „organische Theologen“[7], deren Aufgabe sich v.a. darin erfüllt, in einer christlichen Zivilgesellschaft eine Hegemonie als eine „Theologie der Praxis und der Inkarnation“ zu organisieren.
Ich denke, alle Zeichen der Zeit stehe gerade so, dass wir heute nicht nur in Lateinamerika, sondern überall Theologen und Theologinnen bräuchten, die sich als organische Intellektuelle und Theologen begreifen.
Dieser Beitrag sollte in der gebotenen Kürze nur einen kleinen Eindruck davon vermitteln, welche chancenreichen Wechselwirkungen es zwischen der Kulturtheorie nach Antonio Gramsci und der Theologie geben kann. Es muss ausführlichen Studien überlassen bleiben, das ganze Potenzial zur Geltung zu bringen.
Dr. Marco A. Sorace ist Studienleiter an der Bischöflichen Akademie Aachen und Habilitand (Pastoraltheologie) an der Universität Innsbruck.
[1] Gefängnishefte (GH). Kritische Gesamtausgabe auf der Grundlage der von Valentino Garratana besorgten Edition, 10 Bde. Hrsg. von Klaus Bochmann, Wolfgang F. Haug u. Peter Jehle. Hamburg: Argument 1991-2002.
[2] Vgl. dazu Gregor von Fürstenberg, Politik und Religion. Die Religionssoziologie Antonio Gramscis und ihre Rezeption in Lateinamerika. Mainz: Grünewald 1997, bes. S. 221ff.
[3] Wobei die Geschichte der Renaissance in den Gefängnisheften sehr kritisch und ambivalent betrachtet wird und es ist für Gramsci ganz konsequent, dass aus den Bettelorden auch auflösenden Positionen – wie etwa jene von Savonarola – hervorgehen (vgl. GH 3, S. 672).
[4] Vgl. dazu Sabine Kebir, Gramsci’s Zivilgesellschaft. Alltag – Ökonomie – Kultur – Politik. Hamburg: VSA 1991. bes. S. 115ff.
[5] An diese zu appellieren, wurde auch vielen Mystikern und z. B. Meister Eckhart vorgeworfen. So räumt man ihm in seinem Inquisitionsprozess ein, dass die meisten seiner Sätze nicht grundsätzlich falsch, aber für den Alltagsverstand der Gläubigen ungeeignet seien.
[6] Es wurde hier auf aktuelle Beispiele verzichtet, die aber jeder Leser für sich (angefangen etwa vom Problem des Klerikalismus bis hin zur kirchlichen Haltung in Gender-Fragen usw.) ergänzen kann.
[7] Vgl. José Francisco Gómez Hinojosa, El intelectual orgánico según Gramsci y el teólogo dela liberación en América latina. In: Cristianismo y sociedad (Zeitschrift), 91/1987, S. 95-109.
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