Eine Kirchengemeinde wagt den Aufbruch in eine konsequente Orientierung am Sozialraum, vernetzt sich und engagiert sich für die Region. Ein Einblick von Joachim G. Cierpka.
Im technisch eigens dafür ausgestatteten Sportraum des Gemeindehauses finden sportliche Aktivitäten und Sturzprävention statt. Ein Sensorboden und eine Kamera machen es dem in der nächsten größeren Stadt anleitenden Physiotherapeuten möglich, jede Bewegung im Raum genau zu kontrollieren und per Bildschirm seine Anweisung zu geben. In Verbindung mit den örtlichen Sportvereinen werden Yogakurse direkt vor Ort angeleitet. Aktuelle Informationen aus allen Bereichen des Gemeindegebiets, auch aus der Kirchengemeinde, sind auf Bildschirmen in den Dorfläden und Cafés neben aktuellen Nachrichten aus aller Welt verfügbar. Mit Hilfe des gemeinsam mit der Firma AVINOTEC entwickelten Kirchenkoffers werden Gottesdienste im Netz übertragen und zum beliebigen Abruf eingestellt.
Kirche als Teil des ‚cognitive village‘
Möglich wird all dies durch das Programm ‚cognitive village‘ der Universität Siegen, an dem auch die Kirchengemeinde beteiligt ist. Ziel ist es, das Internet in einer Weise einzusetzen, dass es Leben auf dem Lande vereinfacht und zugleich attraktiver macht sowie durch schwindende Personal- und Infrastruktur auftretende Defizite ausgleicht. Die im Rahmen des Programms im Gemeindehaus geschulten Senioren machen durchaus Gebrauch von übertragenen Gottesdiensten wie auch von anderen Angeboten.
Wann, wenn nicht jetzt in der Corona-Krise, wäre der Beweis erbracht, dass ganz neue Formen kirchlicher Präsenz und Vernetzung, andere Wege zu den Menschen und neue Formen der Kommunikation unerlässlich sind. Die Evangelische Lukas-Kirchengemeinde im Elsoff- und Edertal hat bereits vor Jahren in vielen Experimenten begonnen, neue Formen kirchlichen Lebens auf dem Land zu entwickeln und zu erproben, die sich gerade jetzt als sehr wertvoll erweisen. Sie zeigen nicht nur die vorhandene, wenn auch nicht immer wahrgenommene Relevanz von Kirche auf dem Land auf, sondern liefern funktionierende Modelle, die auch anderen dienlich sein können.
Relevanz von Kirche erweist sich
Das Gebiet der Kirchengemeinde liegt am südöstlichen Rand Nordrhein-Westfalens (Evangelische Kirche von Westfalen/Kirchenkreis Wittgenstein), an der hessischen Grenze nach Kurhessen Waldeck. Die aus drei Ursprungsgemeinden fusionierten 7 Dörfer sind Ortsteile der Stadt Bad Berleburg. Die Kirchengemeinde umfasst aktuell 2.330 Gemeindeglieder, die teils in den sieben Orten, vielfach aber auch auf Einzelgehöften wohnen. Zwei der Dörfer sind durch die hessische Landesgrenze auch kirchlich geteilt, werden jedoch pastoral durch den Pfarrer der Lukas-Kirchengemeinde mitversorgt. Jede der Ortschaften verfügt über eine Kirche bzw. Kapelle, von denen in sechs Orten auch regelmäßig, zumeist mindestens monatlich, Abend- bzw. Sonntagsgottesdienste stattfinden. Der Lernprozess, Gottesdienste auch außerhalb des eigenen Dorfes zu besuchen, schreitet voran, könnte sich aber noch weiter entwickeln.
Wie vielfach auf dem Lande stellt der demographische Wandel eine Herausforderung dar, mangelt es an der nötigen Infrastruktur: So gibt es nur noch in einem der Dörfer einen Gasthof, Dorfläden sind teils erhalten bzw. reaktiviert worden, jedoch nur in fünf der sieben Dörfer. Der öffentliche Nahverkehr ist neben dem Schulbus auf wenige Verbindungen pro Tag begrenzt.
Ehrenamtliches Engagement in Chören, Heimat- und Schützenvereinen sowie der Feuerwehr prägen das soziale Leben neben der Kirchengemeinde. Allen diese Gruppen sind miteinander vernetzt, aber eben nicht nur auf der Basis von zufälligen persönlichen Verbindungen oder tradierten Strukturen, sondern gezielt gesteuert und planmäßig angelegt.
Gezielt gesteuerte Vernetzung mit anderen gesellschaftlichen Akteur*innen
Man will die Veränderungen, die durch geringere personelle und finanzielle Ressourcen notwendig sind, als Chance für eine Infragestellung der bisherigen kirchlichen Praxis einerseits und als Aufbruch zu neuen Möglichkeiten andererseits verstehen. Ein ‚Klagemodus‘ im Sinne von: „Früher war alles besser, auch die Zukunft!“ (K. Valentin) wird vermieden und wir öffnen uns positiv neuen Handlungsfeldern. Immer wieder entstehen neue Projekte und Experimente. Das Netz vielgestaltiger Kooperationen strickt sich mit akademischer Unterstützung und Impulsen der Universitäten in Siegen und in Bochum.
Ausgangspunkt aller Projekte ist die Grundüberzeugung, mit der bereits der damalige Pfarrer Dr. Ralf Kötter ab dem Jahr 2010 den Prozess begonnen hat, dass eine ‚Kirche für Andere‘ (Bonhoeffer) für alle Bereiche der Gesellschaft Relevanz besitzt und somit zugleich zentrale Netzwerkerin, Kirche in der Mitte der Gesellschaft sein kann. Ausgehend von Bonhoeffers Gedanken der ‚Bundesgenossenschaft in der einen Wirklichkeit‘ , der christologisch begründeten Einheit von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit, wird immer wieder aufs Neue ein Aufbruch in neue Formen und ungewohnte Felder praktiziert. Dabei darf manches auch Werkstatt-Charakter haben: Lebens- und Gestaltungsformen stehen wiederholt auf dem Prüfstand, es entsteht ein dialogischer und dynamischer Prozess.
Kirche in der Mitte der Gesellschaft
Das Gemeindehaus in Elsoff selbst ist gemeinsam mit der Stadt Bad Berleburg, gefördert aus Mitteln der EU, als Mehrzweck- und Dorfgemeinschaftshaus gestaltet worden, in dem z.B. auch die Volkshochschule regelmäßig zu Gast ist. Die multifunktionale Nutzung von Gebäuden ist natürlich auch unter wirtschaftlichem Aspekt notwendig, um Gebäude und Räume auch langfristig erhalten zu können. Dazu gehören aber auch Prozesse der Aufgabe nicht ausreichend genutzter Objekte und eine Priorisierung des Gebäudebestands der Kirchengemeinde.
Im Projekt ‚Gemeinsam 2020 – Sieben auf einen Streich‘ gestalten wir, gefördert vom Land NRW, vernetzende Kulturarbeit auf dem Lande, die von der Kinderferienwoche bis zur Aufarbeitung von Heimatgeschichte in dann zu installierenden Geschichtskapseln Menschen in die Geschichte ihrer Familien und Dörfer eintauchen lässt; in Planung ist ein ‚Wittgenstein-Musical‘, das dann die Geschichte der Region musikalisch darstellt. Dies wird mit Chören und Menschen aller Generationen aus unseren sieben Dörfern erarbeitet und präsentiert. Alles dies dient der Identitätsfindung und -stärkung als wesentlichem Bindungsfaktor an die ländliche Region. Mit Solidarität lässt sich mehr bewegen als mit Konkurrenz und Rivalität.
Geschichtskapseln und Regional-Musical – Identitätsbildung und Zusammengehörigkeit
Manches bleibt aber auch auf der Strecke. Nicht immer sind die technischen Voraussetzungen hinreichend, manchmal stoßen wir auch auf die Begrenztheit unserer Kräfte. Personell verknüpfen wir den Pfarrberuf mit vielfältiger ehrenamtlicher Kompetenz und begleitender Sachkunde, die wir für einzelne Projekte, Entwicklungen und Experimente gezielt anwerben oder auch ‚einkaufen‘ wie z.B. in den Universitäten oder aus anderen Qualifikationen. Wesentlich ist dabei die Atmosphäre gemeinsamen Engagements für die nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität auf dem Land. Wertschätzende Wahrnehmung des Geleisteten und der je speziellen Begabungen ist strukturell verankert. Hierin wird ein Stück weit die gute Haushalterschaft der mancherlei Gaben Gottes deutlich, die eine jede und ein jeder empfangen haben. Zugleich werden die unterschiedlichsten Begabungen, Ressourcen und Interessen unter dem Dach der Gemeinde gebündelt.
gute Haushalterschaft der unterschiedlichen Gaben Gottes
Ein Schwerpunkt liegt auf der Kinder- und Jugendarbeit, zu der neben vielfältigen musikalischen Angeboten vor allen auch eine ‚Übermittagbetreuung‘ in Kooperation mit der Grundschule ‚Am Heiligen Berg‘ in Elsoff gehört, die die Versorgung der Kinder nach der Schule sicherstellt bis die nicht vor Ort arbeitenden Eltern sie abholen können. Hier zielen wir mittelfristig auf eine Anerkennung als Offene Ganztagsschule ab, um das Angebot zu verstetigen. En passant entstehen wichtige Bindungen, die sich in anderen Angeboten fortsetzen.
Ebenso wichtig sind aber vor Ort auch die Seniorenarbeit und das Thema Mobilität auf dem Lande als besonders relevante Handlungsfelder für Lebensqualität und Begegnungsmöglichkeiten auf dem Land. Der Gemeindebus bietet Einkaufs- und Arztfahrten für Senioren ebenso an wie Bedarfstaxidienste für Gemeinde- und andere Veranstaltungen.
Kirche als ‚lebensrelevanter Player‘- Ausdruck der Inkarnation
Kirche als ‚lebensrelevanten Player‘ erlebbar zu machen und damit auch ganz konstruktiv nachhaltiges Leben auf dem Land mit zu gestalten, ist eines unserer wesentlichen Handlungsziele. Wir sehen darin ein Beispiel der ‚erlebbaren Inkarnation‘. Mit anderen Worten: wir bemühen uns darum, Hoffnung und Aufbruch als wesentliche Zeichen eines Lebens aus dem Wort Gottes im Alltag zu verankern und erlebbar zu machen. ‚Das Wort wurde Fleisch‘ (Joh. 1, 14) erhält hier eine weitergehende Interpretation und Prägung. Damit stellt sich die Lukas-Gemeinde auch in die Tradition Ernst Langes: „Gott ist nicht der zeitlose Gott, sondern der Gott der Zeiten: Nicht der kirchliche Gott, sondern der Gott der sich wandelnden Welt. Wir stehen an der Schwelle …neuer Erkenntnis der Hiesigkeit Gottes.“ (Kötter, S. 94). Daraus erwachsen nicht nur neue Formen kirchlichen Lebens, sondern fast notwendig die Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Instanzen.
Inkarnation in diesem Sinne heißt folglich Erfahrbarkeit. Diese immer wieder zu erarbeiten, Gestalt gewinnen zu lassen und mit Freude zu teilen hat sich die Lukas-Kirchengemeinde in ihren Projekten auf die Fahnen geschrieben. Wir möchten der Welt im Licht der Verheißung begegnen und Zeichen setzen
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Weitergehende Informationen sind im Buch von Dr. Ralf Kötter: Das Land ist hell und weit, EBV 2014 oder auf der Website der Gemeinde nachzulesen.
Joachim G. Cierpka ist seit 2018 Pfarrer der Lukas-Kirchengemeinde im Elsoff- und Edertal. Regionalentwicklung als Aspekt kirchlicher Arbeit war auch in früheren Aufgaben mit Stationen u.a. in Neuruppin, Brüssel und Berlin schon einer seiner Schwerpunkte.
Bild: Joachim G. Cierpka, Brückenbau für „Gemeinsam 2020“