In diesen Tagen beginnt der „Synodale Weg“ der deutschen katholischen Kirche. Er ist eine Reaktion auf die Entlarvung langjähriger Praktiken sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Heute und morgen geht Rainer Bucher der Frage nach, welcher Verrat begangen und warum er gerade jetzt aufgedeckt wurde und welche Versprechen die Kirche geben muss.
„Gott hasst dich, Gott bestraft dich – und der Priester (Name) führt das jetzt aus. Ich werde in die Hölle kommen. Er ist Gott. Er hat gesagt, dass ich von Gott verflucht bin und dass Gott mich hasst. Er hat mich vor dem Allerheiligsten missbraucht, geschändet und gesagt, dass Gott das will und dass Gott das gutheißt. Was ich mir dir mache, macht Gott mit dir.“
Aus dem Bericht einer damals 8-jährigen Betroffenen
„Völlig verzweifelt wende ich mich in einem sehr ungewöhnlichen Anliegen an Sie … Ich wurde von meinem achten bis zehnten Lebensjahr von meinem damaligen Religionslehrer und Stadtpfarrer in (Ort, Name) … sexuell missbraucht, körperlich schwer misshandelt und psychisch ruiniert. Danach habe ich 34 Jahre lang darum gekämpft, dieses Trauma zu verarbeiten. Doch vergeblich – alle haben die Täter geschützt und mich wie den letzten Dreck behandelt. Ich wurde mehrfach bedroht, die brutalen Verbrechen gegen mich zu verschweigen, und aus allen sozialen Gemeinschaften ausgeschlossen.“
Aus dem Brief eines Betroffenen
Der Verrat
Die Fallhöhe könnte nicht größer sein. Die katholische Kirche behauptet von sich, ein „Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes“ (LG 1/GS 45) zu sein. In den Akten sexualisierter Gewalt ist sie genau das Gegenteil.
Christliche Seelsorge sollte von den falschen Göttern des Lebens befreien, sexueller Missbrauch in der Pastoral etabliert aber genau solche falschen Götter: zuerst und brutal jenen der Macht. Sexueller Missbrauch in der Pastoral spricht handelnd von einem Gott der erzwungenen, erschlichenen Nähe, einem Gott, der machtinduzierte Nähe mit Liebe verwechselt, also einem im strikten Sinne perversen Gott.
Christliche Seelsorge sollte dazu ermutigen, dieses eine und einmalige Leben mit allem Ernst und aller Intensität zu führen, in der Glaubenssicherheit, zuletzt nie und nimmer unterzugehen. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott der (sexuellen) Feigheit und des Machtgefälles menschlicher Intimbeziehungen, verkünden sie einen Gott, der Kinder in die Kälte simulierter Nähe und schwer oder gar nicht verarbeitbarer Erfahrungen schickt.
Die Kälte simulierter Nähe und nicht verarbeitbarer Erfahrungen.
Christliche Seelsorge sollte befreien von den verführerischen Göttern selbstherrlicher Selbstüberschätzung, denn was wirklich wichtig ist, von der schieren Existenz bis zur Liebe eines Menschen, ist reines Geschenk. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott, der den Autoritäten alles erlaubt, sogar das Unerlaubte, der Liebe und Zuwendung abhängig macht von Gefügigkeit und Unterwerfung.
Christliche Seelsorge sollte schließlich befreien von den Göttern menschlicher und religiöser Repression. Denn der Gott Jesu ist ein Gott der Freiheit und des Kampfes für die Ausgestoßenen, ein Gott, der jenen, die aus allen Rastern der Anerkennung fallen, seine ganz selbstverständliche Solidarität anbietet. Wo Seelsorger Kinder missbrauchen, verkünden sie einen Gott, der all dies schreiend nicht ist: kein Gott des Kampfes für die Ausgestoßenen, sondern einer, der Menschen bricht, kein Gott der Kinder, sondern der rücksichtslosen Erwachsenen.
Die Konsequenzen sind schrecklich. Nicht bei allen, aber bei vielen Opfern bleiben Folgen massiver Traumatisierung ein Leben lang, bleibt vor allem eine „massive Beschädigung des Vertrauens in sich selbst, die Umwelt und die soziale Ordnung überhaupt“.1
Dieses schreckliche Defizit an Verantwortungsübernahme
und schlichtester Mitmenschlichkeit.
Missbrauch ist ein verbreitetes Phänomen. In jeder größeren Priesterversammlung sitzt mindestens ein Missbrauchstäter und an jedem Sonntagsgottesdienst nehmen mehrere Opfer teil. Sicher: Die Missbrauchstäter und -täterinnen stehen nicht für das Ganze. Aber die, die für das Ganze stehen, haben den Missbrauch gedeckt. Das pastoral desaströse quantitative Ausmaß des Problems liegt in der Vielzahl der Taten, vor allem aber auch in der umfassenden Empathielosigkeit, die als pastorales Muster hinter der Vertuschungsstrategie erkennbar wird.
Diese Mitleidlosigkeit dokumentiert sich in Marginalisierung und Denunziation der Opfer, vor allem aber im Verschließen der Ohren und Herzen vor ihren Schmerzen, Klagen und Schreien. Diese Empathielosigkeit, dieses völlige Fehlen jeglicher Einfühlung in ein selbst verursachtes und zu verantwortendes, großes und teils lebenslanges Leiden, dieses Defizit an Verantwortungsübernahme und schlichtester Mitmenschlichkeit, die das System durchzogen, beschädigen die katholische Kirche in ihrer Substanz.
Ein dreifacher Verrat hat stattgefunden: an den Opfern, an der eigenen moralischen Integrität und am Evangelium. In seiner Fallhöhe, seinen Konsequenzen und in der strukturellen Emphatielosigkeit betrifft er Kirche in ihrem Wesen und in ihrer Existenz. Statt ein Sakrament, ein Zeichen und Werkzeug der Gnade, zeigt sich die Kirche hier als Zeichen und Werkzeug der Gnadenlosigkeit.
Die Entdeckung
Nun kennt die Dramaturgie des Verrats drei Phasen: den Verrat selbst, seine Entdeckung und seine Bestrafung. Die Bestrafung hat mit Glaubwürdigkeitsverlust und inhaftierten Klerikern begonnen. Warum aber wurde der Verrat, den der Missbrauch darstellt, gerade jetzt und erst jetzt aufgedeckt? Erklärungsbedürftig ist, betrachtet man die Geschichte des Christentums in seiner ungebrochenen Pastoralmachtstradition, nicht, dass es sexualisierten Machtmissbrauch gab, sondern warum er gerade jetzt aufgedeckt wird, warum er jetzt, erst jetzt thematisierbar wurde. Unter welchen Bedingungen wird das auf einmal möglich?
Warum wurde der Missbrauch gerade jetzt aufgedeckt?
Der Verrat wurde offengelegt, weil der Gletscher zurückwich, der ihn verdeckte und mutige Menschen wie Pater Mertes SJ nicht den Blick wandten von dem, was sich da zeigte, ja mehr noch: nachbohrten, nachforschten, was da an die Oberfläche kam. Man kann diesen Gletscher unterschiedlich benennen: „Konstantinische Formation“, dann rekurriert man auf die Entstehung einer gesellschaftlich sanktionsmächtigen religiösen Formation in der Spätantike, oder mit Foucault „Pastoralmacht“, dann rekurriert man auf jene ebenfalls spätantike, spezifisch christliche Symbiose von Überwachen und Bewachen, Kontrolle und Schutz, die der Hirte für seine Herde ausüben muss.
Oder man nennt das Schmelzen des Gletschers „Säkularisierung“, dann bezieht man sich auf jenen Prozess auf gesellschaftsstruktureller, juristischer, kultureller und individueller Ebene, mit dem sich die Kirchen den menschheitsgeschichtlich einzigartigen Vorgang ihrer Entthronung als umfassender und alternativloser Normierungs- und Orientierungsgröße für den Einzelnen, die Kultur und die Gesellschaft selbst kommunizierten.
Oder man nennt es das „Ende des katholischen Milieus“, in dem man ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die neuzeitlichen kognitiven und kommunikativen Relativierungsprozesse innerkatholisch noch einmal auffangen wollte, ein sozial-moralisches Milieu, dessen Management bei einer zentralisierten und gleichzeitig sakralisierten Priesterbürokratie lag und dessen letzte Ausläufer die Gemeindetheologie darstellte, deren Bindungsmetaphern dann freilich nicht mehr militärischen, wie im 19. Jahrhundert, sondern familiaristisch-patriarchalischen Ursprungs waren.
Wir leben in nach-ekklesialen Zeiten.
Mit all dem ist es ersichtlich vorbei. Wir leben in einem spezifischen Sinne in nach-ekklesialen Zeiten. In entwickelten kapitalistischen Gesellschaften verliert die Religion schlicht ihre Funktion als zentrale Steuerungsinstanz von Individuum und Gesellschaft. Man hat hier subtilere Steuerungsmechanismen entwickelt. Religionen und also auch die Kirchen geraten dann unter den individuellen, situativen und jederzeit revidierbaren Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. Dieser veritable innerkirchliche Herrschaftswechsel zwischen religiösem Individuum und kirchlicher Institution bringt die kirchlichen Gletscher zum Schmelzen: Nicht mehr die Religion beherrscht die Biografien, sondern biografische Bedürfnisse regieren die situative Nutzung religiöser Orte und Praktiken.
Spätestens im Missbrauchsskandal entdeckt die katholische Kirche die epochale Krisenhaftigkeit ihrer bisherigen Machtkonstellationen. Denn dieses Scheitern wird ihr im Unterschied zu früheren Indikatoren wie gesellschaftstheoretischen Analysen oder religionssoziologischer Empirie nun unausweichbar, nämlich als fundamentales Scheitern vor ihrem eigenen Anspruch präsentiert und nicht nur als immer heillos schwacher wissenschaftlicher Diskurs.
Fundamental gescheitert vor dem eigenen Anspruch.
Die fatale Liaison der Kirche mit dem Körper endet im Abgrund des Missbrauchsskandals. Nach Kosmos und Gesellschaft ist nun auch der Körper der Katholiken und Katholikinnen außerhalb der Reichweite klerikaler Definitionen. Es endet aber noch viel mehr. Es scheint, dass damit überhaupt das Modell „Kirche“, wie es seit 1600 Jahre bestand und seit Trient immer steiler, weil immer defensiver realisiert wurde, an einem Kipppunkt seiner Geschichte angekommen ist.
Die spezifisch pastoraltheologische Frage in diese Situation lautet mithin: Wie kann die Kirche die Ernsthaftigkeit des Glaubens, seinen Ruf zur Umkehr, darstellen, jenseits der Konstantinischen Formation, jenseits der Pastoralmacht, jenseits des katholischen Milieus und seiner familiaristischen Nachfolgekonzepte und in grundlegend säkularisierten Zeiten, die den anderen die Hoheit über kirchliche Praktiken geben?
Wie sollte das gut gehen?
Man war an der Herrschaft und als man ahnte, dass es damit vorbei sein könnte, hat man die sozialtechnologischen Techniken und Wissensformate der Moderne zu deren Abwehr adaptiert. Das entstehende Amalgam war etwas recht Besonderes und eigentlich auch merkwürdig Paradoxes: eine sakralisierte klerikale Bürokratie etwa, eine mit modernem Personalismus aufgeladene naturrechtliche Moraltheologie, eine Rede von Gott mit naturwissenschaftlicher Exaktheitsanmutung, jüngst eine Menschenrechtsrhetorik, die für alle anderen, aber nicht für einen selber galt. Wie sollte das gut gehen?
Es ging auch nicht gut, schon länger nicht. Die hotspots dieses Scheiterns sind der Faschismus, der Missbrauchsskandal – und das sich abzeichnende Ende des Patriarchats wird der nächste sein. Mit dem Faschismus scheiterte der Kirche Flirt mit autoritären Staatsmodellen, mit dem Missbrauchsskandal ihr Versuch, ihre schwindende Relevanz kulturkämpferisch in der Regulierung sexueller Praktiken zu kompensieren. Die alte klerikale Liaison mit dem Patriarchat aber wird in einer Gesellschaft, die ihre Geschlechterordnung umbaut, und zwar in Richtung ohne Zweifel christlicher Werte wie Gerechtigkeit und Fairness, unter den Bedingungen deregulierter Religionsnutzung notwendig marginalisiert bis zur Exkulturation werden.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Versprechen. Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche
- Sandra Fernau, Verstrickungen im Glauben. Zur biographischen Bedeutung katholischer Religiosität vor dem Hintergrund sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, Baden-Baden 2018, 47. ↩