Christoph Röhls Film zum Papstamt bewegt die Gemüter. Clemens Hermann Wagner über Ratzingers Ringen gegen die Moderne und die sich daraus ergebende Unterlassung einer wirklichen Aufarbeitung von Mißständen.
Wie konnte aus dem einstigen progressiven Denker des Zweiten Vatikanischen Konzils, Joseph Ratzinger, ein immer konservativerer und weltabgewandter Theologe werden? In welchen Dimensionen trägt Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation und später als Papst Benedikt XVI. Verantwortung für geschaffene Strukturen, die geistlichen und sexuellen Missbrauch begünstigen, dessen Aufarbeitung verschleiern oder unmöglich machen? „Verteidiger des Glaubens“ unter der Regie von Christoph Röhl sucht als präzise recherchierte Dokumentation Antworten auf diese Fragen, wird damit zu einem der notwendigsten Beiträge zu dem derzeitig katastrophalen Zustand der katholischen Kirche und formuliert implizit Aufgaben an eine neue Generation von Theologie und Kirche.
Der Vormittag des 18. April 2005 sollte zu einer Schlüsselszene im Leben von Joseph Kardinal Ratzinger werden. Der beliebte, lange schwer erkrankte Papst Johannes Paul II. war wenige Tage zuvor unter weltweiter Aufmerksamkeit verstorben. Als Dekan des Kardinalskollegiums war es die Aufgabe Ratzingers, das Konklave zur Wahl des neuen Papstes einzuberufen und den Eröffnungsgottesdienst zu feiern. In seiner Predigt geißelte er in scharfen Worten die Moderne in ihrer Pluralität und Differenz als eine „Diktatur des Relativismus“. Dagegen setzte Ratzinger die Klarheit und Unumstößlichkeit der katholischen Lehre, „reif ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und letzten Neuheit folgt“, und zitierte als Schlussworte jene Enzyklika, die 1907 offiziell jede Form von Modernismus verurteilte. Ein Tag später war Joseph Ratzinger zum Papst gewählt, nahm den Namen Benedikt XVI. an und präsentierte sich der Weltöffentlichkeit auf dem Balkon von Sankt Peter als „ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herren.“
Die Moderne als eine „Diktatur des Relativismus“
Mit „Verteidiger des Glaubens“ gelingt es Christoph Röhl, diese Selbstzuschreibung Ratzingers überzeugend zu relativieren. Joseph Ratzinger war immer mehr als ein bloßer Arbeiter im Weinberg des Herren, er trug zunächst als Präfekt der Glaubenskongregation und schließlich als Papst dafür Sorge, mit der katholischen Kirche ein kontrolliertes Haus von Glanz und Glorie und schließlich von fataler Macht und Ordnung zu etablieren. Dabei zeigt der Film, dass es zur Tragik der Person Joseph Ratzingers gehört, den Erhalt dieses Systems aus seiner für unumstößlich wahr erkannten Theologie zu betreiben. Joseph Ratzinger, der spätere Benedikt XVI., wird für Röhl somit zu der Verkörperung eines gesamten Systems und damit nicht weniger zum Repräsentanten einer tragischen und letztlich gefährlichen Form der Theologie.
Christoph Röhl stellt entscheidende Stationen aus dem Leben Ratzingers dar und lässt diese von dessen engen Beratern und Vertrauten, etwa Georg Gänswein oder Charles Scicluna, einordnen. Es war zeitlebens das Ziel Ratzingers, die Kirche und Theologie, die er als Idylle seiner Kindheit und Jugend in Bayern kennengelernt hatte, zu retten und gegen jede Form von Kritik zu verteidigen. Wie jedes Denken, so ist auch Ratzingers Theologie von Erfahrungen und Biographien bedingt, schnell wird mit Röhls Film jedoch klar, wie sehr Persönlichkeit und Theologie bei Joseph Ratzinger eine gefährliche, ja unheilige Allianz eingehen und er damit zu einer unguten Besetzung für das Amt als Präfekt der Glaubenskongregation, erst recht aber als Papst wird.
Die Kirche als Idylle der eigenen Kindheit retten
Verunsichert von einer sich rasant entwickelnden Moderne sucht Ratzinger und später Benedikt XVI. nach einer tragenden Zukunft des Glaubens und der Kirche. Er findet sie gemäß seiner Theologie in neuen Formen von Evangelisierung und geistlichen Bewegungen wie „Opus Dei“, „Das Werk“ oder „Legionäre Christi“. Durchaus besorgt von der immer weiter wachsenden Macht, den Missbrauchsfällen und Korruptionsskandalen dieser Gruppierungen, unterlässt er es jedoch bewusst immer wieder, strafrechtlich gegen Schlüsselfiguren vorzugehen. Zu wichtig ist ihm der Erhalt eines makellosen Bildes der Kirche und zu dankbar ist er für die Massen an Priestern und Ordensleuten, die die geistlichen Bewegungen der Kirche Jahr um Jahr bescheren.
Christoph Röhl nimmt in seinem Film besonders den Gründer der „Legionäre Christi“ (müsste dieser Ordenstitel nicht schon beunruhigen?) Marcial Maciel in den Blick. Skrupellos missbrauchte dieser über Jahrzehnte hinweg Seminaristen, war in Drogenskandale verwickelt, führte ein Doppelleben und hatte mit mindestens zwei Frauen mehrere Kinder. Der Vatikan mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. in entscheidenden Positionen muss von all dem gewusst haben – und schwieg. Erst kurz vor dessen Tod verurteilte Benedikt XVI. Maciel öffentlich und legte ihm ein Leben in Buße auf. Juristische Konsequenzen blieben aus.
Späte Reaktion und fehlende juristische Aufarbeitung
Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. war überzeugt von einem Bild von Priestern und Ordensleuten als einem Leben in Heiligkeit, was immer dies theologisch differenziert bedeuten mag. Als weltweit immer mehr Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche öffentlich wurden, rief Benedikt XVI. 2009 das „Jahr des Priesters“ aus. Mit aller Macht sollte ein glorreiches Priesterbild beschworen werden, das allerorts zu bröckeln begonnen hat, weil es so nie existierte. Noch mehr Fälle geistlichen und sexuellen Missbrauchs wurden bekannt und Benedikt XVI. musste erkennen, dass der größte Gegner der Kirche nicht eine pulsierende Moderne ist, sondern in ihr, von einer unhaltbaren Theologie der Entweltlichung geprägt, zu finden ist.
Flucht aus dieser Situation konnte für Benedikt XVI. nur sein Amtsverzicht sein, der heute als seine vielleicht größte Leistung, ganz sicher aber als Glücksfall für Kirche und Theologie angesehen werden muss. Klaus Mertes bestimmt in „Verteidiger des Glaubens“ den Rücktritt als „das Ende einer Ära“, die sich selbst überholt hatte, nicht mehr zu rechtfertigen oder gar zu retten war. Zu hoffen bleibt, dass mit einer neuen und wachsenden Generation von Theologie und Kirche die Moderne nicht mehr als „Diktatur des Relativismus“ verurteilt, sondern in ihrer Ambivalenz als Ort eines lebenszugewandten Gottes begriffen wird, die Kirche davon Zeugnis gibt und als ihre erste Aufgabe gemäß des Wirkens Jesu, in dessen Tradition sie seht, das Eintreten für Entrechtete und am Rand Stehende versteht.
Kritik durch Menschen, die sich als Teil der Kirche verstehen
In „Verteidiger des Glaubens“ lässt Christoph Röhl Stimmen zu Wort kommen, die sich bewusst als gläubige Katholiken und praktizierende Christen bezeichnen. Keine undifferenzierten und lautstarken Kirchenkritiker, sondern Theologinnen und Theologen wie Doris Wagner, Klaus Mertes oder Wolfgang Beinert ordnen Szenen und Entwicklungen versiert und ausgewogen ein. In einem bemerkenswert analytischen und nüchternen Duktus schildern Missbrauchsopfer ihre traumatischen Erfahrungen. Ebenso berichten Verantwortliche für die Aufarbeitung der weltweiten Missbrauchsfälle, wie etwa die Irin Marie Collins, die bis vor wenigen Jahren in der päpstlichen Kinderschutz-Kommission mitarbeitete, oder Thomas P. Doyle, der sich als Kirchenrechtler für die Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche einsetzt, von immer weiter erschreckenden Dimensionen der Verhinderung wahrhaftiger Analyse des geistlichen und sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche. Mit einer einnehmenden Dramaturgie schildert der Film die Tragik der Theologie und Persönlichkeit Joseph Ratzingers als Verkörperung eines Systems und lässt den Zuschauer über dessen fatale Konsequenzen existenziell erschüttern.
Tragik Ratzingers als Verkörperung eines Systems
Heute warnen Georg Gänswein und andere Bischöfe öffentlich vor diesem Film. Es wäre notwendiger gewesen, hätten sie ihren einstigen Vorgesetzten Joseph Kardinal Ratzinger und später Benedikt XVI. mündig und aufgeklärt vor dessen gefährlicher Motivation gewarnt, Glaube, weltabgewandte Theologie und eine triumphierende Kirche rücksichtslos und machtbewusst verteidigen zu wollen.
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Clemens Hermann Wagner, Studium der Theologie und Germanistik in Freiburg i.Br., war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionspädagogik dort und arbeitet momentan im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin.
Bild: dnalor_01 / Wikimedia Commons (CC-BY-SA 3.0)