Auch 75 Jahre nach ihrer Entdeckung ist die Auswertung der Entdeckungen in Qumran voller Überraschungen. Von Simone Paganini.
Erste Möglichkeit: Es war in einem Winter vor genau 75 Jahren, als drei Beduinen, die Cousins Khalil Musa, Juma’a Muhammed Khalil und Muhammed edh Dhib (Arabisch für ‚der Schakal‘), Halbnomaden aus dem Stamm der Ta’amireh, ihre Ziegen und Schafe in den Gebieten nordwestlich des Toten Meeres hüteten. Als sich eine der Ziegen von der Herde entfernte – so lautet die offizielle Version der Geschichte –, lief ihr der jüngste der drei, Khalil Musa, nach. Er verfolgte die entlaufene Ziege und warf ihr, um sie in die richtige Richtung zu treiben, einige Steine hinterher. Zufällig traf er dabei eine Öffnung in der Steinwand und hörte ein Geräusch, als ob Ton zerbrochen wäre. Durch die inzwischen vorgerückte Stunde war es jedoch zu spät, um der Sache gleich auf den Grund zu gehen, weshalb die jungen Männer zunächst ihr Vieh zurück nach Hause brachten. Am nächsten Tag kehrte Muhammed edh Dhib ohne Begleitung an die besagte Stelle zurück und entdeckte hinter der kleinen Öffnung im Fels eine circa acht Meter lange, zwei Meter hohe und eineinhalb bis zwei Meter breite Höhle. Dort entdeckte er einige rund 60 Zentimeter hohe Tonkrüge, von denen ein paar gut erhalten waren, andere hingegen in Scherben lagen.
Zweite Möglichkeit: Es war in einem Winter vor genau 75 Jahren, als sich drei Beduinen, die Cousins Khalil Musa, Juma’a Muhammed Khalil und Muhammed edh Dhib, Halbnomaden aus dem Stamm der Ta’amireh, in den Gebieten nordwestlich des Toten Meeres auf die Suche nach einem geeigneten Versteck für ihre Schmuggelware begaben. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg war auch das Leben der Menschen in der judäischen Wüste von Not und Armut geprägt, weshalb insbesondere die Nomaden versuchten, sich durch illegalen Handel einen Zuverdienst zu erwirtschaften. Ihr Vorteil war, dass sie die landschaftlichen Begebenheiten schon von klein auf kannten. Vor diesem Kontext wäre durchaus auch vorstellbar, dass Muhammed edh Dhib und seine Cousins – das wäre die dritte Möglichkeit – auf der Flucht vor „Wüsten-Dschinn“ (Arabisch für ‚Dämonen, Geister‘) in der Höhle Zuflucht gesucht haben…
Ein Fund und seine Geschichte(n)
Die tatsächlichen Hintergründe für den großartigen Fund, der für viele die größte archäologische Sensation des vergangenen Jahrhunderts markiert, werden wohl niemals gänzlich aufgeklärt werden können, und eigentlich sind sie auch nicht wirklich von Interesse. Viel wichtiger ist, dass Muhammed edh Dhib bei der Untersuchung der Krüge einige alte, teilweise grünlich-vermoderte und brüchige Schriftrollen aus Leder entdeckte – zusätzlich verblichen und durch eine teerähnliche Substanz verklebt –, von denen einige in ein Leinentuch gewickelt waren. Wenngleich der glückliche Finder nicht ahnen konnte, wie wertvoll diese Rollen waren, nahm er sie trotzdem mit in sein Lager und zeigte sie den Ältesten seines Stammes. Auf den Lederrollen konnten sie Buchstaben einer ihnen unbekannten Sprache erkennen.
Erhalten sind von diesem ersten Fund heute noch sieben Schriftrollen: Die Große Jesajarolle, ein Kommentar zum biblischen Buch Habakuk, die Regelungen für eine bis dato unbekannte religiöse Gemeinschaft, ein Apokryphon des Buches Genesis, eine zweite unvollständige Version des Jesajabuches, sowie eine Sammlung von psalmenartigen Lobliedern und die Schilderung eines eschatologischen Krieges zwischen Kindern der Finsternis und Kindern des Lichts. Die erbeuteten Rollen blieben zunächst in den Zelten der Beduinen, die Kinder spielten damit und da das alte Leder beim Verbrennen einen angenehmen Geruch verströmte, wurden Teile der Schriften sogar ins Feuer geworfen. Obwohl die Rollen also keinem direkten Zweck dienten, kehrten die Männer in den folgenden Tagen in die Höhle zurück und bargen noch weitere Rollen bzw. Rollenfragmente.
Erst nach einigen Wochen brachten die Beduinen die Pergamentrollen nach Bethlehem, um sie dort einem Schuster zu verkaufen. Auch hier gibt es verschiedene Überlegungen zur Intention. Möglicherweise ist die Erzählung der Männer zutreffend, nach der sie dem Schuster die Rollen in der Erwartung angeboten hätten, er könne aus dem gut erhaltenen Leder Sandalen anfertigen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Beduinen sehr wohl die Hoffnung hegten, etwas Wertvolles in den Felsen entdeckt zu haben. Ihre Wahl fiel wohl daher auf den Schuster Khalil Eskander Shahin, besser bekannt unter seinem Spitznamen „Kando“, der auch als illegaler Antiquitätenhändler bekannt war.
Dieser erkannte die Schrift auf den Rollen ebenso wenig wie die Beduinen, hatte aber ein gutes Gespür dafür, an wen er sich würde wenden können. So geschah es erst im Juli 1947, dass Bischof Athanasius Samuel für 24 jordanische Pfund vier der Schriftrollen erwarb. „Kando“ erhielt zu dieser Zeit 33% des Kaufbetrages als Provision – eben ‚viel Geld für wenig Leder‘ wie er einige Jahre später kommentierte. Muhammed edh Dhib kaufte von seinem Anteil 20 Ziegen, ein Gewehr und eine Frau, damit wurde er der wichtigste Mann im Dorf seines Stammes.
Nicht nur eine Autorengruppe
Heute, 75 Jahre der Forschung später, gilt als gesichert, dass die Schriften aus der judäischen Wüste nicht von einer einzigen Autorengruppe, wie etwa den Essenern, stammen. Möglicherweise wurden sie auch nicht in der Qumran-Siedlung angefertigt, vielmehr legen Reichhaltigkeit und Vielfalt des Textmaterials nahe, dass sie einen repräsentativen Querschnitt der jüdischen Literatur damaliger Zeit darstellen und aus einer Bibliotheksammlung stammen. Über Johannes den Täufer, Jesus und die ersten christlichen Gemeinschaften geben die Qumran-Schriften keine direkte Auskunft. Es gab auch keine Verschwörung des Vatikans, um die Veröffentlichung zu verhindern. Die „Dead Sea Scrolls“ erschüttern nicht die Glaubenspfeiler des Christentums. Sie liefern vielmehr ein Hintergrundwissen, von dem Historiker:innen und Bibelwissenschaftler:innen vor ihrer Entdeckung nur hatten träumen können.
Bevor die Schriftrollen entdeckt wurden, war die Vorstellung von der jüdischen Gesellschaft um die Zeitenwende zunächst von den Beschreibungen des Josephus Flavius und später von den Werken der rabbinischen Tradition abhängig. Das Judentum wurde als eine monolithische, stark normative Religion gesehen, deren Gläubige sich über Inhalt, Umfang und Ordnung ihrer Heiligen Schriften einig waren. Doch die in den Höhlen der judäischen Wüste aufgefundenen Textdokumente haben dieses Bild radikal verändert. Mit einem Mal lagen Zeugnisse über verschiedene Gruppierungen vor, die völlig unbekannt waren. Sie hatten eine eigene Theologie entwickelt, besaßen eigene Schriften und richteten nach eigenen Geboten ihr Leben aus. Des Weiteren dokumentieren die Schriftrollen vom Toten Meer auch einen in aller Schärfe geführten, innerjüdischen Autoritätsstreit über die richtige Interpretation des Gesetzes.
Mit den Funden vom Toten Meer wurde die große Vielfalt der jüdischen Theologie in zwischentestamentlicher Zeit offenbar, wobei die Kernthemen – wie etwa Erlösung, Messianismus, Heiligkeit, Interpretation der Torah und Verhältnis zum Tempel – in den unterschiedlichen Texten stets wiederkehren und teilweise kontrovers behandelt werden.
Große Vielfalt der jüdischen Theologie in zwischentestamentlicher Zeit
Vor dem Hintergrund dieser wichtigen schriftlichen Zeugnisse muss also das Bild von der jüdischen Gesellschaft um Christi Geburt neu durchdacht werden. Auch der sozialhistorische Hintergrund von einigen Schlüsselfiguren des Neuen Testaments lässt sich nun besser bestimmen. Johannes als Priestersohn, der in der Wüste lebt und Reinheitsrituale durchführt, erinnert ganz stark an die Mitglieder der Gemeinde, die in der Sektenregel (1QS) beschrieben wird. Auch die Möglichkeit, Gesetzestexte zu interpretieren und zu aktualisieren, wie es in 4QMMT geschieht, lässt die jesuanischen Antinomien im Matthäusevangelium als eine zutiefst jüdische Tätigkeit erscheinen. Die Schriftrollen vom Toten Meer lassen deutlich erkennen, was genau am Neuen Testament jüdischer Kulturhintergrund gewesen war. Sie geben Einblick in einen kulturellen und sozialen Gesellschaftskomplex, der so viel reicher, vielschichtiger und bunter war, als man vor ihrer Entdeckung angenommen hatte. Es ist also nicht nur möglich, das damalige Judentum zu erforschen, sondern auch, den jüdischen Wurzeln des Christentums genauer als je zuvor auf den Grund zu gehen und Schritt für Schritt herauszuarbeiten, was an Jesus, seiner Lehre und vor allem seinen Anhängern wirklich neu war.
Vor allem die Ablehnung von rituellen Reinheitsvorschriften sowie das völlige Desinteresse für Fragen nach der kalendarischen Genauigkeit von liturgischen Handlungen, die in den Handschriften aus dem Toten Meer eine wesentliche Rolle spielen, unterscheiden die Qumran-Texten vom Neuen Testament, wo diese Aspekte beinahe unerwähnt bleiben. Die legitime Bestrebung, die Torah nach den eigenen Vorstellungen zu interpretieren, ist hingegen ein Aspekt, den Jesus übernimmt. Vieles wird durch die Schriftrollen aus Qumran deutlicher, manches erscheint in einem neuen Licht und bisher kaum beachteten Sachverhalten wird plötzlich größeres Interesse zuteil.
Auch 75 Jahre nach ihrer Entdeckung ist die Auswertung voller Überraschungen – und sie ist noch voll im Gange.
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Bild: Martin Vandory
Simone Paganini, geb. 1972 in Italien. Nach Stationen in Florenz, Rom, Innsbruck, Wien und München ist er Professor für Biblische Theologie an der RWTH-Aachen Universität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bücher Jesaja und Deuteronomium sowie der Dead Sea Scrolls/Qumran
Beitragsphoto: Peter van der Sluijs (CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22287117)