Ein Graffiti auf einer Kirchenmauer, glitzernde Vulven und die Überwindung der Scham – Juliane Link zeichnet in einer kurzen Reportage nach, wie eine evangelische Gemeinde in Berlin einen inspirierenden Umgang mit all dem fand.
Joeys Welt
Alles begann mit einer Nachricht von Joey. Wir sind schon lange befreundet. Ich schreibe ganz bewusst, dass ich mit Joey befreundet bin und nicht, dass Joey mein Freund oder meine Freundin ist. Denn dann würde ich Joey ein Geschlecht zuordnen und genau das möchte Joey nicht. In Joeys Nachricht ging es um eine Veranstaltung, zu der ich mitkommen sollte. Joey macht das oft. Joey nimmt mich mit zu Veranstaltungen, zu denen ich mich alleine nie trauen würde und stellt mich den Leuten mit den Worten vor: „Das ist meine langweilige Heterofreundin Juliane.“
Dann bietet mir jemand den Platz neben sich an und Joey holt sich ein Getränk oder verschwindet backstage, um sich auf eine Lesung vorzubereiten. Ich sitze dann in einem Wohnzimmer in Kreuzberg, das von Kunst und Nippes überquillt, esse vegane Reispfanne und höre zu, wie sich die lässigsten alten Damen, die ich je gesehen habe, über Literatur und Filme austauschen oder über Kreuzberg in den 60er Jahren. Eine der jüngeren hat gerade die Untertitel der zweiten Staffel von OMGyes.com ins Deutsche übersetzt, eine andere diskutiert mit Joey über die Gründe für Eifersucht in polyamoren Beziehungen. Einige tragen gestreifte Blusen und Perlenohrringe, andere Männerhemden und Harrypotter-Brillen, wieder andere Irokesenschnitt und Lederkluft, Joey hat sich den Schädel frisch rasiert und ein pinkes T-Shirt angezogen, auf das eine Krawatte aufgedruckt ist.
Ein andermal sitze ich im Publikum eines Storytellingabends, auf dem ein schwuler Mann erzählt, wie es ihm ging, als er Vater wurde, eine Transfrau erklärt, warum sie nicht dauernd gefragt werden will, wie es ihr mit ihrem veränderten Körper geht und eine sexpositive Entertainerin berichtet, welchen Schikanen sie als dicke Frau ausgesetzt ist, die Beziehungen mit Männern und Frauen eingeht. Joey erzählt, wie es ist, in einem Yogastudio immer im falschen Umkleidebereich zu sein, egal ob man sich für Damen oder Herren entscheidet. Manchmal gehe ich an diesen Abenden auf eine One-Sex-Toilette und weine dort ein bisschen, weil mich die Offenheit der Menschen erstaunt, die mir Joey vorstellt, weil ihre Geschichten mich berühren und weil niemand meine Anwesenheit in Frage stellt. Das ist Joeys Welt.
‚Viva la vulva‘ war das Thema des Abends.
Umso überraschter war ich, dass Joey mir diesmal vorschlug, zu einer Veranstaltung in die Evangelische Kirchengemeinde Alt-Tempelhof und Michael zu gehen. Kirchliche Veranstaltungen, das ist meine Welt und für mich ist es sehr viel schwieriger, Joey in meine Welt mitzunehmen, weil ich immer befürchten muss, dass Joey dort weniger willkommen sein wird als ich in Joeys queerer Community. Und das möchten weder Joey noch ich erleben. Aber Joey wollte da hin, einfach weil die Veranstaltung interessant klang: „Viva la Vulva“ war das Thema des Abends. Im Ankündigungstext stand:
Die Viva-la-Vulva-Bewegung sagt, wer Worte ohne Scham verwenden kann, wird sprachfähiger und freier und „Vulva“ könnte so ein Wort sein. Auch biblisch gilt: „Ich danke Dir Gott, dass ich so wunderbar gemacht bin“ – Seele und Geist, Nasen, Falten und Genitalien, Körper in ihrer ganzen Vielfalt sind wunderbar.
Ich schickte Joey begeisterte Emojis und wir machten uns auf den Weg nach Tempelhof.
Den Spuren der Gegenwart folgen
Einige Wochen zuvor war auf der Westmauer der Alten Dorfkirche im Tempelhofer Lehnepark in Berlin ein Graffiti aufgetaucht. Seitdem steht in violetter Schrift in fetten Großbuchstaben „Viva la vulva“ auf den alten Feldsteinen. Eigentlich ist in einem solchen Fall alles klar: Das ist Vandalismus und hässlich und eine billige Provokation. Das führt zu Empörung und zu einem Anruf bei einer Reinigungsfirma. Es kostet Geld und das ist ärgerlich, aber es muss weg. Es verschandelt einen idyllischen und denkmalgeschützten Ort, der mitten in der Stadt für Ruhe und Besinnung und den Erhalt bestimmter Werte steht.
Doch die Gemeinde entschied sich anders. Sie entschied sich, das Graffiti als Spur einer urbanen Gegenwart zu verstehen, die etwas mit der Kirche zu tun hat, auf der man es vorfand. Als Hinweis auf ein im kirchlichen Kontext unterbelichtetes Thema. Die Gemeinde beschloss, das Graffiti nicht zu entfernen, sondern es zum Anlass zu nehmen, sich mit Vulven, feministischer Theologie und Körperbildern in der Bibel auseinanderzusetzen. Den Stein ins Rollen brachte Annegret Kaufmann, eine Mitarbeiterin der Kirchengemeinde. Sie hatte die Idee, eine Ausstellung an der Kirchenmauer zu organisieren, mit vulvenförmigen Kunstobjekten, Portraits von starken biblischen Frauen und Zitaten, die zeigen, dass nicht alles lust- und körperfeindlich ist, was in der Bibel steht.
Die Kritik hat unser Vorhaben besser gemacht.
Annegret Kaufmann war mutig genug, ihre Idee dem Gemeindekirchenrat vorzuschlagen, und obwohl der Vorschlag für Überraschung sorgte, beschloss das Gremium, die Idee zu unterstützen, allerdings gab es auch Empörung und Protest von Seiten einzelner Gemeindemitglieder, die sich mit der Viva-la-Vulva-Bewegung überhaupt nicht identifizieren konnten. „An den Bedenken haben wir gemerkt, dass es einen intensiven Dialog rund um die Ausstellung braucht“, erzählt Annegret Kaufmann. „Wir haben die Ausstellungsdauer von den geplanten 14 auf 2 Tage reduziert, ein Kaffeemobil organisiert und waren an den beiden Tagen bei unserer Draußen-Galerie präsent. Es gab richtig leckeren Kaffee und wir sind mit vielen Leuten ins Gespräch gekommen. Außerdem haben wir ein Begleitprogramm entwickelt, in dem wir das Graffiti in den Mittelpunkt der Diskussion stellen, aber auch Wissen vermitteln wollen. So hat die Kritik das ganze Vorhaben nicht verhindert, sondern besser gemacht.“
Und so kam es zu dem Abend, zu dem ich mit Joey ging. Es waren ältere Damen mit gestreiften Blusen und Perlenohrringen da, die ihre Männer mitgebracht hatten, queere Theolog*innen, Mütter und katholische Student*innen. Die Kulturwissenschaftlerin Franziska Dickmann erklärte uns anhand eines selbstgenähten Modells aus glitzerndem Stoff die Strukturen der Vulva und ihre Funktionen. Wir saßen in den Kirchenbänken und redeten mit unseren Sitznachbar*innen darüber, was das Wort „Vulva“ bei uns auslöst und wie es ist, in einem Kirchenraum einen Workshop zu diesem Thema zu erleben. Es ging um Scham und um die Macht von Sprache, um die Schwierigkeiten bei dem Versuch, neben dem Wort „Schamlippen“ auch den Begriff „Vulvalippen“ in den Duden aufzunehmen und die empörende Kulturgeschichte der Vulva, denn der Blick auf das weibliche Genital wurde jahrhundertelang von der kirchlichen Sexualmoral geprägt, es wurde verstümmelt oder dämonisiert und wird bis heute in den meisten Schulbüchern falsch abgebildet.
Die Scham hat mit dem Christentum zu tun.
Die Vikarin Lena Müller ist feministische Theologin und postet ihre Gedanken auf Instagram. Sie fragt sich, warum es kein Problem ist, wenn jemand vom Nasenbluten einen Fleck auf dem Hemd hat, aber Menstruationsblut auf der Hose einem Desaster gleichkommt. Genau, denke ich, und erzähle, dass es mir leicht fällt in meiner Gemeinde über die Heilung des blinden Bettlers zu sprechen, aber wenn ich darüber predigen möchte, dass die blutflüssige Frau wahrscheinlich an Menstruationsbeschwerden litt, muss ich mich überwinden, als ginge es um die Preisgabe eines Familiengeheimnisses. Und Lena Müller sagt: „Wir haben als Kirche eine große Verantwortung. Die Scham rund um Sexualität – vor allem um weibliche Sexualität – wurde zu einem wesentlichen Teil innerhalb des Christentums konstruiert. Denn die Auslegungsgeschichte der Bibel ist patriarchal geprägt.“ Für sie und Pfarrer Dr. Betram Schirr ist klar: man kann auch anders von Gott reden und die Kirchen sind in der Pflicht, geschützte Räume zu schaffen, in denen Scham besetze Themen verhandelt werden können. „Aber eine Kirchengemeinde ist keine gemütliche Bubble…“, auch wenn es sich an diesem Abend ein bisschen so anfühlt, und Veranstaltungen wie diese sind nur möglich, wenn man bereit ist, Widerstände auszuhalten.
Die Mauer – das Sinnbild für Wehrhaftigkeit und Abgrenzung schlechthin – ist zur Galeriewand geworden.
Am Ende lädt Franziska Dickmann uns zu ihrem Vulva-Stammtisch ein und ich gehe noch einmal zu den lila verfärbten Feldsteinen. Die Mauer – das Sinnbild für Wehrhaftigkeit und Abgrenzung schlechthin – ist zur Galeriewand geworden. Die Mauer, die sonst vor allem etwas einschließt, stellt jetzt etwas aus. Das altehrwürdige Gemäuer, erbaut im 13. Jahrhundert, wird zur Fläche, auf der sich die Gegenwart einschreibt und sich Neues abspielt. „Und was passiert jetzt mit dem Graffiti?“, frage ich den Pfarrer. „Genau wissen wir es noch nicht. Wahrscheinlich lassen wir einfach den Efeu darüber wachsen“, sagt er. Und wieder bewundere ich ihn. So also kann Kirche sein, wenn man die Zeichen der Zeit ernst nimmt, den Bedenken Stand hält und die Dinge geschehen lässt. Der Rest wächst dann vielleicht von selbst.
Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: Karin Broll, Berlin.
Siehe auch: Jesus und seine Vulva