Was haben das Alte Testament und die jüngste innenpolitische Krise in Österreich gemeinsam? Ganz einfach: Viele stoßen sich an den wenig schönen Inhalten – und geben den Verkündern dieser Inhalte daran die Schuld – zu Unrecht, wie Elisabeth Birnbaum meint.
Einer der meist vorgebrachten Vorbehalte gegen das Alte Testament ist dessen „Gewalttätigkeit“. „Da kommen so grausliche Geschichten drin vor“, sagen viele, um ihre Ablehnung dem Alten Testament gegenüber zu begründen. Die blutrünstigen Details mancher alttestamentlichen Passagen verstören, von Vergewaltigung ist die Rede, von Mord und Totschlag und so weiter. Die Folge ist, dass man das Alte Testament pauschal als gewalttätig diffamiert.
Auf den ersten Blick hat das Alte Testament nichts mit der jüngsten innenpolitischen Krise zu tun. In Österreich ging es weder um Vergewaltigung noch um Mord und Totschlag, sondern „nur“ um Korruption und „versuchten“ Machtmissbrauch. Und das „Ibiza-Video“ ist alles andere als eine Bibel. Aber eine Gemeinsamkeit gibt es doch: die Reaktion mancher Menschen, für schlechte Nachrichten den Überbringer zu geißeln. So wurden nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos von manchen Seiten die Medien dafür kritisiert, solch ein Video zu zeigen und man stellte allerhand Spekulationen über die Motive an, die zu dem Video geführt haben.
So interessant diese Fragen auch sind, sie lenken vom eigentlichen Problem ab: dem Problem, dass die Inhalte unliebsam und unschön sind.
Tötet nicht den Boten!
Das Video war eine Falle, von wem und warum, weiß man noch nicht. Aber ganz unabhängig davon, warum, wie und wozu dieses Video entstanden ist: Es thematisiert und enthüllt unschöne Seiten von Menschen. Es zeigt, was sich Menschen ausdenken, wenn sie Macht um jeden Preis haben möchten. Das ist nicht angenehm. Das erschüttert und bestürzt. Aber an diesen unschönen Seiten sind nicht die Ersteller des Videos schuld und schon gar nicht die Überbringer, die sie schonungslos aufdecken. Es ist unredlich, nun alle Schuld den Enthüllern zuschieben zu wollen.
Und genau das gilt auch für die Texte der Bibel: Das Alte Testament umspannt etwa 1000 Jahre bewegte Geschichte. Weltpolitisch entstanden in dieser Zeit mindestens vier Großreiche und gingen wieder unter. Die Kleinstaaten Israel und Juda waren Spielbälle und leichte Beute der Großmächte. Israel ging unter (722 v. Chr.), Juda folgte 587 v. Chr., inklusive Deportationen, Zerstörungen etcetc. Da ging es nicht immer gesittet und friedfertig zu, wie sich wohl vorstellen lässt. Zum Vergleich: Das Neue Testament berichtet von wenigen Jahrzehnten des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Es gab zwar keine Freiheit, aber auch keinen Krieg – die Zerstörung des zweiten Tempels um 70 n. Chr. ist maximal da und dort in prophetischen Vorausblicken und Anspielungen zu erkennen. Ohne unschöne Szenen geht es freilich auch da nicht zu. Gewalttätig ist etwa Leiden und Tod Jesu oder auch das Martyrium des Stephanus. Die Bibel ist für die Kriege der Weltgeschichte und für Verbrechen an der Menschlichkeit nicht verantwortlich. Im Gegenteil: Dass die Bibel solche Geschehnisse nicht verschweigt, ist ihr großer Verdienst.
Gefahr Pauschalisierung
Ebenso fragwürdig wie den Groll über den Inhalt am Überbringer auszulassen, ist es, aus Frustration über manches schwer Auszuhaltende pauschale Urteile zu fällen – sowohl in der Politik als auch in der Bibel: Weil es einige/manche/viele? Politiker gibt, die sich in unglaublicher Weise danebenbenehmen, bedeutet das nicht, dass „alle Politiker“ genauso agieren.
Und weil im Alten Testament im Kontext der oben skizzierten weltpolitischen Situation manche Befreiungserfahrungen kriegerischer beschrieben werden als im Neuen, bedeutet das nicht, dass „die damals“ oder noch schlimmer: „die Juden“ gewalttätiger wären oder seien als die neutestamentlichen bzw. christlichen Gesellschaften. Dieses Stereotyp findet man dennoch fast so häufig wie die Pauschalverunglimpfung von Politikern: Die Zurückhaltenden meinen, das Alte Testament spiegle einen weniger fortgeschrittenen (ethischen) Entwicklungsstand als das (christliche) Neue Testament. „Die Menschen damals waren eben so.“ Die Radikaleren verlagern ihren Zorn auf alle Verfasser des Alten Testaments und meinen, dieses sei insgesamt weniger wert als das Neue und solle den Gläubigen nicht zugemutet werden. Beides ist sachlich unrichtig und entstammt einer jahrhundertelangen christlichen antijüdischen Polemik.
Vom Nutzen unbeschönigter Nachrichten
Es war wichtig zu sehen, wozu einzelne Politiker in Österreich imstande sind. Es war richtig darüber zu sprechen. Und obwohl ein Blick in menschliche Abgründe deprimiert, ist es notwendig hinzusehen und sie zur Kenntnis zu nehmen.
Ebenso ist es in der Bibel: In der Geschichte der Menschheit haben Gewalt, schonungsloser Konkurrenzkampf und Machtgier ihren festen Platz. Das Alte Testament deckt diesen Zug der Menschen auf und sieht darin die Ursünde der Menschheit. Nicht in der Erzählung vom Essen von der verbotenen Frucht, der hartnäckig als „Sündenfall“ bezeichnet wird – nein, in der Erzählung vom Brudermord Kains an Abel fällt das Wort „Sünde“ zum ersten Mal. Kain beneidet seinen Bruder, er möchte mehr als das, was er hat, und dadurch „lauert an der Tür die Sünde“ (Gen 4,7). Gewalt und das böse Tun der Menschen führen letztlich auch zur Beinahe-Ausrottung der Welt durch die Sintflut (Gen 6-9).
Die Bibel betreibt keine Heldenverehrung. Auch die größten „Helden“ der Bibel wie David, Jakob, Mose werden mit ihrem Fehlverhalten dargestellt. Jakob betrügt, David verdingt sich zeitweise als Freischärler und Wegelagerer oder lässt den Ehemann seiner Geliebten umbringen, um sich Rückfragen wegen der Schwangerschaft der Frau zu ersparen. Mose bringt in jungen Jahren, wenn auch aus Gerechtigkeitsempfinden, einen Mann um. Der weise König Salomo zieht Israeliten zu Fronarbeitern heran. Die Bibel beschreibt Kriege, sie beschreibt Kriegsverbrechen, sie beschreibt Verbrechen an Frauen und Männern und Kindern in vielen unschönen Details. Und diese Verbrechen begehen nicht immer nur die „heidnischen“ Feinde.
Denn es wäre unredlich von der Bibel, zu verschweigen, dass auch das Gottesvolk nicht nur heilig ist. Es wäre unredlich nicht zu erwähnen, dass Gewalt und Machtmissbrauch Realitäten sind, die auch in gläubigen Gemeinschaften oftmals an der Tagesordnung sind. Und es wäre naiv zu glauben, dass es besser ist Fehlverhalten von Menschen nicht zu thematisieren.
„Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“-Mentalität ist der Bibel fremd.
Die Bibel tut das einzig Richtige, was sie tun kann: Sie spricht über das Böse. Sie deckt Machtstrukturen auf. Sie benennt das böse Handeln als das, was es ist, als böse.
Sie gibt uns damit die Gelegenheit uns mit diesen Themen auseinanderzusetzen, Stellung zu beziehen, das eigene Tun zu hinterfragen, nicht die Augen zu verschließen vor dem, wozu Menschen imstande sind. Tabuisierung und „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“-Mentalität ist der Bibel fremd. Nur so kann das Problem gesehen, bearbeitet und vielleicht gelöst werden.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.
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