Eine wachsende Kirche – mitten in Westeuropa? In London gibt’s das offenbar. Über englisch-schweizerische Lernerfahrungen aus reformierter Perspektive berichtet Walter Dürr. Wir starten damit eine kleine Monatsserie zum Thema „Kirchenerneuerung“ (Teil 1).
«Ich mag es nicht, wenn sie ihre Hände in die Luft strecken und so schütteln» sagte Richard Chartres, der damalige Bischof von London zu unserer Reisegruppe. Er wurde noch deutlicher: «I hate their music, and it is way too loud for me». Damit spielte er auf die Veranstaltungen der Holy Trinity Bromton (HTB) Kirche an, von der viele Impulse zur Revitalisierung der Kirche in England ausgehen.[1]
Resurrection der Kirche – gibts das?
Das Studienzentrum für Glaube und Gesellschaft, das an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg / Schweiz angesiedelt ist, war im vergangenen Jahr mit einer Gruppe kirchenleitender Personen verschiedener reformierter Landeskirchen der Schweiz nach London gereist.[2] Anlass dafür gab es genug: Einerseits sprechen die gesellschaftlichen Trends eindeutig gegen die reformierten Kirchen der Schweiz – diese würden «kleiner, älter und ärmer – ganz egal, wie sie sich selber verhalten», so eine Studie von Stolz und Ballif.[3] Dazu in Spannung steht andererseits jedoch der Aufbruch innerhalb der anglikanischen Kirche in England, über den sogar der ECONOMIST unter dem Titel: Resurrection? [4] berichtete. Mit eigenen Augen wollte sich unsere Reisegruppe die Impulse zur Erneuerung der Kirche nun ansehen.
Ich musste vom distanzierten Kritiker zur ‚Hebamme der Erneuerung‘ werden…
Die Worte des Bischofs beruhigten einige der Reformierten. Man muss also nicht laut und charismatisch «so wie die» werden und ihren Stil übernehmen, wenn die «Glut unter der Asche» angefacht werden soll. Richard Chartres zeigte dann auf Graham Tomlin, Bischof von Kensington und Präsident des St. Melitus College und auf Ric Thorpe, Bischof von Islington, und fuhr fort: «Doch die Beiden («Lauten») lieben mich, sie geben mir Ohrstöpsel, wenn ich sie besuche!» Nachdenklich erzählte Bischof Chartres von seinem eigenen Perspektivenwechsel: «Ich musste von einem distanzierten Kritiker zu einer engagierten ‹Hebamme der Erneuerung› werden. Mir wurde klar, dass ein Bischof Raum schaffen und Erlaubnis geben muss für die Aufbrüche in seiner Kirche, auch wenn sie nicht unbedingt seinem Geschmack entsprechen.»
Die Gruppe besuchte auf der Reise sowohl charismatische als auch «high church» Gemeinden, und nahm an klassischen, aber auch an Familiengottesdiensten teil. Nach dem Besuch der Oxford University und dem St. Melitus College reflektierte sie mit Bischof Graham Tomlin und Bischof Ric Thorpe, was das alles für die Schweiz bedeuten könnte. Die beiden Bischöfe hoben ihre Grundeinsichten hervor, welche in ihren Augen die Revitalisierung der anglikanischen Kirche in London ermöglichten.
Generous Orthodoxy als Referenzpunkt
Fundamental sei dabei die Formel der Generous Orthodoxy, die von einer klaren Mitte ausgeht (Jesus Christus) und einen Referenzpunkt bietet (Schrift, Bekenntnis, Kirchenordnungen). Auf der Basis dieser gemeinsamen Mitte könne die anglikanische Kirche in London dann grosszügig sein mit den Formen und Kulturen des gelebten Glaubens. Was Rowan Williams mit «mixed economy» angedacht hatte, sei heute in London vielfältige, spätmoderne Wirklichkeit: Fresh expressions of Church innerhalb und neben den traditionellen Gefässen und parochialen Strukturen. Damit das geschehen kann, brauche es die Vermittlung des Evangeliums, die eine je angemessene Sprache für diverse Kontexte erfordert, sodass die Mitte eines «Was Christum treibet» (Luther) mit der Erfahrungswelt unterschiedlichster Menschen ins Gespräch gebracht werden könne.
Eine neue Ekklesiologie
Damit hänge auch die Frage nach der Kirche zusammen. Aus der zentralen Einsicht, dass keine Tradition oder Denomination die ‹ganze Wahrheit› besitzen könne, folge für die anglikanische Kirche in London, dass die Kirche sich wie ein grosses Haus verstehen müsse, in dem unterschiedlichste Stile und Formen ihre Daseinsberechtigung haben.
Den Aufbruch wirksam werden lassen…
Damit es aus vereinzelten Aufbrüchen an der Basis zu einer veritablen Bewegung innerhalb der Kirchen kommen könne, brauche es drei Dinge, die miteinander ihre Wirkung entfalten müssten.
1. Aufbrüche seien zumeist «grass roots» Bewegungen und bringen die Gemeinden und Gläubigen von unten her in Fahrt. Es gehe dabei um das Entzündet-werden eines jeden einzelnen Menschen von der guten Nachricht durch den Heiligen Geist. Von daher komme der grosse Stellenwert der Alpha-Glaubenskurse (z.B. in der HTB-Gemeinde), in denen sowohl intellektuelle als auch existentielle Fragen im persönlichen Rahmen diskutiert werden können. Diese Form der «Neu-Evangelisierung» ist zwischenzeitlich zu einem Phänomen mit internationaler Ausstrahlung geworden.[5]
2. Doch geistliche Energie «von unten» allein reichte nicht aus, es braucht ausserdem den «Raum von oben». Die Kirchenleitung der Diözese London verstehe ihr geistliches Amt als Auftrag zum Ermutigen (encouragement), zum Segnen (blessing) und zum Erlaubnis geben (permission giving): Da wo geistliches Leben stattfinde, müsse man es unterstützen.
3. Schliesslich trete die theologische Reflexion hinzu, betont Graham Tomlin. Damit ist die gegenseitige Ergänzung von Akademie und Gemeindeleben angesprochen. Kirchliches Engagement und akademische Theologie werden in London zwar unterschieden, sind aber nicht getrennt. Das Bindeglied zwischen den Universitäten und den Lokalgemeinden («parishes») sind neue theologische Ausbildungsstätten, die sich durch eine enge Verknüpfung von theologischer Ausbildung und kirchlicher Praxis auszeichnen. Dem St. Melitus College komme hier eine Vorreiterrolle zu.
Wir wissen zwar, welche Kirche wir nicht wollen. Wir müssen aber darüber reden, welche Kirche wir brauchen.
Diese Impulse aus London sind herausfordernd. Sie stellen einige Fragen an die kirchliche Praxis in der Schweiz – in Deutschland und Österreich wird es kaum anders sein. Da ist erstens die kaum existente Glaubensvermittlung für nicht (mehr) kirchlich Sozialisierte. Menschen verlassen unsere Kirchen reihenweise, sie sind aber nur einzeln auf den Glauben ansprechbar.
Da ist zweitens die fehlende Vision. Wir wissen zwar gut, welche Kirche wir nicht wollen. Es wird aber Zeit, dass wir darüber zu diskutieren beginnen, welche Kirche wir brauchen und wollen.
Dazu braucht es einen Perspektivenwechsel der Kirchenleitungen. Ihre primäre Aufgabe darf es nicht sein, den Niedergang zu verwalten. Ihr Fokus müsse es sein, die Glut unter der Asche zu entdecken und Aufbrüche zu fördern, die es ja durchaus auch hierzulande gibt.
Und last but not least müsse die Gemeinde in der Theologie und die Theologie wieder in der Gemeinde ankommen, es braucht neue Formen der theologischen Ausbildung[6] und vielfältige Katechesen, welche die Relevanz von lebendiger Theologie für das Leben, die Kirche und die Gesellschaft wieder aufweisen können.
[1] Z.B. die Alpha Kurse, 24/7 Gebetsbewegung, Worship Central, Gemeindegründungen innerhalb der Grosskirche etc. Siehe: https://www.htb.org
[2]http://www.glaubeundgesellschaft.ch/fileadmin/user_upload/dateien/Artikel/Reisebericht_Londonreise.pdf
[3] https://www.nzz.ch/duestere_zukunft_fuer_reformierte-1.5371390
[4] https://www.economist.com/news/britain/21685473-parts-established-church-are-learning-their-immigrant-brethren-resurrection
[5] https://alpha.org
[6] Vgl. dazu: https://www.stmellitus.org, für Fribourg z.B.: http://www.glaubeundgesellschaft.ch/forschung-und-lehre/cas/lehrgang-grundfragen-christlicher-existenz/
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Dr. Walter Dürr ist reformierter Pfarrer in Biel/CH. Er gehört zur Landeskirchlichen Gemeinschaft Jahu in der Reformierten Kirche des Kantons Bern. Promoviert hat er im Fach Pastoraltheologie beim katholischen Theologen Leo Karrer. Heute leitet er das Studienzentrum Glaube und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg, das den Dialog zwischen katholischer Theologie und innerprotestantischer Ökumene (Landes- und Freikirchen) unterstützt.