Der Christenmensch ist frei, so die These des morgigen Jubilars Martin Luther. Doch, ist er auch frei, anderen grundlos Leid zuzufügen? Anne Käfer über eine stets aktuelle Lebensfrage.
„Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterhan.“1
Diese prominenten Eingangssätze in Martin Luthers evangelische Programmschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) bringt auf den Punkt, wie die Existenz eines weiblichen, männlichen oder diversen Christenmenschen (idealerweise) beschaffen ist: Er lebt in existentieller Freiheit zum Wohl und Nutzen der Mitgeschöpfe. Evangelische Freiheit dominiert das Handeln des Christenmenschen, der an den menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Schöpfer glaubt.
… in existentieller Freiheit zum Wohl und Nutzen der Mitgeschöpfe.
„Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering, dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß!“ So dichtet Luther in der neunten Strophe des Weihnachtsliedes „Vom Himmel hoch“. Gott selbst war sich um seiner Liebe willen nicht zu schade, in die Welt der Menschen und der Tiere zu kommen, um sie aus ihrer Angst und Not zu erlösen.
Vornehmlich ist es die mehr oder weniger reflektierte Todesangst, die Menschen gefangenhält. Dabei steht der Tod für das Ende aller Möglichkeiten, die während eines Erdenlebens gegeben sind. Der Tod schürt daher die Sorge, während des eigenen Lebens entweder nicht zu genügen oder zu kurz zu kommen.
Um nicht zu kurz zu kommen, meinen Menschen, sie dürften sich die Mitwelt unterwerfen. Sie leben auf Kosten anderer Kreaturen, als wäre allein ihr Leben wert gelebt zu werden. In ihrer Sorge, nicht zu genügen, greifen Menschen nach festen Regeln für ihren Lebensvollzug. Indem sie sich an diese halten, meinen sie ihr Leben in den Griff zu kriegen. Die Aussicht darauf, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten und gar Gott wohlgefällig zu leben, wurde und wird von manchen kirchlichen Gemeinschaften an die Einhaltung bestimmter Ordnungen gebunden. Zu diesen zählen beispielsweise Vorschriften über das Zusammenleben in Ehe und Familie oder über den Verzehr von Speisen.
Um nicht zu kurz zu kommen, meinen Menschen, sie dürften sich die Mitwelt unterwerfen.
Als am 9. März 1522 in Zürich das „Froschauer Wurstessen“ stattfand, wurde das damals verbindliche römisch-katholische Fastengebot verletzt. Dass der Buchdrucker Christoph Froschauer seinen Arbeitern während der Fastenzeit kleine Rauchwursträdchen austeilte, führte zum Eklat. Doch Froschauer begründete sein Vorgehen mit der evangelischen Freiheit, die Huldrych Zwingli in Zürich predigte. Da der Rat der Stadt Klärung dieser Streitfrage verlangte, verfasste Zwingli seine biblisch argumentierende Schrift „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“ (1522). Er macht deutlich, dass mit der Befolgung der kirchlichen Vorschrift, welche den zeitweiligen Verzehr von toten Tieren untersagt, keineswegs Gottes Gnade erwirkt und das christliche Leben aufgewertet werde.
Was sollte das auch für ein Schöpfer sein, der seine Gnade mit menschlichen Werken und gar mit Fleischverzicht verdienen ließe? Es wäre dies unerhört gering gedacht von einem, der Krippe und Kreuz nicht scheut, um seine Liebe zu offenbaren.
Im Vertrauen auf diese Liebe ist der Glaubende von seiner Sorge um sich selbst und sein eigenes Wohlergehen befreit. Ihm ist also die Freiheit gewährt, die wahre Liebe auszeichnet. Denn wahre Liebe sucht nicht egoistisch den eigenen Nutzen, sondern das Wohl des Nächsten. Mit dem „Nächsten“, den das Liebesgebot zu lieben verlangt (Mk 12,29–31), sind keineswegs allein Menschen gemeint. Vielmehr erstreckt es sich auf alle Geschöpfe, deren Dasein doch gleichermaßen in der Liebe des menschgewordenen Schöpfers gegründet ist.
Wahre Liebe sucht nicht egoistisch den eigenen Nutzen, sondern das Wohl des Nächsten.
In Christus wurde der Schöpfer ein bestimmter Mensch, der an einem bestimmten Ort und zu bestimmter Zeit als Angehöriger einer bestimmten Volksgemeinschaft geboren wurde und der dem männlichen Geschlecht zugerechnet wird. Die Eigentümlichkeiten des Inkarnierten bedeuten jedoch keineswegs, dass sich die Liebe des Schöpfers auf Menschen und gar auf bestimmte Menschen beschränkt. Die Liebe des Schöpfers, die sich in Christus zeigt, bevorzugt nicht die einen vor den anderen und rechtfertigt daher auch weder Sklaverei noch Patriarchat. Darauf pocht Paulus: „[I]hr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,27f.; Lutherbibel 2017)
Allzu häufig allerdings wird die christliche Freiheit mit einer Freiheit zum Verzehr von Rauchwursträdchen und Hühnerschlegeln verwechselt.
Diejenigen Menschen, die erleben dürfen, dass Gottes menschgewordene Liebe grenzenlos ist, die sind – wie Luther schreibt – befreit dazu, dienstbare Mägde und Knechte an Gottes Geschöpfen zu sein. Sie sind befreit dazu, selbst in der Liebe zu handeln, die sie in Christus als die Liebe des Schöpfers erkennen. Allzu häufig allerdings wird die christliche Freiheit mit einer Freiheit zum Verzehr von Rauchwursträdchen und Hühnerschlegeln verwechselt. Es gibt nicht wenige getaufte Christenmenschen, die meinen, sie seien frei zu essen, was ihnen beliebt.
Klar ist, dass Christenmenschen mit der Wahl ihrer Speisen kein Heil erwerben. Klar ist aber auch, dass sie der christlichen Liebe nicht genügen, wenn sie sich an ihren Mitgeschöpfen bedienen, anstatt ihnen dienstbar zu sein. Wenn Menschen ihren Mitgeschöpfen Leid antun und Schmerz zufügen, widerstrebt dies der Liebe, die von einem Christenmenschen gefordert ist. Das Liebesgebot wird mit Füßen getreten, wenn Menschen ohne Not tierliches Fleisch verzehren, einfach so, weil’s schmeckt und also ihren Eigennutz bedient.
Das Liebesgebot wird mit Füßen getreten, wenn Menschen ohne Not tierliches Fleisch verzehren, einfach so, weil’s schmeckt und also ihren Eigennutz bedient.
„[V]erflucht und verdampt ist alles leben, das yhm selb zu nutz und zu gutt gelebt und gesucht wirt, verflucht alle werck, die nit ynn der liebe gehen. Denn aber gehen sie ynn der liebe, wenn sie nicht auff eygen lust, nutz, ehre, gemach und heyl, sondern auff anderer nutz, ehre und heyl gericht sind von gantzem hertzen.“2 Christlich-gute Werke sind nach Luther einzig solche, die zum Nutzen und Wohl anderer Geschöpfe geschehen und keinem Eigennutzstreben folgen. Diese Hürde ist hoch und schwer zu nehmen. Gleichwohl sollte an ihr jedes christliche Handeln und also auch die Speisenwahl des Christenmenschen bemessen werden.
Der Weltklimarat hat bereits 2019 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Fleischverzicht dringend nötig sei, um die Erderwärmung zu stoppen, den Klimawandel aufzuhalten und also zukünftigen wie gegenwärtigen Generationen ein lebenswertes Leben nicht zu verwehren.3 Damit ist klar, dass der Christenmensch in seiner Liebe zu anderen Menschen seine Abhängigkeit von Rauchwursträdchen und Schweineschnitzeln überwunden weiß. In seiner Freiheit wählt er eine möglichst vegane Ernährung, um dem Wohl und Nutzen des Nächsten zu dienen.
Da die grenzenlose Liebe des Schöpfers nicht zulässt, das christliche Liebeshandeln in speziesistischer Beschränktheit allein auf Menschen zu richten, weiß sich der Christenmensch auch zur Liebe am tierlichen Mitgeschöpf befreit. Auch an dessen Wohl und Nutzen ist ihm gelegen.
Es besteht aus christlicher Sicht kein vernünftiger Grund, Tiere zur Produktion von Nahrungsmitteln zu verzwecken.
Da in unseren geographischen Breiten eine gesundheitlich unbedenkliche Ernährung ohne tierliche Produkte möglich ist, besteht aus christlicher Sicht kein vernünftiger Grund, Tiere zur Produktion von Nahrungsmitteln zu verzwecken. Vielmehr will der von Eigennutz und Selbstsorge befreite Christenmensch für das Wohlergehen der tierlichen Mitgeschöpfe sorgen. Diese Sorge zielt auf die Freiheit der Mitgeschöpfe, auf ihre Freiheit von Leiden und Schmerzen, auf ihre Bewegungsfreiheit und auf die freie Gestaltung ihres gemeinschaftlichen Zusammenlebens.
Der befreite Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht oder eine dienstbare Magd an Gottes geliebten Kreaturen. Voller Liebe und Lust wendet er sich Ochs und Esel, Schweinen und Hühnern zu, ihre Lebensmöglichkeiten zu bereichern.
Dr. Anne Käfer ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Universität Münster. In Kürze erscheint ihr neues Werk: Gottes Werk und Fleisches Lust. Tierethische Erörterungen aus evangelisch-theologischer Sicht, Darmstadt 2023.
1 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, (12–38) 21.
2 Martin Luther, Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, (229–281) 272.
3 S. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Special Report. Climate Change and Land, 2019, Chapter 5, Food security.
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