Johanna Rahner erinnert in ihrem Nachruf zum Tode Hansjürgen Verweyens an dessen fundamentaltheologische Grundanliegen.
„Der Kaiser – so heißt es – hat dir, dem einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“
Wenn ich hier an Hansjürgen Verweyen und sein theologisches Werk erinnern soll, kommen mir diese ersten Zeilen aus der kurzen Erzählung Franz Kafkas ‚Eine kaiserliche Botschaft‘ in Erinnerung. Ein Text, den Hansjürgen Verweyen in seinen Vorlesungen (u.a. zur ‚Theologischen Propädeutik‘) immer wieder zur Veranschaulichung der zentralen Aufgabenstellung moderner Fundamentaltheologie verwendet hat – vom ‚Ergangensein‘ der Botschaft bis zum träumenden, auf das Ankommen der Botschaft wartenden ‚Sitzen am Fenster‘. Und es geht mir sicher wie vielen, die bei ihm studierten und sich von seiner Art des Theologietreibens haben anregen und begeistern lassen: Es sind weniger die hochkomplexen Diskurse um die Bildphilosophie des späten Fichte, die man mitunter mehrfach ‚hören‘ musste, um sie ‚verstehen‘ zu können, die wirklich ‚hängenblieben‘. Noch sind es die Dispute zwischen Hansjürgen Verweyen, Klaus Müller und Thomas Pröpper um die transzendentalphilosophisch zu erhebenden Gehalte menschlicher Subjektivität, die es mit Blick auf die ontologischen Voraussetzungen des Glaubensaktes und die Reflexion auf eine vernünftige Verantwortung christlichen Gottes- und Offenbarungsglaubens, zu heben galt, die mehr als ‚intellektuell‘ herausgefordert haben. Es sind jene kleinen, in Schule wie Pastoral ‚alltagstauglichen Aufhänger‘, die wirklich ‚Eindruck‘ hinterlassen und die Bereitschaft erweckt haben, sich tiefer auf einen intellektuell herausfordernden, theologischen Ansatz einzulassen und zu eigenem, auch existentiellen Weiter-Denken anregten.
Die Frage nach Gott als Sinnfrage menschlicher Existenz
Das zentrale, in vielfältigen Veröffentlichungen in immer wieder neuen Anläufen erläuterte Anliegen Verweyens kann man zunächst im Bemühen verorten, die Frage nach Gott als Sinnfrage menschlicher Existenz aus dem Wesen philosophischen Fragens selbst heraus zu legitimieren: Dem allen Menschen gemeinsamen, autonomen Vermögen menschlicher Vernunft zu freier vernünftiger Selbstbestimmung wohnt immer auch die Frage nach einem unbedingten, alle verbindenden Sinn inne. Oder wie der, ebenfalls jüngst verstorbene Gerhard Larcher in einer frühen Rezension einmal festhielt: „Verweyen geht ja soweit, Philosophie als einer Art normativer Wissenschaftslehre ausdrücklich das Bedenken eines kommunikablen äußersten Bedeutungs- und Sinnhorizontes, bis zum Begriff einer letzten sinnerschließenden, transzendenten Macht zuzuweisen“. Konsequenz Verweyens: Eine Philosophie, die dies nicht leisten will oder kann, schöpft ihr Potential nicht aus und gibt sich mit dem ‚Vorletzten‘ ihres eigenen Vermögens zufrieden. Und ein Glaube, der diese äußerste Anstrengung des (philosophischen) Denkens scheut, wird sich am Ende des Fundamentalismusverdachts kaum entziehen können. Dass diese äußerste Anstrengung des Denkens mitunter nicht einmal bei renommierten Rezensenten des Verweyenschen Hauptwerks ‚Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie‘ vorausgesetzt werden konnte, ist allenfalls eine werkgeschichtliche Petitesse.
Der Anspruch einer intellektuell redlichen Verantwortung des christlichen Glaubens
Für Hansjürgen Verweyen war eine solche Radikalität des philosophischen (Hinter-)Fragens die notwendige Konsequenz des Gehalts des christlichen Glaubens selbst. Nur eine streng autonome Grundlagenreflexion auf die notwendigen Bedingungen der Ansprechbarkeit des Menschen, die die Dynamik wie Leistungsfähigkeit menschlicher Vernunft wirklich auslotet, genügt dem Anspruch einer intellektuell redlichen Verantwortung des christlichen Glaubens, wenn sie wirklich offen Rede und Antwort stehen will für die Wahrheit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus als tragendem Grund der eigenen Hoffnung (vgl. 1 Petr 3,15). Denn die transzendentale Analyse der Vernunftstruktur der potentiell Hörenden der Botschaft wie die Rekonstruktion eines autonom erzeugten Begriffs letztgültigen, d.h. existentiell tragenden Sinns und die Hermeneutik des befreiend sich erschließenden göttlichen Offenbarungswortes bedingen und respektieren sich notwendig gegenseitig in radikaler, d.h. an die Wurzel beider reichenden Weise.
Diskussionen um die Entstehung und Begründung des Osterglaubens
Wellen geschlagen hat diese Radikalität des Fragens u.a. bei den Diskussionen um die Entstehung und Begründung des Osterglaubens. Den Kern der u.a. mit Hans Kessler und Thomas Pröpper ausgefochtenen Auseinandersetzung bildet formal die jeweilige theologische Bewertung der biblischen Oster-, näherhin Erscheinungserzählungen. Je länger, desto prägnanter spitzt sich der Disput auf die Frage zu, ob der Grund des Osterglaubens im Handeln Gottes am toten Jesus oder aber im Leben und Sterben Jesu selbst zu suchen sei. Dahinter verbirgt sich die zentrale Frage nach der Verortung des entscheidenden geschichtlichen Ereignisses der göttlichen Selbstoffenbarung in Jesus Christus und damit auch die Frage nach der prinzipiellen Erkennbarkeit dieser Selbstoffenbarung in Geschichte: kurz: Es geht um nichts weniger als den erkenntnistheoretischen Gehalt des christlichen Inkarnationsbekenntnisses selbst. So verbirgt sich dahinter die offenbarungstheologisch brisante Frage nach der prinzipiell möglichen Erkennbarkeit Gottes in Welt und Geschichte. Näher am Kern christlicher Gottesvorstellung kann ein theologischer Disput kaum sein und näher an der Frage, wie unter den Bedingungen der späten Moderne überhaupt noch an einen, in menschlicher Geschichte handelnden und daher in dieser Welt auch als wirksam erfahrbaren Gott geglaubt werden kann, auch nicht.
anschluss-, d.h. resonanzfähig für die Grundsituation menschlicher Existenz
Die Antwortversuche Verweyens auf diese Grundfrage kreisen wie eine Ellipse immer wieder um zwei Brennpunkte, die sich mit den Titeln seiner beiden letzten größeren Veröffentlichungen veranschaulichen lassen: Zum einen, das Ringen um einen konsistenten, d.h. auch im Angesicht der Theodizeefrage mit der menschlichen Vernunft vereinbaren, Gottesbegriff, der nur in einer kritischen Analyse aus den eigenen christlichen Traditionsbeständen zu heben ist („Ist Gott die Liebe?“). Dieser Gottesbegriff muss – soll Jesus Christus tatsächlich als Selbstoffenbarung Gottes erkennbar und diese Erkenntnis sowohl vor der menschlichen Vernunft verantwortbar als auch existenziell bedeutsam sein – zum anderen anschluss-, d.h. resonanzfähig für die Grundsituation menschlicher Existenz sein. Sie beschreibt Verweyen als spannungsvoll verortet zwischen der Erfahrung des Camus‘schen ‚absurden Glücks‘ des Augenblicks und der bleibenden Sehnsucht und Suche nach einer letzten, bleibenden Erfüllung der eigenen Existenz, die er mit dem Begriff ‚letztgültigen Sinns’ umschreibt. Ein solcher Sinn ist indes nur in der Dialektik von menschlicher Freiheit und Autonomie und einer, die ganze menschliche Existenz einfordernden Entschiedenheit zu intersubjektiver Anerkennung angemessen, d.h. widerspruchsfrei, auf den Begriff zu bringen. Seine Erfüllung wird im Staunen über jene kurzen Momente gelingenden Miteinander-Menschsein-Dürfens allenfalls ansatzweise erfahren. Das aber sind zutiefst menschliche Erfahrungen, die jene notwendige Sinnhaftigkeit eröffnen, auf die ein ‚Ankommen‘ der Botschaft vom menschgewordenen Gott angewiesen ist („Menschsein neu buchstabieren“).
argumentativ fundierte Kritik
Ein solch reflektiertes Verständnis von Christsein ist nicht nur höchst ambitioniert und zeigt mitunter die Neigung zu einer ‚nervösen Sittlichkeit‘ (so ein früh geäußerter Verdacht Klaus Müllers), es setzt auch jede Gestalt institutionalisierten Christseins, also ‚Kirche‘, vehement unter Druck. So manches in der Entwicklung der Katholischen Kirche der letzten Jahrzehnte, gerade in der ‚bleiernen Zeit‘ der Ära seines eigenen akademischen Lehrers Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., wurde von Hansjürgen Verweyen daher auch einer scharf beobachtenden, unerbittlich dekonstruierenden, aber stets argumentativ fundierten Kritik unterzogen, die man auch nicht einfach als ‚zeitgeistige Polemik‘ denunzieren oder als ‚Diktatur des bloßen Meinens‘ vom Tisch wischen kann. Denn sie nimmt ihre notwendige Tiefe aus der intensiven Beschäftigung mit der, bis heute epistemologisch wie strukturell noch unbewältigten Modernismuskrise, und der sich als frühe Antwort darauf verstehenden theologischen Philosophie Maurice Blondels, dessen Bedeutung Verweyen – wie so manch anderen Grundgedanken – in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ingrid erschloss.
Freundinnen und Freunde
Hansjürgen Verweyen hat sich übrigens stets geweigert, von seinen ‚Schülerinnen und Schülern‘ zu sprechen. Zu wichtig war ihm die Vielfalt der theologischen Neigungen und Interessen, die kreative Buntheit und die intellektuelle Eigenständigkeit all derer, die mit ihm zusammen Theologie betrieben und um das bessere theologische Argument gerungen haben. Er nannte sie lieber Freundinnen und Freunde. Ich habe am 16. Januar diesen Jahres einen guten Freund verloren.
Johanna Rahner, seit April 2014 Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumene an der Kath.-theol. Fakultät der Eberhard-Karls Universität Tübingen und Direktorin des dortigen Instituts für Ökumenische und Interreligiöse Forschung; in den Jahren 1989-1994 und 1997-2003 Mitarbeiterin von Hansjürgen Verweyen am Lehrstuhl für Fundamentalteologie an der Albert Ludwigs Universität Freiburg
Beitragsbild: Graffito an einem Haus in Scuol / Franziska Loretan-Saladin
Porträtfoto: privat