Kristin Merle zum 75. Geburtstag des Praktischen Theologen Wilhelm Gräb
Am 21. August 2023 wäre Wilhelm Gräb 75 Jahre alt geworden. Je länger er tot ist, umso skandalöser erscheint mir die Sache. Was paradox und möglicherweise etwas taktlos anmutet, macht nur Sinn: Wilhelm Gräb, bis 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist für viele als Kollege, Freund und akademischer Lehrer so selbstverständlich in die Strukturen der Lebenswelt Praktischer Theologie eingelassen, dass mir nach seinem Tod am 23. Januar 2023 die Gesprächsaufnahme mit ihm lange Zeit in wiederherstellbarer Reichweite schien.
Überhaupt hatte ich ihn eigentlich für unsterblich gehalten. Akademische Apotheosen sind ja gar nicht so selten. Es mag aber ebenfalls an der vermeintlichen Leichtfüßig- wie Leichtsinnigkeit gelegen haben, mit der Wilhelm Gräb auch unwegsames Gelände durchschritt oder durchlief, wie – sinnbildlich – vor vielen Jahren regelmäßig die sechsspurige Grunerstraße in Berlin. Vorgeschriebene Gehwege, womöglich ausgetretene, waren ihm fremd. Er musste hinein ins Getümmel, in medias res, mit Verkehr und Gegenverkehr, auch der Bundesstraße 1, auf dem Weg zum verdienten Mittagsimbiss in der Kantine des Roten Rathauses.
die Leichtfüßig- wie Leichtsinnigkeit, mit der Wilhelm Gräb auch unwegsames Gelände durchschritt
Leichtsinn und Tiefsinn, beides ging bei Wilhelm Gräb aufs Engste zusammen. Denn Leichtsinn bedeutet ja mitnichten nur, wie einem der Duden weismachen will, „Mangel an Überlegtheit und Vorsicht; Fahrlässigkeit in seinem Verhalten“. Leichtsinn heißt ja auch, zumal im Falle Wilhelm Gräbs, das Existenzielle, auch Abgründige so ausdeuten zu können, dass es in der alltäglichen Lebenswelt lebbar werden und eine religiöse, sich selbst in das Leben einschreibende und sich darin transzendierende Form finden kann. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten sind die Grunerstraßen des Lebens Provokationen religiös gestimmter subjektiver Bearbeitungspraktiken. Und darin lag immer ein zentrales, praktisch-theologisches Interesse Wilhelm Gräbs: den alltagsweltlichen Antworten auf die Provokationen des Lebens in ihrer Eigenlogik auf die Spur zu kommen.
den alltagsweltlichen Antworten auf die Provokationen des Lebens in ihrer Eigenlogik auf die Spur kommen
Nun also, ein gutes halbes Jahr nach seinem Ableben, dünkt es mir, dass er nicht mehr zurückkommen wird, dass alle Gespräche mit ihm geführt und manche Unterlassungen nicht mehr auszubügeln sind. Abgebrochen worden ist eine große, leidenschaftliche Schaffenskraft. Wer ihn kannte, braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass Wilhelm Gräb mit seinem schöpferischen Drang, dem die Praktische Theologie im deutschen wie im internationalen Kontext ausgesprochen viel zu verdanken hat, noch nicht am Ende war: Gründungsmitglied der Schleiermacher-Gesellschaft e.V. und des Arbeitskreis Empirische Religionsforschung e.V., Gründungsherausgeber des International Journal of Practical Theology, maßgeblich beteiligt an der Entwicklung und Einrichtung des Berliner Masters Religion und Kultur.
Auch die Emeritierung war kein Rückzugsargument: Wilhelm Gräb war Mitbegründer und Leiter des Forschungsprogramms Religious Communities and Sustainable Development an der HU und Principal Investigator im Internationalen Graduiertenkolleg Transformative Religion sowie außerordentlicher Professor an der Universität Stellenbosch. Von diesen und weiteren Taten zeugen in umfassenderer Weise die zahlreichen Nachrufe (exemplarisch von der Berliner Fakultät, Birgit Weyel und Dietrich Korsch), die sich, wie könnte es anders sein, alle in der Hervorhebung außerordentlicher Lebensleistungen wie des Verlusts für die Wissenschaft einig sind.
Jeder Geburtstag, jeder Gedenktag ist nun immer auch ein memento mori, besitzt eine transzendierungsoffene Struktur. Die Sinnfrage, die Wilhelm Gräb in immer neuen Anläufen traktiert und religionstheoretisch fruchtbar gemacht hat, schlägt so auch hier zu Buche: Findet sich doch die sinnbedürftige Zeitgenossin vor die Frage gestellt, welcher Sinn dem eigenen Handeln in der Zeit und also der konkreten Gegenwart mit ihren Erfordernissen abzuringen ist – sofern wir in der privilegierten Situation sind, uns darüber Gedanken machen zu können.
welcher Sinn dem eigenen Handeln in der Zeit und also der konkreten Gegenwart mit ihren Erfordernissen abzuringen ist
In unnachahmlicher Weise hat Wilhelm Gräb in seinen Ausführungen nicht nur den Bezug der religiösen Einstellung schreibend mitvergegenwärtigen können: einen in seiner Erschließbarkeit prinzipiell unverfügbaren, aber doch adressierbaren, Kohärenz erzeugenden Sinnhorizont (den „inneren Zusammenhang der Wirklichkeit mit uns selbst“ (2011: 91) wollte und konnte man ihm glauben). Es ist damit auch eine epistemische Struktur beschrieben, die für Glauben und Wissen, für alltagsweltliches Orientierungshandeln wie für Wissenschaftspraktiken gilt. Denn alle Ausgriffe des sinnbedürftigen Menschen auf ein das Partikulare Übersteigendes, Integrierendes bleiben situiert, vorläufig und in ihren Resultaten begrenzt – dabei aber notwendig, sofern es etwas geben soll, das nicht nur bei sich bleibt, sondern über sich hinausgehen, anderes und andere (auf)suchen will.
alle Ausgriffe des sinnbedürftigen Menschen auf ein das Partikulare Übersteigendes, Integrierendes bleiben situiert, vorläufig und in ihren Resultaten begrenzt
Damit werden zugleich alle Ansprüche religiöser Artikulationen abgewiesen, die die Differenz zwischen den bedingten, kulturellen Formen und dem aufs Unbedingte gehenden Sinngehalt bzw. -postulat verschleifen. Das könnte man sicherlich auch als autoritarismuskritische Religionstheorie bezeichnen, die Wilhelm Gräb zeit seines Lebens im engen Gespräch vor allem mit der Theologie Schleiermachers konturiert hat. Und es ist sicherlich nicht allzu verwegen zu notieren, dass gerade dieser autoritarismuskritische Impetus in seiner gesellschaftlichen Relevanz heute von besonderem Gewicht ist – nämlich als Gegengewicht zu all den simplen, auch reaktionären und menschenverachtenden, antiliberalen Antwortversuchen auf eine hochkomplexe weltgesellschaftliche Situation, die nämlich genau das vorgeben: mit einer für die eigene Position reklamierten Letztgültigkeit klare Vorstellungen davon zu haben, was zu glauben und wie zu leben ist.
Das Wort ‚politisch‘ kommt in Wilhelm Gräbs Schriften vergleichsweise wenig vor. Und doch hätte man keine Schwierigkeiten, diese Dimension, die in den letzten Jahren seines Schaffens stärker zum Ausdruck kommt, auch in früheren Schriften freizulegen. Denn die religionstheoretischen Ausarbeitungen haben grundlegend emanzipatorischen Charakter. Das hat mir immer imponiert und tut es auch jetzt noch. Wilhelm Gräb hat kompromisslos Menschen als „souveräne Subjekte ihrer religiösen Selbstdeutung“ (2018: 231) verstanden – und als zentrale Gesprächspartner:innen, wenn es um die Erforschung ‚gelebter Religion‘ geht.
Menschen als ‚souveräne Subjekte ihrer religiösen Selbstdeutung‘ ernst nehmen
In diesem Sinne wird nun auch die Aufgabe der Kirche konturiert, nämlich als Dienst. Dieser besteht nicht darin, „Menschen ‚zum Glauben zu bringen‘, den ‚Glauben weiterzugeben‘, oder wie die Formeln eines autoritätskirchlichen Selbstverständnisses sonst noch lauten mögen“ (235). Vielmehr hält die Kirche für die aus den alltagsweltlichen Lebensvollzügen sich ergebenden Sinnbedürfnisse öffentliche, symbolische Formen der Sinnkommunikation vor, die sie in die Vollzüge intersubjektiver Sinnkommunikation einspielen kann – zu freien Verfügbarkeit. In dieser Perspektive hat Kirche große Potenziale, wenn sie von der Religion der Menschen her verstanden wird, nämlich als ein Raum, „in dem Menschen die ihnen aus den elementaren Bezügen ihres Lebens erwachsenden, aufs Ganze gehenden Selbst- und Sinndeutungsinteressen aufgenommen wissen. Sie ist ein Raum, der die Möglichkeit bietet, sich im Lichte der gehaltvollen christlich-religiösen Deutungstraditionen tiefer über sich zu verständigen und performative Sinnzuschreibungen zu erfahren.“ (236)
Das bedeutet aber auch keine Kapitulation vor der wiederkehrenden säkularistischen Rede gesamtgesellschaftlich zunehmender Religiositätslosigkeit. Vielmehr ist damit präzise auch eine wesentliche Aufgabe der Theologie umrissen, um noch einmal Wilhelm Gräb zu zitieren: „[A]ufgeklärte Theologie erkennt die Leistung des religiösen Bewusstseins darin, nicht in transzendente, übermenschliche und überweltliche Wirklichkeiten zu entfliehen, sondern die Transzendenzdimension der immanenten Wirklichkeit endlichen menschlichen Lebens aus- und offenhalten zu können.“ (229)
‚die Transzendenzdimension der immanenten Wirklichkeit endlichen menschlichen Lebens‘
Das Gedenken an den 75. Geburtstag Wilhelm Gräbs tischt der sinnbedürftigen Zeitgenossin – media vita in morte sumus und daher ins Nachdenken gerufen – einige Früchte auf, die nicht, dem traditionellen Vanitas-Motiv entsprechend, schon halb verfault sind, sondern sich der Einverleibung bzw. der Inkulturation ins eigene akademische Tun dringend empfehlen: unter anderem neben einer autoritarismuskritischen Religionstheorie und einem emanzipatorischen (vor allem subjektorientierten, dann aber auch praxistheoretisch inspirierten) Forschungsprogramm ein epistemologischer Ansatz, der von der Situiertheit und Kontextabhängigkeit religiöser wie akademischer Wissensproduktion ausgeht. Gerade Wilhelm Gräbs Arbeiten in den letzten Jahren zu Religious Communities and Sustainable Development haben begonnen, Desiderate der Diskurse über de-/post-/neokoloniale Situationsbeschreibungen und Verflechtungsgeschichten mit der deutschsprachigen Praktischen Theologie ins Gespräch zu bringen.
Und hier bekommt das Programm der empirischen Erforschung ‚gelebter Religion‘ nun doch einen unverkennbar (mindestens wissenschafts-)politischen Charakter: Die Hermeneutik ‚gelebter Religion‘ hat das Potenzial, zu einer epistemischen Wende beizutragen, indem sie mit einer Dekolonisierung der Wissensproduktion einhergeht. In den Blick zu kommen hat eine Pluralität von Wissensparadigmen, ein Pluriversum des Wissens, das keine Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse zulässt, so Wilhelm Gräb. Dabei geht die Einsicht in die Situiertheit des Wissens Hand in Hand mit einem Verständnis für die notwendige Vernetzung und die Bezogenheit allen Wissens als situiertes.
Die Hermeneutik ‚gelebter Religion‘ geht mit der Dekolonisierung der Wissensproduktion einher.
Ist das Plädoyer für die Erforschung ‚gelebter Religion‘ universal gültig, geht dies aber zusammen mit einer Kritik an Homogenisierung, an einer Idee ‚westlicher‘ Überlegenheiten und mit dem Willen notwendiger Selbstbeschränkung. Zweifelsohne stellt uns die wissenschaftstheoretische wie -praktische Aufgabe der Dekolonisierung des Denkens vor einige Herausforderungen. Sie ist alle Anstrengungen wert, weil sie auf das Ende unterdrückerischer und lebensfeindlicher Denk- und Handlungsmuster abzielt und erst in diesem Erkennen der Relevanz situierten Wissens und Glaubens freilegt, in welcher Weise ‚gelebte Religion‘ zu einer treibenden Kraft von Entwicklung und sozialem Wandel wird.
Es ist an uns, den öffentlichen Diskurs weiterzuführen, den Wilhelm Gräb mit seiner unverkennbaren Stimme über all die Jahre mitgeprägt hat – im Sinne einer Anwaltschaft für die Vielfalt des Lebensausdrucks in der Beschäftigung mit der Frage, „woraufhin wir eigentlich leben wollen“ (13).
Es wäre noch zu viel zu schreiben. Lassen wir uns von Wilhelm Gräb inspirieren. Ein Hoch auf ihn.
Wilhelm Gräb, Lebenssinn und die Frage nach Gott, in: Lebenswissenschaft Praktische Theologie?!, hg. von Thomas Klie u.a., Berlin u.a. 2011, 79–95.
Wilhelm Gräb, Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie, Tübingen 2018.
Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg und berufenes Mitglied der 13. Synode der EKD.
Bild: Philipp Öhlmann