Barbara Staudigl über Frédéric Laloux und seine Vision von Unternehmen, in denen Selbstführung, Ganzheitlichkeit und Sinnantworten gelingen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben die Wahl: Sie können in einem traditionellen Unternehmen arbeiten, sagen wir mal, an einer traditionellen Schule oder in einer Behörde oder in der katholischen Kirche: Der Aufbau ist hierarchisch, die Rollen der Über- und Unterordnung sind klar definiert, Prozesse sind standardisiert und typisiert. Erfolg stellt sich dann ein, wenn Prozesse korrekt ablaufen und Menschen ihre Rollen korrekt übernehmen (vgl. Laloux 2015, 19f). Gut ist, wer seine Rolle gut ausfüllt und Prozesse sauber abwickelt.
traditionell
Sie können aber auch in einer modernen Organisation arbeiten, in der Leistung und Effektivität wichtig sind. Man muss sich der Konkurrenz stellen, Innovationen sind wichtig, um im Wettbewerb zu bleiben. Rollen und Prozesse sind nicht mehr invariabel, aber alle unterliegen dem Druck der Effektivität und der Leistungssteigerung (vgl. Laloux 2015, 23ff). Gut ist, wer Erfolg hat, die Leistung steigert und den Umsatz optimiert.
Oder aber Sie arbeiten in einer postmodernen Organisation. Leistung ist auch hier wichtig, aber im Sinne eines Empowerments werden die Hierarchien flacher, man verlagert Verantwortung und Partizipation nach unten, führt Mitarbeiter:innengespräche, motiviert, hört zu, besinnt sich auf gemeinsame Werte und eine gemeinsame Unternehmenskultur, weil man weiß, dass Menschen erfolgreicher arbeiten, wenn sie sich mit der Firmenkultur identifizieren (vgl. Laloux 2015, 32ff). Gut ist, wer sich einbringt und seine persönlichen Stärken in den Dienst des Unternehmens – und der Effizienzsteigerung – stellt.
von modern zu postmodern
Es gäbe auch noch die so genannten tribalen Organisationen, in denen Alphatiere die Macht besitzen und andere an sich binden, indem sie Loyalität mit der Verleihung von Privilegien belohnen. Gehen wir aber davon aus und hoffen es, dass sich diese Organisationsform nach dem Präsidentenwechsel in Amerika überlebt hat.
Wie entscheiden Sie? Das erste Modell der traditionellen Organisation bietet Ihnen Konformität und Sicherheit; das zweite Modell der modernen Organisationen ermöglicht Ihnen Erfolg und Effektivität, wenn Sie gut sind. Postmoderne Organisationen ermöglichen Ihnen ebenfalls Erfolg, wenn Sie gut sind; als Surplus zu modernen Organisationsformen weiß man hier aber, dass Sie besser sind, wenn Sie als Individuum wahrgenommen und wertgeschätzt werden und wenn Sie sich mit dem Unternehmen und den gemeinsame Werten identifizieren.
Und dann gäbe es noch ein Unternehmen, das anders arbeitet als andere: eine evolutionäre Organisation mit selbstorganisierenden Teams, einem Ernstnehmen des ganzen Menschen und der Bereitschaft, Sinnantworten in die Arbeit zu integrieren. Kann so etwas gelingen?
evolutionär
Frédéric Laloux, ein belgischer Unternehmensberater, hat viele Jahre für die Unternehmensberatung Mc Kinsey gearbeitet. Dabei stellte er fest, dass es Menschen in vielen Betrieben nicht gut geht und dass dies für Mitarbeitende auf allen Ebenen gilt. Es ist schwierig, Mitarbeiter:innen zu motivieren, wenn sie sich nur als Teil eines leblosen Mechanismus erleben, die Ziele eines Unternehmens nicht kennen und weder an ihnen noch einer Unternehmensphilosophie partizipieren können. Geld zu verdienen hält noch keine Sinnantwort bereit. Es geht aber auch Führungskräften schlecht. Für noch mehr Geld wollen viele nicht noch mehr arbeiten, wenn die Work-life-balance dabei nicht mehr stimmt, wenn auf ihren Schultern mehr Verantwortung und Erfolgsdruck lastet, als sie tragen können oder wollen.
Laloux sah viele erschöpfte Mitarbeitende. Und suchte nach Antworten und Alternativen. Er fand gesunde Unternehmen mit motivierten Mitarbeitenden und zufriedenen Führenden, forschte nach dem tertium comparationis dieser Unternehmen und fand es: selbstorganisierende Teams, das Ernstnehmen des ganzen Menschen und das Hören auf den evolutionären Sinn eines Unternehmens.
Hören auf den evolutionären Sinn eines Unternehmens
Das hört sich nach einer alternativen Form von Arbeit an, die Lust macht. Wie aber soll man sich selbstorganisierende Teams vorstellen? Selbstorganisation heißt nicht, dass jeder und jede bei allem mitentscheidet. Es bedeutet aber, dass man Teams die Möglichkeit, Kompetenz und die Rahmenbedingungen zugesteht, gemeinsam zu schauen, was die beste Struktur ist und wer eine konkrete Aufgabe am kompetentesten übernehmen kann. Das bedeutet nicht unbedingt den Verzicht auf eine hierarchische Struktur, wenn diese im konkreten Fall die beste Struktur für bestimmte Problemlösungen oder das Team ist (vgl. Breidenbach/ Rollow, 2019, 15). Doch es bedeutet die Ermöglichung einer Arbeitskultur, in der die Frage nach der Organisation und Kompetenz gestellt und offen diskutiert wird. Das verlangt eine Kommunikations-, Konflikt- und Feedbackkultur, die man erlernen, einüben, zunächst aber vor allem wollen muss.
Kommunikations-, Konflikt- und Feedbackkultur
Wenn der ganze Mensch ernst genommen wird, dann ist er auch am Arbeitsplatz mehr als die Rolle, die er/sie dort innehat. Dann sind Mitarbeitende auch am Arbeitsplatz Mütter oder Väter, sie betreuen alt werdende Eltern, sind einsam oder leben in Trennung, sie haben gesundheitliche Einbrüche und erleben Kummer und Freude. Sie sind mehr als eine Arbeitskraft. Dafür braucht es im konkreten wie im übertragenen Sinn „sichere“ Räume: Regeln, wie man miteinander umgeht (nicht lästern, nicht schimpfen, niemanden ausschließen, niemanden ausspielen) und Zeiten und Räume der Stille und der Reflexion. Acht Stunden oder länger am Telefon, am PC, in Videokonferenzen oder im Kundenkontakt präsent zu sein, womöglich in Großraumbüros, ist anstrengend und erschöpfend. Wo es einen Rückzugsraum gibt und wo Menschen auch das Recht haben, diesen aufzusuchen, sind Regeneration und Sammlung auch am Arbeitsplatz möglich.
Und schließlich geht es um das Hören auf den evolutionären Sinn eines Unternehmens. Das bedeutet, dass die Organisation jenseits des reinen Geldverdienens und der Steigerung ihrer Marktanteile einen sinnvollen Daseinszweck hat, im Auge behält und reflektiert, wohin dieser Zweck führt. Unternehmen sind nicht leblose Betriebe, sondern Organismen, die wachsen, sich verändern, in einem größeren Makrosystem leben, die Gesellschaft prägen. Und für den Zweck und die Ziele eines Unternehmens sind nicht einige wenige Führungskräfte verantwortlich, sondern alle Teile eines Organismus. Es versteht sich von selbst, dass Fragen der Nachhaltigkeit, der Gendergerechtigkeit oder eines Generationenverhältnisses mit reflektiert werden. Im 21. Jahrhundert sollte es nicht mehr um das Paradigma „predict and control“ gehen, sondern um „sense and respond“; darum, allen am Prozess Beteiligten und in einem Unternehmen Beschäftigen Stimme zu geben bei der Frage nach Sinn und Zweck eines Unternehmens.
sinnvoller Daseinszweck
Institutionen in der katholischen Kirche gelten als traditionelle Unternehmen mit eindeutigen Rollen und hierarchischen Strukturen, Über- und Unterordnung und klar definierten Prozessen. Dabei zielt die Botschaft des Evangeliums auf den ganzen Menschen, sieht keine Unter- und Überordnung vor und ist aus sich heraus auf Sinn und evolutionäres Wachstum ausgerichtet. Vom Herrschen und vom Dienen heißt es im Lukasevangelium, Kapitel 22: „Die Könige herrschen über ihre Völker und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste und der Führende soll werden wie der Dienende.“ (Lk 22, 25f).
Eine schöne Einladung, die Botschaft des Evangeliums mit den Aspekten der New-Work-Bewegung zusammen zu lesen und auf Kirche und ihre Institutionen hin zu reflektieren?
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Text und Bild: Barbara Staudigl, Dr. phil., Schul- und Hochschulreferentin der Diözese Eichstätt. Ab März 2021 Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Hochschule in München.
Literatur:
Laloux, Frederic: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015
Breidenbach, Joana/ Rollow, Bettina: New Work needs Inner Work, München 2019
https://www.egonzehnder.com/de/interview-mit-frederic-laloux, aufgerufen am 5.1.2021