Karin Klemm reflektiert das Thema Schuld im Kontext ihrer Erfahrungen in der Spital- und Hospizseelsorge und mit Blick auf den schuldig gewordenen Kain in der Bibel.
Als langjährige Spitalseelsorgerin hatte ich viel Gelegenheit Menschen zu begleiten, die Schuld auf sich geladen haben und daran schwer trugen. Meistens war es eine Schuld innerhalb des Mikrokosmos Familie oder der Partnerschaft. Begleitet hatte ich z.B. alte Frauen, die ganz jung ein Kind zur Adoption freigaben und fortan darüber schwiegen und sich lange oder den Rest ihres Lebens dafür schuldig fühlten.
Auch der Blick auf unsere Katholische Kirche fordert mich zur Auseinandersetzung mit Schuld auf. Soviel Vertuschung, so wenig Verantwortungsübernahme im Umgang mit körperlicher und spiritueller Gewalt, die innerhalb der Kirche geschehen ist und immer noch geschieht. Auch mit der sexualisierten Diskriminierung von Frauen, nach deren Berufung kein kirchlicher Entscheidungsträger offiziell fragt, lädt die Kirchenleitung anhaltend Schuld auf sich. Wir alle in der Katholischen Kirche verspielen den Rest an Glaubwürdigkeit im Umgang mit Schuld und Vergebung, wenn wir nicht endlich anfangen, konsequent nach Verantwortungsübernahme zu fragen.
Ansehen schenken
Ich lasse mich dabei leiten von einer ehemaligen Patientin, die mir als junger Spitalseelsorgerin einmal Anteil gegeben hat an ihrem Weg mit Schuld. Ich folge dem Weg dieser Patientin. Sie hat sich ihrer Familie gezeigt und ihnen Gelegenheit gegeben, ihr Ansehen zu schenken, indem sie von ihrer Schuld erzählte und die anderen ihr Fragen stellen konnten. Sie hat Verantwortung übernommen und sich in ihrer Sehnsucht nach Beziehung gezeigt. Und am Ende dieses Weges gab es tragende Erfahrungen innerhalb ihres Beziehungsgeflechtes. Und ich schaue in die Bibel, in die Geschichte von Kain mit Gott, wo von viel Schuld erzählt wird, ohne nach Vergebung zu fragen.
1. Sich zeigen
Frau M. hat als 17-jährige ihre erstgeborene Tochter zur Adoption frei gegeben und dann jahrzehntelang nicht mehr darüber gesprochen. Am Ende ihres Lebens, mit einer zum baldigen Tod führenden Erkrankung sagte sie zu mir: «Die Adoption der Tochter kann ich nicht mehr rückgängig machen. Diese Tochter ausfindig machen und um Vergebung bitten zu wollen, kommt mir falsch vor. Als ob ich sie nur suchen liesse, um mit erleichterten Gewissen sterben zu können. Ausserdem würde es viel Zeit und viel Begegnungen mit ihr verlangen. Diese Zeit habe ich nicht mehr. Aber dazu stehen möchte ich und aufhören, darüber zu schweigen. Vielleicht kann ich ihr schreiben, wie es damals dazu kam. Und ihr mitteilen, dass ich sie wirklich gerne kennengelernt hätte, aber viel zu lange in Furcht davor lebte, mich mit meiner grossen Scham zu zeigen. Ausserdem kann ich meinen nachgeborenen Kindern erzählen, dass sie eine Schwester haben, die ich weggab und verleugnete. Ich habe mich ja auch an den nachgeborenen Kindern schuldig gemacht, indem ich ihnen ihre Schwester verschwiegen habe.»
aus einer Verantwortung heraus
Als sie – Tage später – anfing, ihren nachgeborenen Kindern davon zu erzählen, tat sie es diesen Kindern zuliebe, nicht um ihre Seele zu erleichtern. In dieser Begegnung fragte niemand nach Vergebung. Es gab viele WARUMs. Die Antworten der Mutter kamen stotternd, weinend, ohne Selbstmitleid, aus einer Verantwortung heraus: «Ja, ich habe Euch Eure älteste Schwester unterschlagen. Das wiegt schwer. Und ich trage schwer. Ihr habt alles Recht, nachzufragen. Denn ich bedaure dieses jahrzehntelange Schweigen zutiefst. Und kann es nicht ungeschehen machen. Aber ich kann es beenden. Ich kann (endlich) traurig darüber sein, dass ich es damals nicht besser wusste. Beschämt und traurig, weil ich Euch gegenüber so verschwiegen war. Ja ich bedaure es zutiefst. Und hoffe, dass Ihr einen Weg findet für Euch, vielleicht mit Eurer Schwester.» Niemand sagte «gräm dich nicht, das ist nicht so schlimm», niemand sagte «aber Mama jetzt auf deinem Sterbebett vergeben wir dir natürlich noch schnell». Aber alle sagten mit der Zeit: «Danke. Danke dass Du Dich damit zeigst.»
In ganz seltenen Momenten wagte Frau M. einen Blick zurück, erinnerte sich an den Moment nach der Geburt, an ihre Tochter. Und gab damit auch diesem kleinen Menschen Ansehen. Unter grossem Schmerz zeigte sie sich mir mit ihrer Sehnsucht, die sie sich damals nicht erlauben konnte. Sie meinte, sie hätte es nicht überlebt.
2. Verantwortung übernehmen
Frau M.
Die Kinder der sterbenden Frau M. wurden ermächtigt, ihre Zukunft zu gestalten mit der noch unbekannten Schwester. Ob sie Kontakt aufnahmen, das weiss ich nicht. Aber sie setzten sich damit auseinander. Der Weg in Verantwortung macht möglich, dass Menschen einander Ansehen schenken und sich zeigen mit ihrer Schuld und ihren befleckten Westen. Keine Weste wurde weisser. Die Schuld daran, dass sie als Mutter solange geschwiegen hat, Geschwister einander verschwiegen hat, blieb.
Schuld, solange geschwiegen zu haben
Zu dieser Verantwortungsübernahme von Frau M. gehörte auch, dass sie die Emotionen ihrer Kinder ertrug: die Fassungslosigkeit, Wut, Enttäuschung. Das waren schwere Momente. Vielleicht machten genau sie möglich, dass sich wie ein leiser Windhauch das Gefühl bei den Kindern einstellte: Ich bin es meiner Mutter wert, dass sie sich zeigt mit ihrer Schuld.
Kain
Nun also der Blick in die Bibel, auf Kain, der seinen Bruder ermordete und daraufhin von Gott vertrieben wurde. Kain stand zu seiner Schuld («meine Schuld ist gross»), nachdem GOTT ihn gefragt hatte «Was hast Du getan?». Ohne Verbindung zur Heimat und zu Gott fürchtete er um sein Leben. «Dann kann ja jeder mich töten, der mich findet.» Daraufhin macht Adonaj ein Zeichen für Kain, das sogenannte Kainsmal, ein Schutzzeichen vor selbsternannten Rächern des ermordeten Bruders[1].
Schuldanerkennung und Schutzzeichen
Mit dem Kainsmal bekam er gesagt: Das soll Dein Zeichen sein und damit sollst Du leben. Und Kain lebte damit, zeigte sich als Gezeichneter. Und mit der Schuldanerkennung und dem Schutzzeichen von Gott gab es für ihn eine Zukunft: Er gründete eine Familie.
3. Ermächtigen
Das Kainszeichen ist nicht Ausdruck von göttlichem Zynismus, mit dem gezeigt wird, was alle sehen sollen: Du bist ein Mörder. Mir scheint das Kainszeichen viel mehr – über den Schutz hinaus – auch ein Ausdruck von Ermächtigung, das heisst: «Du kannst mit Deiner Schuld leben, denn du kannst sie anerkennen, dann kann auch damit Leben gelingen».
Das hat Frau M. gezeigt: So vieles ist ihr mit ihrer Familie am Ende gelungen.
Ein Ringen, um in der Liebe zu bleiben.
Das Kainszeichen hat für mich einen weiteren Aspekt. Es ist Ausdruck von GOTTes Ringen, Kain nicht ganz zu verlieren. Ein Ringen GOTTes, um in der Liebe zu bleiben, wenn eines seiner Geschöpfe zum Mörder wird. Diese Liebe wird durch den Mord an Abel auf eine Probe gestellt. Denn es ist ja nicht egal, was ein geliebter Mensch tut. Und in dem Mass, in dem Kain Verantwortung übernimmt, und versucht mit seiner Schuld leben zu lernen, kann GOTTes Liebe ungebrochener fliessen.
So erzählt die Geschichte vom Ringen GOTTes, in der Liebe zu Kain zu bleiben. Ein wichtiger Schlüssel scheint mir dabei, die direkte Frage: «Was hast Du getan?»
4. Um Beziehung ringen
Als gebürtige Deutsche mit Jahrgang 1964 glaube ich, einen kleinen Teil eines solches Ringens zu kennen, in meinen Klärungsversuchen mit deutscher Geschichte und familiärer Beteiligung. In meinem Suchen nach einer Verhältnisbestimmung zur sogenannten Tätergeneration, die sich jenseits von Vertuschen und jenseits von moralischer Überlegenheit abspielt. Ich habe das Schweigen in meiner erweiterten Herkunftsfamilie erlebt, ebenso die Macht der Tabus. Ich kenne die Distanz, die entsteht, wenn geliebte Menschen im Tabu verharren. Ich will darüber nicht moralisch urteilen. Ich weiss nicht, wie ich mich damals verhalten hätte und ich weiss nicht, ob ich hätte darüber sprechen können. Aber ich weiss, dass Beziehungen mit den Nachgeborenen vom Schweigen sehr belastet werden.
Die Tat nicht ungeschehen machen, aber dazu stehen.
Ich glaube, GOTTes Ringen, in der Liebe zu bleiben, ein Stück weit zu kennen. Als Nachgeborene, die lieben wollte und das Tabu, das nicht-Hinschauen und Schweigen als beziehungsverhindernd erlitten hat. Aber so weit wie GOTT wagte ich nicht zu gehen. Ich stellte die Frage «Was hast Du getan» zu wenig hartnäckig. Das ist meine Verantwortung.
Ich glaube, dass GOTTes Frage «Was hast Du getan» und das Kainsmal Ausdruck dieser Liebe sind. Und Kain ist darauf eingegangen. Er konnte die Tat nicht ungeschehen machen, aber er konnte dazu stehen, konnte seine Schuld anerkennen. Das unterscheidet Kain von den vielen schweigenden Frauen und Männern, die sich als Nazis in Wort und Tat schuldig gemacht hatten und sich nicht dazu bekannten. Kains Bekenntnis ist in meinen Augen etwas von dem Guten, das gelingen kann, ohne seine mörderische Tat relativieren zu wollen. Dennoch gilt für ihn und alle Täter, die Verantwortung übernehmen: «Wenn Dir Gutes gelingt, kannst du stolz sein.»[2] Schuld anzuerkennen ist etwas Gutes!
Beziehungsgeflechte, die von Schuld belastet werden.
Die drei Situationen, Frau M., Kain, die deutschen Nazis, haben in aller Verschiedenheit etwas Gemeinsames: Es handelt sich um Beziehungsgeflechte, die von Schuld belastet werden. Die ersten beiden Geschichten erzählen, wie mit Verantwortungsübernahme Beziehungen neues Leben eingehaucht werden kann. Das hilft mir, damit zu leben, dass es Situationen gibt, wo Beziehung belastet und verhindert wird, weil es keine Schuldanerkennung gibt und keine Verantwortung übernommen wird. Und es ruft mich in die Verantwortung, Fragen zu stellen, um meiner Liebe willen.
5. Vergeben
Zu Beginn des Artikels erwähnte ich den Verlust der Glaubwürdigkeit unserer Kirche im Umgang mit Schuld. Manchmal wünsche ich mir eine kirchliche Fastenzeit für die Vergebung, damit die Frage nach der Schuldanerkennung und Verantwortungsübernahme genügend Zeit und Raum bekommt. Denn Vergebung ist ein Beziehungsgeschehen. Sie braucht einen Weg, auf dem die Frage nach Verantwortung entfaltet werden will. Damit Beziehungen gelingen können und wir erfahren: Wir sind auch mit beschmutzter Weste liebenswürdig.
Fragen stellen und ermächtigen – seelsorgerliche Aufgaben
Vergebung steht am Ende eines längeren Weges, für den es keine Abkürzung gibt. Längst nicht alle Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, sehnen sich danach. Aber die allermeisten sehnen sich nach Beziehung. Manche Menschen brauchen auf diesem Weg seelsorgerliche Begleitung. Vor allem jene, die wie Kain Fragen brauchen, die in die Verantwortung rufen, und Ermächtigung brauchen, das Zutrauen, dass sich mit Schuld leben lässt, und man damit nicht aus der Liebe (GOTTes) fällt. Fragen zu stellen und zu ermächtigen scheinen mir zutiefst seelsorgerliche Aufgaben zu sein.
Die innerkirchlichen Diskussionen darüber, wer welche Kompetenzen beim «Spenden» des Sakraments der Lossprechung hat und vor allem darüber wer sie nicht hat, scheinen mir einem echten Vergebungsweg gegenüber unwürdig. Zumal ich mir als kirchliche Seelsorgerin nicht anmasse, am Ende einer solchen Wegbegleitung jemandem zu verweigern, Vergebung ins Wort zu bringen und dies zu feiern.
6. Sich finden lassen
Die Wege der Verantwortungsübernahme sollen nicht rosarot gezeichnet werden. Aber sich finden lassen, wieder beziehungsfähig werden, das soll uns verlocken und in die Verantwortung rufen.
Danke Frau M.!
Karin Klemm, Hospizseelsorgerin, engagiert in der JuniaInitiative und der Allianz Gleichwürdig Katholisch.
Beitragbild: Franziska Loretan-Saladin
Foto der Autorin: Margherita Delussu
[1] Aus dem Buch Genesis, Kapitel 4, 8 – 16, BigS.
[2] Genesis 4, 6, BigS