Ilse Müllner überträgt die Denkbewegung „Von der Ethik zur Exegese“ auf die Gottesrede und plädiert für ein konsequentes Ernstnehmen bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse eng verschränkt mit der fundierten Analyse gegenwärtiger Gedanken- und sozialer Bewegungen.
René Dausner hat 2015 in Anlehnung an Emanuel Levinas eine Denkbewegung „Von der Ethik zur Exegese“ beschrieben. Das ist natürlich erst einmal irritierend, sind wir es doch gewohnt, zuerst den biblischen Text auszulegen und dann nach Handlungsimpulsen zu fragen, die Ethik als „abgeleitete Größe [wahrzunehmen], die die Bibellektüre und die erforderlichen hermeneutischen Zugangsweisen bereits voraussetzt“.1 Für Levinas aber liegt das Angerufen-Sein durch den Anderen vor der Beschäftigung mit den biblischen Texten, somit bildet der ethische Anspruch den Hintergrund, von dem her wir uns dem Text nähern: „Von der Ethik zur Exegese“.
Ich will dieses Vorgehen analog auf die Gottesrede übertragen, um „Von der Ethik zur Gottesrede“ zu gelangen und das ausgehend von einem biblischen Text tun. Ps 82 schildert einen Gerichtsprozess der Götter. Das religionsgeschichtlich vorausgesetzte System ist noch nicht monotheistisch, es geht von der Voraussetzung mehrerer Gottheiten aus, von denen eine Gottheit sich profiliert. Allerdings gibt es diese Gottheiten nicht „an sich“, sondern immer schon in ihrer Beziehung zur Welt. Und diese Weltbeziehung ist geprägt von Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit. Wenn Gott (אלוהים, ʾelohim) im Kreis der Gottheiten (אלוהים, ʾelohim) Recht spricht, dann geht es um eine einzige Frage: Schaffen diese Gottheiten Recht?
Sind sie imstande, den „Geringen und Armen“ (דל ואביון, dal weʾaevjon, V4) aus der Hand der Frevler*innen zu befreien und damit Gerechtigkeit herzustellen? Der auch aus anderen Psalmen bekannte Ausruf „wie lange noch“ (עַד־מָתַי, ʿad-matai) in V2 (vgl. Ps 74,10; 80,5 u. a.) verweist auf die Dringlichkeit göttlichen Eingreifens und auf die Bedrohlichkeit einer Lage, in der Gottheiten ungerecht richten – womit sie ein Spiegelbild der irdischen Verhältnisse darstellen. Die Fremden, Witwen und Waisen, die Armen und Schwachen werden immer weiter ausgebeutet. Und jetzt kommt sozusagen die Pointe, an der der Eine Gott ins Spiel kommt: An den herrschenden ungerechten Verhältnissen werden die Gottheiten zum Tode verurteilt, sozusagen als Tatstrafe. Die regierenden Gottheiten können gar keine Gottheiten sein, wenn sie sich nicht für die Gerechtigkeit einsetzen. Ebenso wie die im Auftrag der Götter regierenden Könige nur dann ihrem Amt gerecht werden, wenn sie für Gerechtigkeit sorgen (Dtn 17; 1 Kön 3; Ps 72). Bernd Janowski schreibt in einer Auslegung zu Ps 82:
Göttlichkeit und Gerechtigkeit hängen ebenso zusammen wie Gerechtigkeit unter den Menschen und das Wohlergehen der Schöpfung.
Der „Begriff des Göttlichen [wird hier] vom Begriff der Gerechtigkeit her definiert: ‚Götter‘ und ‚Söhne des Höchsten‘ sind somit nicht das, was sie zu sein vorgeben – nämlich Instanzen, die Recht und Gerechtigkeit in der Welt des Menschen garantieren und darin das Antlitz des wahren Gottes zu erkennen geben.“2 Mit dieser Konzeption des Göttlichen zeigen sich die biblischen Texte als Kinder ihrer Zeit und sind m. E. gerade darin in erschreckender Weise aktuell. Göttlichkeit und Gerechtigkeit hängen ebenso zusammen wie Gerechtigkeit unter den Menschen und das Wohlergehen der Schöpfung, ja sogar die kosmische Ordnung und damit die Existenz dieser Welt insgesamt.
Ausgehend von der ägyptischen Göttin Ma’at hat der Ägyptologe Jan Assmann den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Weltordnung hergestellt, der im Alten Orient in der menschlichen Figur des Königs realisiert werden muss. Weshalb der König auch Gesetzgeber ist. Viele Aspekte davon finden wir im biblischen Gottesbild und in der biblischen Konzeption des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Weltordnung wieder. Allerdings gibt es auch einen markanten Unterschied: Die Könige Israels sind keine Gesetzgeber. Sie sind selbst der göttlichen Gesetzgebung unterworfen. Wo der altbabylonische König Hammurapi im Prolog seines Gesetzes als Garant von Ordnung und Gerechtigkeit eingeführt und damit das Gesetz auf ihn als Gesetzgeber zurückgeführt wird, ist in der biblischen Gesetzgebung Gott derjenige, der mit der Gabe des Landes auch für die Gabe der in der Tora integrierten Gesetze steht. Daraus folgt, dass der König selbst der Tora unterworfen ist, eine Zweitschrift der Tora (ein δευτερονόμιον, Dtn 17,18) zu besitzen, täglich darin zu lesen und sich an den Weisungen zu orientieren hat. Also nicht zu viele Pferde (Kriegsgerät) halten, nicht zu viel Silber und Gold haben, damit er das Volk nicht nach Ägypten zurückbringt.
Die Tora ist also nicht vom König, sondern von Gott durch die Vermittlung des Propheten Mose gegeben, sie ist der Institution des Königtums außerdem zeitlich (im Sinn des biblischen Plots) und räumlich (durch die Übergabe am Sinai) vorgelagert. Das stärkt die kritische Funktion der Tora gegenüber allen Machtansprüchen, die Amtsträger*innen in Israel erheben können.
Zusammenfassend lässt sich formulieren: Die Göttlichkeit Gottes entscheidet sich an Gottes Eintreten für die Gerechtigkeit und daran, dass er als richterliche Instanz in der Not angerufen werden kann: Von der Ethik gelangen wir mit Ps 82 zur Gottesrede. Von dieser Göttlichkeit geht aber – und das ist nun die Gegenbewegung „Von der Gottesrede zur Ethik“ – auch ein Impuls zur menschlichen Gerechtigkeit aus, an dem sich alle messen lassen müssen. Die strukturelle Verbindung von göttlicher Offenbarung der Tora und Prophetie als Gegenüber aller menschlichen Institutionen ist in sich machtkritisch.
Die Erfahrung von Rettung und Befreiung bildet das Fundament, auf das jeder moralische Imperativ aufbaut.
Der ethische Anspruch hängt nicht in der Luft, er ist selbst wiederum grundgelegt im Befreiungshandeln Gottes. Die Verschränkung von erzählenden und regulativen Texten zeichnet die literarische Form der Tora aus. Was Goethe als sprachlicher Stolperstein erschienen war, nämlich, dass in den fünf Büchern Mose der „Gang der Geschichte überall gehemmt durch eingeschaltete zahllose Gesetze“ 3 und so der Lesefluss behindert wird, ist der genuine Doppelcharakter der Tora Israels. Die Tora verbindet Erzählung und Weisung zu einem theologisch stimmigen Ganzen. Die regulativen Texte sind eingebettet in die großen Gründungserzählungen der Menschheit und Israels. Vor allem die Erfahrung von Rettung und Befreiung, die im biblischen Exodusmotiv zum Ausdruck kommt und immer wieder neu in Israels Geschichte aktualisiert wird (etwa in der Rückführung aus dem babylonischen Exil) bilden die Grundlage jedes moralischen Imperativs. Zuerst steht die Erfahrung der Befreiung, und die daraus gewonnene Freiheit gilt es zu bewahren.4 So steht noch vor jedem Gebot im Dekalog, dem Zehnwort der ethischen Basissätze, die Erinnerung an Gottes Befreiungshandeln an Israel:
„Ich bin JHWH, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus.“ (Dtn 5,6 // Ex 20,2)
Allzu oft vergessen wir, wenn es um die Zehn Gebote geht, diese Überschrift und steigen direkt mit dem „Du sollst“ ein. Das ist sowohl exegetisch falsch als auch menschlich bedenklich. Denn jedem Anspruch geht ein Zuspruch voraus, und jede ethische Grundhaltung stützt sich auf die Erfahrung des Angenommenseins. Erst auf der Basis der Befreiung im Exodus kann der Anspruch an das Volk formuliert werden, diese gar nicht selbstverständliche Freiheit durch das Halten der Tora zu bewahren.
Das gerechtigkeitsschaffende Befreiungshandeln Gottes und der ethische Impuls zur Gerechtigkeit stehen in einem Wechselverhältnis. Sie bestärken einander wechselseitig, und zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit gibt es eine enge Beziehung, die in der alttestamentlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit grundgelegt ist, in der Inkarnation Jesu Christi zu ihrem vollen Ausdruck kommt und in unterschiedlichen Sprachspielen immer wieder in biblischen Texten auftritt. Die Gottebenbildlichkeitsaussage von männlich und weiblich in Gen 1,26–27 steht mit dem Herrschaftsauftrag in enger Verbindung. Das levitische Heiligkeitsgesetz formuliert den Anspruch „Seid heilig, weil (כי, ki) ich heilig bin.“ (Lev 11,44), was mit der Herausführung aus Ägypten begründet wird. Und der matthäische Jesus formuliert in der Bergpredigt: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48) Gemeinsam ist diesen Formulierungen, dass sie alle in der Zuwendung Gottes grundgelegt sind und aufs Handeln der Menschen zielen.
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Ilse Müllner
Prof. Dr. Ilse Müllner, Professorin für Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Altes Testament an der Universität Kassel.
Bild: Totengericht mit der Wägung des Herzens, aus dem Totenbuch von Hunefer (19. Dynastie, Zeit Sethos I, um 1300 v. Chr). British Museum. https://www.britishmuseum.org/collection/object/Y_EA9901-3
- Dausner, René, Von der Ethik zur Exegese. Ein fundamentaltheologischer Beitrag zur Bibelhermeneutik im Anschluss an Emmanuel Levinas, in: Fischer, Norbert/Sirovátka, Jakub (Hg.), Vernunftreligion und Offenbarungsglaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte Band 16), Freiburg u. a. 2015, 486. ↩
- Janowski, Bernd, Der göttliche Richter und seine Gerechtigkeit, in: Assmann, Jan/Janowski, Bernd/Welker, Michael (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen (Reihe Kulte, Kulturen, München 1998, 23. ↩
- Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan (Insel-Taschenbuch 75), Frankfurt am Main 81988, 213. Vgl. Zenger, Erich/Frevel, Christian: Die Tora/der Pentateuch als Ganzes, in: Dies. (Hg.): Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer-Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart 92016, 83–86. ↩
- Vgl. die Titelformulierung von Crüsemann, Frank, Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, Gütersloh 21998. ↩