Warten und Sprachlosigkeit prägen oft die Situation asylsuchender Menschen. Das Erlernen der neuen Sprache ist Selbstermächtigung und Angebot zugleich. Von Ingrid Hable.
Ohne Naivität flieht man nicht.
In einer kurzen Sequenz seines Romans Histoire de la violence lässt Édouard Louis den Ich-Erzähler an seine Flucht zurückdenken: dass es naiv war zu fliehen, dass er damals naiv war, aber dass diese Naivität auch notwendig war, um fliehen zu können. Denn „ohne Naivität flieht man nicht“.[1] Der Glaube an die Möglichkeit eines anderen, eines besseren Lebens ist eine notwendige Bedingung dafür, wegzugehen.
Weggehen
Die im Roman erinnerte Flucht des Ich-Erzählers führte ihn nicht aus Frankreich, aus dem Land, in dem er geboren wurde, hinaus. Dennoch war es ein radikales Weggehen: aus dem „Lumpenproletariat“, wie der Autor selbst in einem Interview sagte, hinaus und hinein in ein neues Leben, in eine neue Kultur und, ja auch das, in eine neue Sprache.
Moderne Gesellschaften nehmen für sich selbst in Anspruch, dass es den Menschen in ihnen möglich sein soll, wegzugehen aus Bedingungen, die subjektiv nicht mehr erträglich sind: aus einer Beziehung, aus einer Nachbarschaft, aus einem beruflichen Umfeld. Vielleicht auch aus einem Milieu, aus einer Familie. Es ist geradezu eine Verpflichtung geworden, auf sich selbst zu schauen, seine eigenen Entfaltungsmöglichkeiten nicht einschränken zu lassen, eben nicht in duldender Passivität zu verharren, sondern aktiv zu werden, um etwas für sich selbst zum Besseren hin zu verändern, es zumindest zu versuchen.
Über die dabei entstehenden Risse und Verletzungen sieht diese Forderung oft hinweg, sie sind kaum im Blick und dürfen gar nicht allzu sehr im Blick sein, wenn es doch für das Individuum darum geht, sich aus einer Situation der erlebten Aussichtslosigkeit und der Erstarrung zu befreien, eine Flucht zu wagen.
Flüchtlinge sind nicht nur die anderen, sind nicht nur diejenigen, die aus fernen Ländern nach Europa kommen.
Doch natürlich gibt es auch diese anderen aus fernen Ländern, diejenigen, die etwa in Österreich oder in Deutschland um Asyl ansuchen. Auch sie haben sich das traurige Recht genommen, wegzugehen aus nicht mehr erträglichen Bedingungen. Auch für sie war das nur möglich, weil sie den naiven Glauben hatten, dass es ein besseres Leben für sie geben könne, ja geben müsse, und wenn nicht für sie, dann zumindest für ihre Kinder.
Sprachlosigkeit und Warten
Diese Menschen befinden sich in einer Situation, die insbesondere geprägt ist von mehrfachem Kontrollverlust. Die Kompetenzen, mit denen sie bisher ihr Leben meisterten, werden oft kaum gesehen, und sie haben ihre selbstverständliche sprachliche Souveränität verloren. Sie sind angewiesen auf Bekannte und Verwandte, die schon ein wenig besser Deutsch können, auf Übersetzungen, aber wesentlich auch auf das Verstehen-Wollen anderer, auf Respekt und ein wenig Geduld. Oft kennen sie die expliziten Regeln eines Asylverfahrens nicht genau genug, und die unzähligen impliziten Regeln, die das neue soziale Umfeld prägen, werden nur nach und nach klar.
Ihr Aufenthaltsstatus ist unsicher, es dauert oft viele Monate bis zur – wohl gleichermaßen ersehnten wie mit Angst erwarteten – Einvernahme, dem „Interview“, und damit bis zu einer Entscheidung, ob sie hierbleiben und damit tatsächlich ankommen dürfen oder nicht.
In dieser Phase sind zwar fürs erste die Mühen und Gefahren der Flucht überstanden, doch der Zustand einer gefühlten und tatsächlichen Sicherheit ist bei weitem noch nicht erreicht. Asylsuchende sind in hohem Maße ausgeliefert: den staatlichen Strukturen, dem Umfeld, dem sie begegnen, den Entscheidungen, die über sie und über das, was sie berichten können, getroffen werden. Sie müssen warten, wie die Würfel fallen.
Sitting here in Limbo
Waiting for the dice to roll.
Yeah, now, sitting here in Limbo,
Got some time to search my soul.
Well, they’re putting up a resistance,
But I know that my faith will lead me on.[2]
Ankommen
Einige der Menschen, die hier um Asyl ansuchen, lerne ich in meinen Deutschkursen kennen. Derzeit unterrichte ich einen Kurs im Bereich der Basisbildung und Alphabetisierung beim Verein Danaida in Graz,[3] einer Beratungs- und Bildungseinrichtung für Migrantinnen. In diesem Kurs sind Frauen, die an eine Chance für sich und für ihre Familien glauben, die sich Ausbildung und Arbeit wünschen, die aber noch keinen Asylbescheid haben. Das Warten darauf lässt sich nicht verkürzen, aber gegen ihre Sprachlosigkeit erobern sie sich Schritt für Schritt und Wort für Wort eine neue Sprache.
Die Flüchtlinge, die hier Asyl suchen, entscheiden sich nicht aus sprachlichem Interesse oder aus emotionalen Gründen für das Erlernen des Deutschen. Ihr Sprachenlernen ist vielmehr eine klare Investition in die eigene Zukunft. Diese Investition verlangt viel an Mühe und Zeit, wird aber bewusst mit dem Ziel getätigt, in diesem Land möglichst bald ein selbstbestimmtes und selbstwirksames Leben aufnehmen zu können.
Dafür braucht es viel mehr als die Beherrschung der wichtigsten Floskeln im Alltag. Migrantinnen und Migranten stehen vor der Herausforderung, in einer neuen Sprache wieder eine eigene Stimme zu finden, in der sie sich ausdrücken können, in der sie verstanden und gehört werden.[4]
Sprachenlernen als Angebot des Kontaktes
Nun ist keine Sprache abgetrennt von ihren Sprecherinnen und Sprechern zu erleben, und wer eine neue Sprache lernt, öffnet sich nicht nur für diese fremde Sprache, sondern macht damit gleichzeitig ein Angebot des Kontaktes und des Austausches an die Menschen, die sie sprechen.
Für all das braucht es Mut und Vertrauen in sich, in die anderen, aber auch in die neue Sprache: dass sie überhaupt dazu taugen wird, das auszudrücken, was wichtig ist, und dass sie sich erobern lassen wird. In diesem Prozess kann der Sprachunterricht mithelfen, den Ausdruck des Eigenen in der neuen Sprache zu fördern und die Lernenden in der neuen Sprache willkommen zu heißen.
Denn jeder Sprachunterricht vermittelt zunächst einmal, dass Verständigung möglich ist. Das ist zugleich seine Grundlage wie sein Ziel.
Verwendete Literatur
Januschek, Franz (2016): „Flucht_Punkt_Sprache“. Editorial. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Heft 89, S. 7-16.
Plutzar, Verena (2016): Sprachenlernen nach der Flucht. Überlegungen zu Implikationen der Folgen von Flucht und Trauma für den Deutschunterricht Erwachsener. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Heft 89, S. 109-133.
Ingrid Hable MA ist Mitarbeiterin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz, Germanistin und Trainerin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
Photo: Ingrid Hable
[1] „… bien sûr je sais que c’était naïf, que j’étais naïf, mais je sais aussi, depuis, que la naïveté est une condition de la fuite. Que sans naïveté on ne fuit pas.“ (Édouard Louis, Histoire de la violence. Roman, Éd. du Seuil 2016, S. 66); vgl. zu dieser Flucht auch Édouard Louis, En finir avec Eddie Bellegueule. Roman, Éd. du Seuil 2014.
[2] Zeilen aus Jimmy Cliff, „Sitting in Limbo“, auf dem Album Another Cycle (1971).
[3] Danaida – Bildung und Treffpunkt für Frauen, http://danaida.at.
[4] Verena Plutzar führte das in ihrem Vortrag „Sprachenlernen nach der Flucht. Psychologische Aspekte von Flucht und Migration und ihre Implikationen für den Unterricht“ aus, den sie als Auftakt der Tagung „Mit Sprache Grenzen überwinden“ (veranstaltet vom Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, 30.6.-1.7.2017) hielt.