Man kann nur schützen, was man liebt. Mit Dorothee Sölles Mystik und Widerstand sucht Simon Wiesgickl nach einer widerständigen Schöpfungsspiritualität.
In einem ihrer letzten Bücher hinterlässt Dorothee Sölle eine Gebrauchsanleitung für eine Spiritualität von heute. Mystik und Widerstand (1997) inspiriert dazu, die Natur als Ort der Gottesbegegnung zu entdecken.[1] Aber das Versprechen ist noch größer: Wer sich aufmacht, unseren ausbeuterischen Umgang mit der Schöpfung zu überwinden, wird selbst transformiert werden. Eine widerständige Schöpfungsspiritualität erscheint mir gerade jetzt attraktiv für eine enttäuschte Generation Greta, ausgebrannte Baby Boomer und spirituell Suchende.
attraktiv für eine enttäuschte Generation Greta, ausgebrannte Baby Boomer und spirituell Suchende
Dorothee Sölle spricht von einer Reise, die aus drei Etappen bestehe: Staunen – Loslassen – Widerstehen. Am Anfang steht nicht die Reinigung, sondern das Staunen. Die Reinigung fängt mit der Welt nach dem Sündenfall an. Mit unseren Schwächen und Unzulänglichkeiten. Das Staunen geht dahinter zurück. Zu dem Zeitpunkt, als die göttliche Stimme voller Freude am Anfang aller Schöpfung spricht: Und es war sehr gut (Gen 1,31).
Dorothee Sölle wünscht sich eine Mystik der großen Augen. Die ergriffen und begeistert funkeln vor kindlicher Begeisterung. Das kindliche Staunen über das Wunder der Schöpfung. Über die vielen kleinen Wunder am Wegesrand, die so oft übersehen bleiben. Und auch für das Ziel dieses Weges geht Sölle kreativ mit der Tradition um. Am Ende der mystischen Reise steht nicht die Entrückung, sondern die Transformation einer Welt in der ökologischen und wirtschaftlichen Krise: via transformativa.
eine Mystik der großen Augen
Die Umweltkrise hat sich in den letzten Jahren stets zugespitzt. Und so überrascht es nicht, dass Sölles Weg der mystischen Umkehr ein immer größeres Publikum findet. Im Herbst 2013 hat der Ökumenische Rat der Kirchen in Busan einen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens beschlossen. Auf diesen Pilgerweg sollen sich Menschen weltweit begeben und dabei die positiven Gaben der Schöpfung feiern, sich mit den Wunden der Erde beschäftigen und Ungerechtigkeiten verwandeln. Hier taucht die via transformativa wieder auf.
Konkretisiert wird sie in sogenannten Kraftorten und Schmerzpunkten. Kraftorte können ganz konkrete Projekte sein, wo Menschen schon etwas anders machen und achtsam ihren Mitgeschöpfen begegnen. Schmerzpunkte sind die Orte, an denen unser selbstmörderischer Umgang mit der Natur offensichtlich wird. Der Tagebau, das Autobahnkreuz, die Agrarfabrik. In Deutschland haben die Impulse aus Busan die Initiative eines ökumenischen Klimapilgerns begründet. Der Klimapilgerweg soll ein sichtbares Zeichen für ein gerechtes und verbindliches Klimaschutzabkommen sein und zeigen, wie sehr die Sorge um Gottes gute Schöpfung auch Christinnen und Christen bewegt.
Kraftorte und Schmerzpunkte
Einen Aufschwung erhielt der Kampf um das Klima innerhalb der Kirchen auch durch die erste Enzyklika des Papstes Laudato Si (2015).[2] Darin ruft Franziskus alle Menschen guten Willens auf, sich dafür einzusetzen, dass der Ausstoß der besonders klimaschädlichen Emissionen so schnell wie möglich reduziert wird. Theologisch greift der Papst auf eine Vielzahl an Traditionen zurück. Er nimmt die Kritik seines Vorgängers Benedikt XVI. an einem sich selbst absolut setzenden menschlichen Freiheitsverständnis auf. Darin klingen, ohne dass das explizit benannt wäre, viele Gedanken zum Schlagwort der Vulnerabilität mit an. Vor allem feministische Theologinnen haben darauf hingewiesen, wie sehr das Thema der Verletzlichkeit und damit der menschlichen Grenzen die Bibel und die christliche Anthropologie durchzieht. Die Klimakatastrophe führt uns das Scheitern des Homo Faber und seines technisch-rationalistischen Zugriffs auf die Welt vor Augen.
Papst Franziskus spricht befreiungstheologisch von struktureller Sünde. Bereits in den einleitenden Abschnitten wird der imperiale Lebensstil als Sünde gegeißelt, deren äußeres Zeichen ein dramatischer Schwund an Biodiversität, deren innere Haltung jedoch mangelnde Achtung vor der Heiligkeit und Sakramentalität der Schöpfung sei.
Franziskus: Kritik an einem sich selbst absolut setzenden menschlichen Freiheitsverständnis
Angesichts solcher Analysen, die vielfach den wissenschaftlichen Kenntnisstand aufnehmen und sich sprachlich nicht nur an die Kerngemeinde richten, stellen sich jedoch einige Fragen: Wozu braucht es überhaupt eine Ökospiritualität? Würde es nicht reichen, einfach auf die Wissenschaft zu hören?
Ich möchte die mystische Dimension der Schöpfungsspiritualität hervorheben, da hier meines Erachtens Schätze zu heben sind, die noch zu wenig wahrgenommen werden. Das Erste ist der Beginn mit dem Staunen. Während meines Freiwilligen Ökologischen Jahres bei einer Naturschutzorganisation im Wattenmeer hatten wir den Slogan: „Man kann nur schützen, was man kennt.“ Ich würde heute sogar noch einen Schritt weiter gehen. Scham („How dare you?“), schwarze Pädagogik und Apokalyptik mögen Menschen herausfordern, sich mit der Klimaproblematik umfänglich auseinanderzusetzen. Aber haben wir das Problem, dass wir zu wenig wissen? Eher nicht.
Scham, schwarze Pädagogik und Apokalyptik treffen das Hirn, aber nicht das Herz.
Doch um etwas zu verändern, neue Verhaltensweisen, politisches Bewusstsein und ökologische Radikalität einzuüben, braucht es nicht das Hirn, sondern das Herz: Man kann nur schützen, was man liebt! Beim Klimapilgern, das wir als eine Gruppe in Nürnberg für fünf Jahre durchgeführt haben, waren es gerade die Erzählungen von Menschen, die etwas anders machen, die am tiefsten berührt haben. Und jedes Mal beim Nachtreffen hat sich gezeigt, dass von solchen Momenten des Staunens die nachhaltigsten Veränderungen bei unseren Teilnehmer*innen ausgegangen sind.
Man kann nur schützen, was man liebt!
Der zweite Schritt, das Loslassen, ist genauso entscheidend. Bei allen Protesten und sozialen Bewegungen zeigt sich, dass sich schnell Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und ein Gefühl des Ausgebranntseins einstellen können. Und hier hat die christliche Tradition viele Wege, die einladen, sich auffangen zu lassen von einer Gemeinschaft, die sich auskennt mit Scheitern, Trauer und Wut. Vor einigen Jahren haben wir als Befreiungstheologisches Netzwerk einmal etwas geschrieben über Amos beim Schottern.[3] Ich freue mich schon auf Talitha im Tagebau oder die Psalmenbeterin bei der Fahrraddemo. Auch ganz kurzfristig beruhigt Natur den Puls und die Seele des Menschen. Es hilft mir, zu meinem Atem zurückzukommen, wenn ich draußen bin. Und mich als Teil von etwas Größerem gleichzeitig nicht mehr ganz so wichtig und unheimlich geborgen zu fühlen.
geheilte Heiler*innen
Zuletzt: Es gibt das schöne Wort, dass jede Pilgerin und jeder Pilger verwandelt zurückkommt. Und auch das Klimapilgern verwandelt. Dorothee Sölle beschreibt die Erfahrung des Widerstehens als compassion: Mitgefühl und Mitleiden. Aber auch als Erfahrung, sich selbst als heilend wahrzunehmen. Der Widerstand gegen die Autobahn, das Gewerbegebiet oder das Übermaß an Parkplätzen in der Innenstadt führt meistens nicht zu schnellen Erfolgserlebnissen. Aber dazu, sich als Gemeinschaft von Heilenden zu entdecken. Wie die Jüngerinnen und Jünger Jesu sich als „geheilte Heiler*innen“ in der Nähe Jesu erfahren konnten, so lässt sich auch der mystische Weg einer widerständigen Schöpfungsspiritualität verstehen: Das Mitbauen am Traum von einer anderen Welt heilt Risse und schafft die Hoffnung, die uns trägt.
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Pfarrer Dr. Simon Wiesgickl unterrichtet am Lutheran Theological Seminary in Hongkong evangelische Theologie.
Bild: Aaron Burden / unsplash.com
[1] Eine Neuauflage erschien 2014 beim Herder Verlag. https://www.herder.de/religion-spiritualitaet-shop/mystik-und-widerstand-ebook-(epub)/c-38/p-3168/
[2] Abzurufen unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/2015-06-18-Enzyklika-Laudato-si-DE.pdf.
[3] http://www.befreiungstheologisches-netzwerk.de/?page_id=922.