„Man schickte mich fort, in ein fernes Land, auf heikle Mission. Die Mission hieß Doktorat. Das Land war die Bibel. Ich vermaß es und wähnte mich ungestört. Ich vergaß kurzerhand, wem das Land gehört.“ Ein Rückblick von Daniela Feichtinger.
„Grüß Gott.“, sagte Gott, weil er Humor hat. Er stieß bei einem seiner Spaziergänge auf mich. Wie gern er spazieren geht, ist seit dem Anfang der Bibel hinlänglich bekannt. „Wir reden nachher.“, gab ich zu verstehen, ohne den Blick vom Maßband zu heben. „Jetzt muss ich erst einmal meine Arbeit tun.“
Tag um Tag ging ich dabei gleich vor: Allmorgendlich überquerte ich die Landesgrenze. Auf einem Fleckchen Erde, das ich mir wie einen Tatort abgesperrt hatte, grub und schaufelte ich, und nickte Gott zu, wenn er wieder einmal an meiner Baustelle vorbeikam. Als ich zusehends die schönen Proportionen seiner Gartenanlage begriff, machte ich ihm Komplimente, die ihn augenscheinlich amüsierten. – Ins Gespräch kamen wir nie.
Es waren unheimliche Zeiten.
Allabendlich kehrte ich heim, den Rucksack voll guter Ideen und Vermessungsdaten, die ich sorgfältig protokollierte. Zwischen Zahlen und Fakten kleisterte ich einiges Hirnschmalz und baute so Seite um Seite meine Dissertation. Man konnte sehen, dass es gut lief.
Was ich sah, war das schlechte Wetter in der Heimat. Immer öfter stürmte es bei meiner Rückkehr. Bäche liefen über, Dächer brachen ein, Brücken gaben nach. Sorgsam geschmiedete Pläne schmolzen im Licht der Schreibtischlampe. Beziehungen dehnten sich meilenweit und schnalzten wie Gummibänder. Liebe wurde ein Donnerschlag, Hass ein leises Flüstern, Tage zu Nächten. – Es waren unheimliche Zeiten.
Eines Abends kam ich schließlich nach Hause und fand keinen Ort zum Protokollieren mehr. Es gab kein Zimmer, das nicht überflutet, keinen Baum, den die Stürme nicht umgerissen hatten. Mit meinem Rucksack voll kluger Überlegungen hockte ich mich auf einen Tisch. Mir schien, dass ich dringend Urlaub brauchte.
Ohne Rucksack und Werkzeug watete ich hinaus in das fremde Land. Exerzitien statt Expedition: Tagelang sonnte ich mich auf den Wiesen, döste im Schatten der Bäume, planschte in den Paradiesesströmen und hielt Ausschau nach Gott.
Seine Worte hatten etwas von einem Gebot.
Der ließ sich diesmal Zeit. Erst nach einigen Tagen kreuzten sich unsere Wege. Mein Strohhut warf dunkle Schatten auf mein Gesicht und verbarg den Vorwurf, der aus meinen Augen sprach. Gott musste doch wissen, wie es bei mir zuhause aussah! Sonst nickten wir uns täglich zu, und nun bot er mir nicht einmal einen Staubsauger an – wo doch in Wahrheit nur noch schweres Gerät von göttlichem Ausmaß bei mir Ordnung stiften konnte.
„Meine Liebe.“, sagte er der Exegetin unter dem Strohhut stattdessen, und deutete auf das Loch und die Schutthalde in seinem Garten. „Nimm den ganzen Dreck mit! Du wirst etwas damit anfangen müssen.“ Er war seltsam ernst. Seine Worte hatten etwas von einem Gebot.
Erschrocken huschte ich unter der Absperrung hindurch auf meine Baustelle. Der Schutt war unermesslich und vermengt mit meinen Abschürfungen und Blut. Ich wusste nicht, wohin damit – ich hatte schließlich keinen Rucksack bei mir – und so steckte ich mir alles ins Herz, bis es zum Bersten voll war.
Jetzt aber hieß es für mich Mutter werden.
Wie sollte ich mit diesem Herzen jemals nach Hause gehen? Es war bleiern in meiner Brust, und seine Schwere machte mich zornig. Wer ist, der seiner Tochter Bauschutt gibt, da sie um einen Staubsauger bittet!?
Ich dachte an Yehuda Amichais Gedicht vom Spion[1], der das fremde Land bis nach Dreißig auskundschaften soll, dann aber nicht heimkehrt, damit er nicht vom Land erzählen „und nicht lügen“ muss. Ich wusste nun, was ihm widerfahren war. Es war verlockend, mit dem übervollen Herzen unter dem Baum der Erkenntnis liegenzubleiben. In der Heimat würde die Schwere nicht zu ertragen sein. Doch der Schutt und die Scherben – sie waren nicht mehr aus dem Körper zu bekommen. In die Dissertation gehörten sie nicht, im Herz schabten und scheuerten sie schmerzhaft. Fand ich keinen Weg, sie zur Welt zu bringen, vergifteten sie mich. Das aber war es; und als ich es verstand, kam ich heim: Sie wollten zur Welt gebracht werden.
Die Exegetin ist Textpathologin: Fragt nicht, wie es ihm geht, sondern schneidet ihn auf und macht sich selbst ein Bild. Die Korrekturleserin ist Notfallsanitäterin: Sie erstversorgt die Wunden. Die Nachhilfelehrerin ist manchmal Hebamme: Sie sieht die jungen Texte wie frischgeborene Rehkitze davontorkeln. All das war ich. Jetzt aber hieß es für mich Mutter werden.
Tanzende Sterne gebären.
Es kamen Texte zur Welt, größere und kleinere, mündliche und schriftliche: Aus mir, und schon mein Gegenüber. Reizend wie kleine Kinder. Die einen purzelten in Gespräche mit lieben Menschen. Die anderen kamen auf die Shortlist von Literaturpreisen. Einer fand bleibende Heimat in einer Anthologie. Ein besonders frecher spazierte von der Bühne eines Erzähltheaters in die Welt hinein. Weitere blieben flüchtige Rede in einem Seminar.
Es war wie früher, als ich noch schreiben und nicht nur protokollieren konnte: Mein Wort kehrte nie leer zurück, und fügte doch dem Chaos der Heimat nichts hinzu. Es schuf in meinem Leben nicht die Ordnung der Besenkammer, sondern die des Gemäldes. Wer also ist, der um einen Staubsauger bittet, da er aus dem Chaos tanzende Sterne gebären kann?[2]
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Dr. Daniela Feichtinger promovierte im Fach Altes Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät Graz und ist Autorin. Auf feinschwarz erscheint in diesem August von ihr:
Von ihr zudem auf feinschwarz bisher u.a. zu lesen:
Photo: Daniel70mi Falciola, NOMADE JAUME PLENSA – ANTIBES FRENCH RIVIERA;https://www.flickr.com/photos/provence___provenza/14121167199 (Creative commons 2.0)
[1] Amichai, Yehuda: Spy. Übersetzt von Robert Alter, in: Alter, Robert (Hg.): The Poetry of Yehuda Amichai, New York: Farrar, Straus and Giroux 2015, S. 147.
[2] Vgl. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe Bd 4, hg. v. Georgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin, 31993, S. 19 (Also sprach Zarathustra, Vorrede).