Anlässlich der aktuellen Entwicklungen in den USA und passend zum amerikanischen Unabhängigkeitstag spürt Andreas G. Weiß (Theologe und Philosoph sowie Autor des Buches: „Trump. Du sollst keine Götter neben mir haben“) einigen Hintergründen des Rassismus nach – und sieht positive Entwicklungen.
Die Proteste quer durch die USA gehen weiter. Auch Wochen nach der äußerst brutalen Festnahme George Floyds und dessen Tod als Folge des minutenlangen Würgegriffs hat sich die Stimmung in den USA nicht beruhigt. Nichts deutet daraufhin, dass sich das in den nächsten Wochen des immer stärker aufkommenden Wahlkampfes ändern wird. Zwar sind die gegenwärtig auftretenden Proteste nur ein weiteres Kapitel in einer schier endlosen Reihe von rassistischen Auseinandersetzungen in der jüngeren US-Geschichte, doch können wir uns wohl darauf einstellen, dass dieser mediale und gesellschaftspolitische Aufschrei besonders im so wichtigen Wahljahr 2020 noch eine besondere Rolle spielen wird.
Afroamerikanische Kreise und ethnische Minoritäten beginnen sich zu wehren.
Dass sich afroamerikanische Kreise sowie auch weitere ethnische Minoritäten in den USA nicht nur angesichts von Polizeiskandalen mit Todesfolgen formieren, sondern mittlerweile offen gegen einen mitunter versteckten, unbewussten oder verniedlichten Rassismus zu wehren beginnen, lässt sich jedoch an markanten Beispielen zeigen. Man erkennt, dass ein Bewusstseinswandel in den USA eingesetzt hat. Es ist eine geänderte Sensibilität, die den Umgang mit kulturell oder ethnisch diversen Bevölkerungsschichten begleitet und offen zu einer neuen Evaluierung mitunter längst gewachsenen oder lange nicht mehr wahrgenommenen rassistischen Identifikationsfiguren beschwört.
Es sind mitunter unscheinbare Momente im knarrenden System eines geschichtlich gewachsenen Prinzips ethnischer Ungleichheit, eine Entwicklung von Macht und medial inszenierten Bilderwelten, die heute als Signalwirkungen in einem Gesellschaftswandel gelten können, der die Vereinigten Staaten nicht mehr loslassen wird. Die Zeiten ändern sich. Zwar verschieben sich die Grenzen des Sagbaren und ethnisch Stigmatisierten nur sehr langsam, aber – so bleibt zu hoffen – unaufhaltsam. Betrachten wir zwei kurze Debatten, die in den USA zu Diskursen mit Signalwirkung geworden sind. Sie wirken angesichts der neuesten Proteste gegen Rassismus wegweisend, dennoch steht eine nachhaltige Aufarbeitung aus.
Dschungelbuch und Orang-Utan Louie
Die erste Episode führt uns zurück ins Jahr 1967: Der Aufschrei damals war groß. Besonders innerhalb der Reihen der US-Bürgerrechtsbewegung rief man zum offenen Protest und Boykott des neuesten Disney-Streifens „Das Dschungelbuch“ auf. Die Geschichte des kleinen Mowgli, der im Urwald aufwächst, von sprechenden Tieren als Findelkind angenommen und aufgezogen wird, sorgte für enorme Protestwellen. Der Grund für die erhitzten Gemüter in der damaligen Zeit lag in einer – bis heute beim Publikum sehr beliebten – Sequenz im berühmten Zeichentrickfilm, in welcher Louie, der „König des Affenstaates“, seinen großen Auftritt hat.
Der sprechende Orang-Utan Louie bemächtigt sich nämlich des kleinen Mowgli, indem ihn eine Gruppe seiner Affenhorde kidnappt und zu ihrem Anführer bringt. In Form eines Jazz-Liedes („I wanna be like you!“) enthüllt daraufhin der Anführer der Dschungel-Hominiden seinen Plan: König Louie möchte eigentlich ein Mensch sein und dafür fehlt ihm nur eine einzige Fertigkeit, nämlich die Kunst, Feuer zu machen. Zu diesem Zweck umgarnt er den Jungen, möchte von ihm das so sehnlichst erwartete Wissen erlangen. Mowgli, der jedoch nicht von Menschen aufgezogen wurde, kann ihm das Geheimnis nicht mitteilen und die beiden Freunde des Jungen, der Bär Balu sowie der Panther Baghira, können ihn von den Fängen des Orang-Utans befreien.
Der bildhafte Code, im Gewande eines unterhaltsamen Kinderfilms sowie der Verwendung von Musik mit Ohrwurm-Potential, würde als rassistische Propaganda an Filme aus dem Dritten Reich erinnern.
Warum die Aufregung? Für zahlreiche Vertreter des Civil-Rights-Movements war der Code in diesem Film klar: Durch die Verknüpfung der Affengestalt mit der „typisch“ afroamerikanischen Musik des Jazz sowie der unmissverständlichen Betonung, dass es zwischen dem zwar in Tanz und Gesang talentierten Louie und der technisch begabten Menschheit einen möglicherweise geringen, aber doch unüberbrückbaren Unterschied gäbe, würden rassistische Vorurteile bedient. Dass der Film just in jener Zeit in die Kinos kam, als die Bürgerrechtsbewegung kurz vor ihrem größten Ziel, der Unterzeichnung des Civil-Rights-Acts durch US-Präsident Johnson, stand, schürte die Empörung noch einmal weiter. Der bildhafte Code, im Gewande eines unterhaltsamen Kinderfilms sowie der Verwendung von Musik mit Ohrwurm-Potential, würde als rassistische Propaganda eher an Filme aus dem Dritten Reich erinnern, so etwa Cory Lund in einem Blog Eintrag vom Williams College in Massachussetts[1] . Eine ähnliche Einschätzung teilte etwa Alex Wainer in der Zeitschrift „Sync“ aus dem Jahr 1993 und betonte, „der Film sei die schlimmste Darbietung von rückständiger rassistischer Kultur im Mantel eines unschuldigen Kinderfilms“ [2]. Die Macher der Disney-Studios konnten die Aufregung nicht verstehen: Der beliebte König Louie würde doch von einem Italo-Amerikaner (nämlich dem berühmten Louis Prima) synchronisiert, außerdem sei die Geschichte weder als Parabel noch als Metapher für reale politische Zustände gedacht.
Die „Affenmetapher“ ist in den USA ein weit verbreitetes Bild, um abwertend über Einwanderer aller Art zu sprechen.
Zugegeben, diese „Erklärung“ wirkte schon damals etwas halbherzig, ja eigentlich nichtssagend. Schließlich ist besonders die „Affenmetapher“ in den USA ein weit verbreitetes Bild, um abwertend über Einwanderer aller Art zu sprechen. So war es in der zwischen 1854 und 1916 erscheinenden Wochenzeitung „Harper’s Weekly“ beinahe eine traditionelle Zugabe, eine anti-katholische bzw. anti-irische Karikatur von Thomas Nast beizulegen, der wiederholt die irischen Immigrant*innen als dämonisch verzerrte, stets betrunkene und gewaltbereite Affen zeichnete.[3] Bilder wie diese haben sich bis heute in das Bewusstsein zahlreicher Gruppierungen eingeprägt und dienen nicht zuletzt auch heute noch der scheinbar harmlosen Unterhaltung: Während des St. Patrick’s Day werden in zahlreichen US-amerikanischen Städten kleine Figuren oder Plüsch-„Gnome“ verteilt, die genau diese Bildsprache sprechen – vielfach ohne Hintergedanken, aber weiterhin als Transporteur jahrzehntealter Vorurteile.
Ist es im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß, Sportvereine mit ethnisch gegenüber den amerikanischen Ureinwohner*innen belasteten Teamnamen zu belegen?
Szenenwechsel: Als am 2. Februar 2020 der 54. Superbowl der NFL-Geschichte im Hard-Rock-Stadium in Miami über die Bühne ging, war die Stimmung prächtig. Die Kansas City „Chiefs“ gingen in einem umkämpften Spiel als Sieger vom Platz, ihre tausenden Anhänger im Stadion stimmten den „Tomahawk“-Ruf an, der noch sekundenlang durch die Arena hallte. Um nichts weniger nachhallend war übrigens auch die Diskussion, die diesen Triumph der „Chiefs“ begleitete: Ist es im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß, Sportvereine mit ethnisch gegenüber den amerikanischen Ureinwohner*innen belasteten Teamnamen zu belegen?[4] Zwar sind die „Häuptlinge“ („Chiefs“) aus Kansas City im Vergleich etwa zum Footballteam der „Washington Redskins“ („Rothäute“) eine eher harmlose Variante, doch rief ihr Triumph bei der wichtigsten Sportveranstaltung in den USA eine bereits jahrzehntealte Diskussion in das Bewusstsein vieler Beobachter*innen zurück.[5]
Nicht wenige Sportvereine greifen in ihren Namensgebungen, aber auch in der Wahl ihrer Maskottchen nach wie vor auf Stereotype zurück, wie etwa in einem vielbeachteten Artikel der Herausgeberschaft der „Georgetown Voice“ 2019 angeprangert wurde: Es sei eine Schande, dass im 21. Jahrhundert nach wie vor Clubs und Vereine auf Identitätskonstruktionen zurückgreifen würden, die in einem explizit rassistischen Umkreis entstanden sind. Eine solche Verwendung überdecke den ursprünglichen Charakter solcher Bezeichnungen und versuche ihn in einen verniedlichenden Umgang als bloßes Erkennungsmerkmal für Fankulturen zu überführen.
Die Sensibilisierung gegenüber bewusst oder unbewusst rezipierten Codes wird jenseits des Atlantiks immer größe.
Beide Episoden aus den USA machen einen Gesinnungswechsel in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich. Die Sensibilisierung gegenüber bewusst oder unbewusst rezipierten Codes wird jenseits des Atlantiks immer größer – und das ist gut und wichtig so. Die Geschwindigkeit, wie sich dieser Wandel vollzieht, ist jedoch über weite Strecken mehr als bescheiden. Wie ein gelähmter Riese scheint sich die US-Öffentlichkeit von einem rassistischen Aufschrei zum nächsten zu schleppen. Die über Jahrzehnte (manchmal sogar über Jahrhunderte) gewachsenen Identitätsfigurationen lassen sich nicht über Nacht verändern – wie sehr diese Veränderung jedoch Not tut in einem Land, das politisch höchst polarisiert ist, zeigen die letzten Wochen.
Die anhaltenden Proteste nach dem gewaltsamen Tod George Floyds durch Polizeikräfte in Minneapolis halten die USA weiterhin in Atem. Ein eigentlich zufällig an die Öffentlichkeit getretenes Video hat in den Vereinigten Staaten erneut eine Diskussion in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgebracht, die sich auf Dauer nicht mehr unterdrücken lässt. Je länger sie noch unter der Oberfläche der aufpolierten Fassade von „Liberty“ und „Equality“ schwelt, umso schonungsloser und gewaltsamer scheinen die Reaktionen darauf innerhalb der (afro-)amerikanischen Gesellschaft zu werden. Die Entladung solch verdrängter oder unterdrückter Aufarbeitungen wird von Mal zu Mal stärker – sie wirkt ebenso mahnend Richtung Europa: Eine Diskussion wie diese, die Auseinandersetzung mit der Geschichte, besonders auch mit den dunklen und blinden Flecken der scheinbar selbstverständlich eigenen Weltsicht, die man gerne in öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Darbietungen unter dem Mantel des Schweigens verbergen würde, lässt sich nicht mehr unterbinden.
Die Diskussionen, die im Fahrwasser dieser teils unmenschlichen Behandlungen von Afroamerikanern durch die Polizei geführt werden, sind jedoch höchst notwendig.
Politisch gesehen sind die Unruhen der letzten Wochen für die USA, besonders auch für die politischen Führungsriegen, eine Katastrophe. Die gewaltförmigen Ausschreitungen, ebenso wie die Opfer der Gewalt vonseiten der Demonstranten wie auch der Polizei, sind erschütternd. Dazu kommt, dass die Covid19-Krise noch lange nicht durchgestanden ist. Die Diskussionen, die im Fahrwasser dieser teils unmenschlichen Behandlungen von Afroamerikanern durch die Polizei geführt werden, sind jedoch höchst notwendig. Zwar werden sie dem angekratzten Image des „American Dream“ nicht einfach wieder zu altem Glanz und Charisma verhelfen, wohl aber für viele US-amerikanischen Bürger*innen selbst zu einem möglicherweise einfacheren und ehrlicheren Umgang mit der eigenen Identität führen können. Es wäre nicht nur den Vereinigten Staaten, sondern Gesellschaften weltweit zu wünschen, dass diese Auseinandersetzungen endlich mit gebotenem Ernst und Vehemenz geführt werden, die zu einem nachhaltigen Wandel führen können.
[1] https://sites.williams.edu/f18-engl117-01/uncategorized/i-wanna-be-like-you-racial-coding-in-disneys-the-jungle-book/
[2] Alex Wainer, “Reversal of Roles: Subversion and Reaffirmation of Racial Stereotypes in Dumbo and The Jungle Book,” Sync: The Regent Journal of Film and Video” (fall 1993): 50–57.
[3] https://thomasnastcartoons.com/irish-catholic-cartoons/the-american-river-ganges-1871/
[4] https://thehill.com/changing-america/respect/diversity-inclusion/480140-the-chiefs-bring-their-controversial-name-to-the
[5] https://www.wsj.com/articles/washington-redskins-nfl-racism-name-controversy-11592901654
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Autor: Andreas G. Weiß ist Theologe, Autor und Bildungsreferent im Katholischen Bildungswerk Salzburg
Publikation: Trump – Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, 2019
Beitragsbild: Pixabay