Turbokapitalismus und digitale Selbstvermessung haben uns längst im Griff. Lebenskunst und Müßiggang sind nur noch Metaphern für das große Projekt der Selbstoptimierung. Thomas Brose erinnert an einen, der auch anders konnte – ungewohnte Perspektiven zu Paul Karl Feyerabend, österreichischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.
„Fast alle meine Handlungen waren vorläufig, unfertig und ohne ein allgemeines Ziel. Vielleicht hing ich an zu vielen Dingen und wollte nicht festgenagelt werden. Es gab lange Phasen der Einsamkeit und Langeweile“, schreibt Paul Feyerabend (1924-1994) in seiner Autobiografie. Der Philosoph und Physiker hat seinem letzten Buch einen verblüffenden Titel gegeben: ZEITVERSCHWENDUNG.
Vertrauen ins Leben, Muße, Staunen
Unter den erstaunlich bunten, vielfältig begabten Gestalten, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Wien aufwuchsen, war Feyerabend einer der freiesten Geister. Und fast wäre der weltberühmte Wissenschaftler nicht Universitätslehrer, sondern Opernsänger geworden. Menschen, „die nur intellektuelle Freuden kennen, können sich kaum das Vergnügen vorstellen, das man aus einer schönen, kraftvollen und gut ausgebildeten Stimme gewinnen kann.“ In seiner Lebensbeschreibung berichtet der Autor kaum von seiner glänzenden Karriere in London, Bristol, Berkeley und an der ETH Zürich, sondern erzählt mit Witz und Ironie von einer Existenz voller Widersprüche und Umwege. Aber immer wieder taucht bei dem unersättlichen Leser, der die Wissenschaftskritik des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitprägte, das Motiv einer kindlich-spielerischen Sehnsucht auf – als Muße und Staunen, als Offenheit für Intuition und tiefes Vertrauen ins Leben.
Eine versehrte Existenz
Aus dem Zweiten Weltkrieg, der ihn „kreuz und quer“ durch Russland geführt hatte, kehrte der Soldat nicht unversehrt nach Hause zurück, sondern mit einer Kugel im Rücken. Die Folgen: lebenslange Schmerzen, Gehbehinderung und Impotenz. „Ich humpelte damals wie heute mit einer Krücke umher. […] Heute frage ich mich, wie die Leute ohne eine zusätzliche Hilfe stehen und gehen können. Ihr Zustand, nicht meiner, scheint mir erklärungsbedürftig.“ Es sind solch kleine Verschiebungen der Sichtachse, die Feyerabend bald zum gefürchteten Gegner eines naiven Wissenschaftsglaubens machten. Aber zuerst war es ein Zufall, dass Karl Popper 1948 beim Forum Alpbach auf einen Stenographen aufmerksam wurde, der nicht etwa bescheiden bei seiner Kurzschrift blieb, sondern lieber respektlos mitdiskutierte. Feyerabend wurde daraufhin nach England eingeladen – der Beginn einer Universitätslaufbahn.
Die Dogmen des Kritischen Rationalismus
Zuerst leistete er seinem Entdecker, dem unumschränkten Herrscher im Reich des „kritischen Rationalismus“, gute Dienste, popularisierte Poppers Falsifikationismus und übersetzte dessen antitotalitäre Kampfschrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde ins Deutsche. Aber der Schüler wandte sich schließlich gegen den Großmeister, als ihm dessen Erkenntnistheorie zu starr erschien. Feyerabend kritisierte die dogmatische, in der Logik der Forschung formulierte Überzeugung, Erkenntnis sei „bewährt“, sofern sie durch das Kreuzfeuer wissenschaftlicher Kritik gegangen sei – und müsse dann von jedem denkenden Menschen akzeptiert werden. Als zu naiv erschien es dem vielfältig Begabten, Intuition und Kreativität einfach auszuklammern, um zu einer endgültigen Systematisierung der Epistemologie zu gelangen. Da der Fachmann für Wissenschaftstheorie und Logik gute Argumente schätzte, wandte er seine Kritik gegen das Zentrum der „harten Wissenschaft“: die Physik. In seinen berühmt gewordenen Galilei-Studien – auch für Theologinnen und Theologen weiter höchst lesenswert –, gelang es ihm, aufzuzeigen: Naturwissenschaftliche Verfahren sind weniger ein Betrachten als ein Machen, weniger ein Erkennen als ein spielerisches Konstruieren, wie er in seinem 1975 erschienenen Hauptwerk Against Method (Wider den Methodenzwang, 1976) aufzeigte.
Wandlungen eines kämpferischen Atheisten
„Ich bin verwundert, wenn mich Interviewer behandeln, als ob ich ein Orakel wäre“. Der zu Berühmtheit gelangte Autor, dessen Kinderglauben früh verlorengegangen war, verstand sich zunächst als kämpferischer Atheist, brachte später aber – wie er 1993 in einem legendären Interview mit Rüdiger Safranski erläuterte – der Religion große Achtung entgegen und bewahrte sich eine Offenheit für die Kunst, für das Unverdiente und Geschenkte. All das scheint ihn in späteren Jahren bewegt zu haben, Zeit stärker in ihrer existentiellen Tiefe wahrzunehmen. In seiner Autobiografie notiert er selbstkritisch zum Umgang mit dem Vater: „Er war mir lästig, als er krank wurde. Ich überließ ihn der unfreundlichen Pflege seiner Bekannten.“ Feyerabends Perspektive veränderte sich nochmals radikal, nachdem er seiner späteren Frau Grazia, einer Entwicklungshelferin, begegnet war: Der eigensinnige Wissenschaftler, der früher vor allem an eigene Bedürfnisse gedacht hatte, empfand das egozentrische Kreisen um sich selbst plötzlich als größte Zeitverschwendung. „Heute scheint es mir, daß Liebe und Freundschaft eine zentrale Rolle spielen und die wichtigsten Prinzipien blaß, leer und gefährlich bleiben.“
Was ist des Menschen Maß? Hatte Paul Karl Feyerabend vielleicht doch etwas von einem Orakel? Wer die Muße findet, seine Autobiografie zu lesen, muss damit rechnen, ins Staunen über diese Zeitansage zu geraten.
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Thomas Brose ist Religionsphilosoph und Fundamentaltheologe an der Universität Erfurt. Bild: Thomas Max Müller / pixelio.de