Das Arbeitsforum Religionspädagogik fokussierte unter dem Titel „Herausforderungen für Religionslehrer/innen durch die Covid-19-Pandemie“ 2021 zwei entscheidende Attribute religiösen Lernens und Lehrens in Zeiten der Pandemie: Vulnerabilität und Digitalität. Von Dominik Arenz.
“Der Mensch ist nicht nur das einzige Lebewesen,
das Kleidung braucht, um seine Verwundbarkeit zu verhüllen (Gen 3,21)
– er ist auch das einzige, das von sich erzählen,
sich in Geschichten ‘kleiden’ muss, um sein Leben zu bewahren.
Wir weben nicht nur Kleider, sondern auch Erzählungen:
die menschliche Fähigkeit zu ‘weben’ bringt
Textilien und Texte hervor.”1
Dieser Satz des Papstes zu Beginn des Coronajahrs 2020 trifft nahezu prophetisch ins Herz der Pandemie: Masken verhüllen buchstäblich Verwundbarkeit. Der Krankenkittel wird für viele zur Alltagskleidung in den Krankenhäusern dieser Welt. Vulnerable Würde – fragile Textilien. Und dann noch: die Erzählungen der Menschen. Welche Geschichten können wir erzählen? Welche hören wir?
2020 hatten auch Verschwörungstheorien Hochkonjunktur, wurde doch der Ursprung der Pandemie unterschiedlichen mehr oder weniger geheimen Kräften zugeschoben: China, den Tech-Konzernen, einem ‘Deep state’ etc. Geschichten der Spaltung und Lebensfeindlichkeit. Und doch müssen wir annehmen, dass viele sie tatsächlich erzählen, um ihr ‘Leben zu bewahren’, weil sie die Komplexität der Welt nicht anders zu fassen scheinen. Zugleich aber gibt es Geschichten der Solidarität, der Neuanfänge, des Umdenkens, der Heilung, die in diesem Jahr erzählt wurden – Geschichten, die die Verwundbarkeit des Menschen einhüllen. Gott selbst sei als Schöpfer – so der Papst – der Erzähler des Lebens: Seine große Geschichte wird immer wieder neu in die Geschichten der Menschen, ins Leben hinein übersetzt.
Sind es Erzählungen Gottes, die sich in unseren Erzählungen widerspiegeln, die wir auch in den Sozialen Kommunikationsmitteln, in einer ‚Kultur der Digitalität‘ (weiter)erzählen? Ausgehend von Vulnerabilität und Digitalität – den Themen des selbst digital veranstalteten 16. Arbeitsforums Religionspädagogik und dem Gedanken des Papstes schaue ich im Folgenden auf den Religionsunterricht und die Religionslehrer/innen in der Pandemie.
Sind es Erzählungen Gottes, die sich in unseren Erzählungen widerspiegeln?
Unter der Überschrift ‚Vulnerabilität und Vulneranz – theologische Perspektiven in der Corona-Pandemie‘ richtete Hildegund Keul, Leiterin des Forschungsprojekts ‚Verwundbarkeiten‘ an der Universität Würzburg, einen fundierten Blick auf die Verletzlichkeit, Vulnerabilität, des Menschen – gerade in Coronazeiten –, um diesen dann theologisch auf Hoffnung hin zu perspektivieren. Die Hoffnungsperspektive bringt sie auf den pointierten Satz: „Wunden verbinden“ und lotet ihn in seiner Doppeldeutigkeit aus.
Mit Blick auf die Realität beschreibt Keul Verwundbarkeit als „unerhörte Macht“, die vor aller Augen und in aller Munde ist. Wir sehen die Verletzungen und Verletzlichkeit vieler Menschen und Gruppen auf der ganzen Erde. Wir reden von ‚vulnerablen Gruppen‘ und akzeptieren Einschränkungen, um sie zu schützen. An dieser Stelle nun fängt das an, was Keul ‚Vulneranz‘ nennt, nämlich das machtvolle Verletzen der einen zum Schutz der anderen – das „Verletzlichkeitsparadox“. In der Tat durchzieht ja diese paradoxale Spannung unser Empfinden und auch das politische Entscheiden, z.B. in Deutschland: im März 2020 ein Lockdown zum Schutz der Alten und Kranken und zu Lasten der Geschäftsleute, Künstler/innen und – vermeintlich – Schüler/innen; im März 2021 Schul- und Geschäftsöffnungen auf die Gefahr einer dritten Welle hin. Es stellt sich die Frage, wer vulnerabel ist, und worauf sich ‚vulnerabel‘ bezieht, auf die Krankheit, die Isolation, die Existenz? Eine Machtfrage.
Das neue Dispositiv der Vulnerabilität – eine österliche Chance
In diese Situation hinein betont Keul die Verwundbarkeit als Urgeschichte, ja Gründungserzählung des Christentums. Dabei geht es ihr zunächst weniger um das Kreuz als solches, sondern um die (biblische) Erzählung davor und danach: Jesus mache sich verwundbar, indem er sich entscheidet, den Kreuzweg zu gehen. Keul nennt es freiwillige Vulnerabilität. Und eben diese freiwillige Vulnerabilität sei es auch, die die durch Christi Tod traumatisierten Jüngerinnen und Jünger nach Ostern (Maria Magdalena) bzw. im Pfingstereignis (Apostel) wieder nach draußen gehen lasse – in der (neuen) Überzeugung, dass es die erfahrene Wunde sei, die rettet und heilt. Sie haben ‚am eigenen Leib‘ Verwundbarkeit erlebt und die verbindende Macht des neuen Lebens erfahren: „Die Wunde verbindet uns.“
Wunden verbinden!
Der Beitrag von Stephan Gerhard Huber, Leiter des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der PH Zug, setzt ein anderes Schlaglicht: Er blickt auf die „Gelingensbedingungen von Distanzunterricht“. Dieser Beitrag steht somit in einer gewissen Kontinuität zum 15. Arbeitsforum Religionspädagogik, das im März 2020 religiöse Bildung und die ‚Kultur der Digitalität‘ unter dem Titel ‚Religionsunterricht 4.0‘ ins Gespräch gebracht hat2, auch wenn Huber aus seiner Expertise heraus v.a. den instrumentellen Aspekt des Digitalen fokussiert.
Huber stellt in seinem Beitrag Erkenntnisse zur Schule in Zeiten von Corona vor, die er v.a. über das von ihm entwickelte Schul-Barometer gewonnen hat. Schule stellt er dabei in den Mittelpunkt einer Gesellschaft, die angesichts von Corona und Populismus Ort der Krisenbewältigung werde. Zugleich treten in ihr erhebliche Schereneffekte auf, die Schüler/innen engagierter Elternhäuser von denen (weiter) entfernt, die die Herausforderungen des Distanzlernens im Hinblick auf Zeit, Digitalisierung und Unterstützung nicht leisten können. So seien an Brennpunktschulen mitunter 80-90% der Schüler/innen in den Lockdowns abgehängt worden. Aber auch die andere Seite des Distanzlernens nimmt er in den Blick: Über 50% der Lehrer/innen in Deutschland erfahren die Rahmenbedingungen für digitalen Unterricht als (eher) nicht ausreichend. Auch im Hinblick auf die Lehrer/innen-Professionalität weicht die Selbstwahrnehmung der Lehrer/innen in Deutschland deutlich von der in Österreich und in der Schweiz ab: Sie schätzen ihre eigene Erfahrung, Motivation und Kompetenz deutlich geringer ein.
80-90% der Schüler/innen an Brennpunktschulen wurden in den Lockdowns abgehängt.
Während die Pandemie also zum einen durchaus einen Anstieg an gesellschaftlicher Anerkennung Lehrer/innen gegenüber, in Kollegien mehr Teamentwicklung und Kooperationen sowie insgesamt einen großen Zuwachs an Medienkompetenz und digitaler Infrastruktur an Schulen hervorgebracht habe, so stehe auf der anderen Seite eine stetige Anforderung (bis hin zur Überforderung) schulischer Praxis.
Inwiefern ist nun aber der Religionsunterricht vulnerabel und digital? Nicht nur in den Organisationsformen des Lernens in dieser Zeit – hybrid, auf Distanz etc. – sondern auch inhaltlich in einer ‚Kultur der Digitalität‘ will der Religionsunterricht Schüler/innen herausfordern, etwas zu lernen und sich zu positionieren – religiös sprach- und ausdrucksfähig zu werden in einer Zeit der Krise und des Nebeneinanders lebensfeindlicher und lebensfördernder Geschichten. Die Digitalisierung macht ein Miteinander, eine Kommunikation trotz sozialer Distanz möglich, auch wenn das Zusammensein – auf Knopfdruck – fragiler zu sein scheint. Zugleich ergeben sich – über Videobegegnungen hinaus – vielfältige Möglichkeiten der Kollaboration, der Projektarbeit und des gegenseitigen Feedbacks. Für Religionslehrer/innen stellt sich hier pointiert die Frage: Wie gestalte ich im Rahmen des Digitalen einen Unterricht, der den Schüler/innen Raum gibt, ihre Vulnerabilitäten, die eigenen und die wahrgenommenen, in Worte, ja Geschichten zu bringen, und die Geschichte Gottes pointiert mit ihnen ins Gespräch bringt.
Vulnerabilitäten Raum geben und die Geschichte Gottes pointiert mit ihnen ins Gespräch bringen.
Vulnerabel ist der Religionsunterricht v.a. in seinen Protagonist/innen. Die Lehrer/innen erleben sich in der Pandemie ja ebenso wie die Schüler/innen als verletzlich, weil sie mit den Einschränkungen, der Angst und den auferlegten Flexibilitäten umgehen müssen. Zudem machen sie sich aktiv verletzlich, wenn sie über ihre Ressourcen hinaus immer wieder neue Wege finden, die Beziehung zu den Schüler/innen nicht abreißen zu lassen – bis hin zum Hausbesuch am Fenster. Zudem bringen sie ins Gespräch mit den Schüler/innen und Eltern schon aus ihrem Fach heraus eine neue Perspektive ein, nämlich dass „Wunden verbinden“ (können). Aus den Quellen ihres Glaubens und der großen biblischen Geschichte Jesu heraus können existentielle Verwundbarkeit und Aufforderung zu Solidarität und Miteinander in einen heilsamen Dialog gebracht werden – und wenn es nur (und immerhin!) die Zusage der Emmaus-Geschichte ist, dass ER mitgeht, gerade mit den Verzweifelten, Enttäuschten und Ängstlichen. Darüber lässt sich sprechen. Nehme ich das wahr?
Aus den Quellen ihres Glaubens können existentielle Verwundbarkeit in einen heilsamen Dialog gebracht werden.
Der Religionsunterricht steht wie das ganze System Schule mitten im Auge des Pandemie-Sturms. Die Verwundbarkeiten sind sein Thema nicht nur in dieser Zeit, ebenso das Digitale. Er ist verwundbar, weil Lehrer/in, Schüler/innen und Inhalt ‚verletzlich‘ sind, und er ist digital, weil die Lebenswelt es ist. Wo wird, so lässt sich österlich fragen, der Religionsunterricht – auf Distanz, hybrid oder in Präsenz – zu einem Ort der eigenen Verwundbarkeit im Dialog mit den Wunden Gottes?
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Text: Dr. Dominik Arenz ist Referent für Qualitätsentwicklung im Katholischen Religionsunterricht in der Hauptabteilung Schule/Hochschule des Erzbistums Köln.
Bild: Adam Niescioruk, unsplash.
Dokumentation des 15. Arbeitsforums 2020 “ Religiöse Bildung und Digitalisierung“, Download unter: https://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/2048/file/RU4.0.pdf
- Papst Franziskus, Botschaft zum 54. Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel ↩
- Zur Dokumentation der Tagung: Markus Tomberg / Winfried Verburg, Hgg., RU 4.0. Religiöse Bildung und Digitalisierung. 15. Arbeitsforum Religionspädagogik, Fulda 2020. ↩