Martin Breul reagiert auf den Beitrag von Patrick Zoll und legt dar, warum ein Mehr an Religion nicht gleichzeitig bedeutet, Neutralität aufzugeben. Die Wahl zwischen politischer Integration und religiöser Integrität ist falsch gestellt.
Vor einigen Tagen hat Patrick Zoll auf dieser Seite ein Plädoyer für die Abschaffung der weltanschaulichen Neutralität des Staates gehalten. Nicht die mangelhafte Bereitschaft einiger religiöser Bürger*innen, die Neutralität des Staates in Fragen der Rechtfertigung allgemein verbindlicher Normen zu achten, sei problematisch, sondern vielmehr das Ideal der Neutralität selbst: „Nicht die Religion mit ihrem politischen Geltungsanspruch ist das Problem, sondern unser erstarrtes politisches Selbstverständnis, welches Neutralität für den öffentlichen Raum (der Gründe) für unerlässlich hält, um Pluralität zu bewahren.“ Dies führe dazu, dass sich religiöse Menschen vor eine ‚fatale Wahl‘ gestellt sehen: politische Integration oder religiöse Integrität.
Die Alternative, die Zoll vorschlägt, um dieser fatalen Wahl zu entgehen, besteht in der Aufgabe des Neutralitätsideals: Es bedürfe keiner „Wir-Perspektive“ einer Gesellschaft, die allgemein teilbare Begründungen für ihre Normen und Gesetze sucht, sondern ausschließlich einer „Du-Perspektive“; in der die Gründe, die politische Normen rechtfertigen, nicht mehr für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen akzeptabel sein müssen, sondern jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied aus je seiner Perspektive ein Grund für eine bestimmte Norm präsentiert werden sollte. Mit anderen Worten: Nicht das Ideal eines Konsenses ist anzustreben, sondern das Ideal einer Konvergenz ganz unterschiedlicher Gründe für politische Normen und Gesetze.
Die Alternative zwischen politischer Integration und religiöser Integrität ist falsch gestellt.
Zolls Grundanliegen sind berechtigt. Die vielfältigen Integrationsaufgaben in Europa sind zu schaffen, wenn wir „mehr Religion wagen“, und sein Plädoyer dafür, dass ausschließlich religiöse Gründe in einer pluralen Gesellschaft kein staatliches Handeln rechtfertigen können, überzeugt. Dennoch glaube ich, dass einige zentrale Scharnierstellen in Zolls Argumentation defekt sind. Sowohl seine Forderung der Aufgabe des Ideals der Neutralität als auch sein Konvergenzmodell provozieren kritische Rückfragen. Letztlich ist die Alternative zwischen politischer Integration und religiöser Integrität falsch gestellt – in einer liberalen Gesellschaft ist es möglich, sowohl ein religiös integriertes Leben zu führen als auch zugleich ‚politisch integriert‘ zu sein.
Mindestens drei Aspekte in Zolls Essay lassen sich kritisch hinterfragen:
Es ist falsch zu glauben, die politische Integration in eine Gesellschaft lasse sich nur um den Preis der Aufgabe der religiösen Integrität erkaufen.
Erstens beruht die Wahl zwischen politischer Integration und religiöser Integrität auf einer kontroversen Annahme, was religiöse Integrität bedeuten soll. Die Wahl zwischen Integration und Integrität stellt sich nämlich nur dann, wenn es zu einer umfassenden religiösen Integrität gehört, auch alle anderen Gesellschaftsmitglieder auf die Befolgung der umfassenden partikularen Normen der je eigenen Religionsgemeinschaft verpflichten zu wollen. Diese Annahme ist nicht plausibel: Es ist leicht vorstellbar, dass religiöse Menschen ihre Existenz als eine religiös integrierte betrachten, d.h. ihr Leben in allen Aspekten von einer religiösen Selbst- und Weltdeutung bestimmen lassen, ohne zugleich alle Normen der je eigenen Religion verbindlich für alle anderen Gesellschaftsmitglieder zu machen. Die Differenzierungsleistung zwischen politischen Normen, die allgemein gerechtfertigt sind und deren Nichtbefolgung dementsprechend sanktioniert wird und zwischen umfassenden Normen der je eigenen Religionsgemeinschaft, die nicht verallgemeinert werden können, wird von den allermeisten religiösen Bürgerinnen und Bürgern mühelos erbracht, ohne dass sie dabei Angst um ihre religiöse Integrität oder Identität hätten. Es ist daher falsch zu glauben, die politische Integration in eine Gesellschaft lasse sich nur um den Preis der Aufgabe der religiösen Integrität erkaufen. Diejenigen, die darauf beharren, dass ihre religiöse Integrität es aber verlange, alle Anders- und Nichtgläubigen, die sich an bestimmte religiöse Vorschriften nicht halten möchten, zu sanktionieren, müssen sich vielmehr den Vorwurf des Fundamentalismus gefallen lassen. Die scheinbare Wahl – die eigene Religion zugunsten der politischen Integration zu entpolitisieren oder die eigene politische Existenz zugunsten der religiösen Integrität aufzugeben – ist daher ein Umschlag zweier Extrempositionen, die diversen Graustufen nicht gerecht wird: Zur politischen Integration religiöser Bürger*innen bedarf es keiner „Vollverschleierung“ des eigenen Glaubens, und zur Aufrechterhaltung religiöser Integrität bedarf es keines fundamentalistischen Beharrens auf der Geltung religiöser Normen für ausnahmslos alle Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft.
Die Befriedung religionspolitischer Konflikte kann nicht durch die einseitige Aufgabe von Errungenschaften wie der weltanschaulichen Neutralität des Staates gelingen.
Zweitens ist in Zolls Text auch der Begriff der politischen Integration fragwürdig, weil er bei einer Aufgabe des Ideals der weltanschaulichen Neutralität zu sehr aufgeweicht wird. Die Befriedung religionspolitischer Konflikte kann nicht durch die einseitige Aufgabe von Errungenschaften wie der weltanschaulichen Neutralität des Staates gelingen. Bei einer Aufweichung dieser fundamentalen Bedingung öffentlicher Rechtfertigung gibt es nicht mehr viel, in das noch integriert werden müsste, da die Gesellschaft dann in partikulare Interessensgruppen und Lobbyverbände zerfallen kann, die nach ihren jeweils unterschiedlichen Standards ihre eigenen umfassenden Normvorstellungen durchzusetzen versuchen und den anderen Gruppierungen Gründe nur noch vorgaukeln. Auch theologisch kann eine derartige Aufweichung des universalen Anspruchs öffentlicher Rechtfertigungen nicht überzeugen, da sie zumindest dem öffentlichen Anspruch der beiden großen Kirchen nicht genügen kann – diese sind nur dann ‚katholisch‘ im Sinne von all-umfassend, wenn sie sich an universalen Werten orientieren und sich nicht zu Interessensverbänden degradieren lassen. In den vielen differenzierten Einlassungen aus der ‚Öffentlichen Theologie‘ wird beispielhaft deutlich, dass auf religiöser Seite eine große Sensibilität für den Balanceakt besteht, einerseits die kritischen Potenziale der Religion in die Öffentlichkeit einzubringen, ohne andererseits eine einfache Verallgemeinerung der Vorschriften einer Religionsgemeinschaft zu kollektiv verbindlichen Normen vorzunehmen.
Rechtfertigungen für politische Normen sollten so beschaffen sein, dass sie prinzipiell akzeptabel für alle Gesellschaftsmitglieder sind.
Drittens scheint auch Zolls Alternative einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung vor einigen Schwierigkeiten zu stehen. Einer der zentralen Glaubenssätze des Liberalismus ist, dass die Bürger*innen einer pluralen Gesellschaft nicht durch ihre Religion, sondern durch ihre allgemeine Vernunft geeint sind. Daher ist es auch nicht vermessen, das Ideal eines Konsenses zu formulieren: Rechtfertigungen für politische Normen sollten so beschaffen sein, dass sie prinzipiell akzeptabel für alle Gesellschaftsmitglieder sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Rechtfertigung faktisch eine hundertprozentige Akzeptanz in einer Gesellschaft findet, um legitim zu sein. Vielmehr formuliert das Konsensideal eine Regel für den öffentlichen Diskurs: Jede Bürger*in soll Normen so rechtfertigen, dass die Akzeptanz der vorgebrachten Gründe nicht vom vorgängigen Teilen einer umfassenden Lebensform abhängt. Die Konvergenzkonzeption gibt die zentrale liberale Annahme einer allgemeinen Vernunft auf. Vernunft sei vielmehr ein standpunktrelatives Phänomen und gehorche Standards und Kriterien, die von Person zu Person verschieden sind. Damit wird letztlich die Möglichkeit von Kritik untergraben, die partikulare Kontexte übersteigt. Ohne die Annahme bestimmter geteilter Minimalstandards der Vernunft ist es sinnlos, andere gesellschaftliche Gruppen zu kritisieren – diese können immer behaupten, sie würden die Kritik gar nicht erst verstehen, eben weil sie andere Standards von Vernunft hätten. In jede Konvergenzkonzeption der öffentlichen Rechtfertigung ist daher eine Tendenz zur Hegemonie weltanschaulicher Mehrheiten eingeschrieben. Vielleicht ist die liberale Idealisierung eines allgemeinen Vernunftvermögens hier ein vielversprechenderer Weg, zumal nicht vergessen werden darf, dass sie eben als Idealisierung verstanden werden muss.
Mehr Religion wagen bedeutet nicht, das Ideal der Neutralität aufzugeben.
Abschließend ist Zoll in zentralen Punkten recht zu geben: Europa kann nur gelingen, wenn wir mehr Religion wagen. Aber er schießt über das Ziel hinaus: Mehr Religion wagen bedeutet nicht, das Ideal der Neutralität aufzugeben. Vielmehr bedarf es einer Differenzierung der vielfältigen Funktionen, die religiöse Überzeugungen in politischen Diskursen jenseits der konkreten öffentlichen Rechtfertigung politischer Normen haben können (z.B. als motivationale Gründe, als Anwalt der Marginalisierten, als gesellschaftskritisch-transformative Potenziale, etc.). Eine Unterscheidung von öffentlicher Rechtfertigung, die sich am Ideal allgemeiner Akzeptabilität orientiert, und vielfältigen anderen politischen Funktionen religiöser Überzeugungen ist der Schlüssel, um einer Entpolitisierung von Religion zu entgehen und zugleich die Bedingungen demokratischer Legitimität nicht zu untergraben.
In den weltanschaulich zerfaserten Gesellschaften der Moderne geraten auch religiöse Menschen unter Reflexionsdruck. Es ist unumgänglich, dass auch religiöse Bürger*innen die Notwendigkeit allgemein akzeptabler Rechtfertigungen für politische Normen als Ideal anerkennen – dies ist ja nicht gleichbedeutend mit einer Privatisierung oder Entpolitisierung der Religion. Eine religiöse Bürgerin, die dies mit Verweis auf ihre dann gefährdete religiöse Integrität nicht schafft, muss sich dem Vorwurf des religiösen Fundamentalismus aussetzen. Es ist falsch, politische Integration und religiöse Integrität zu Gegenspielern zu stilisieren, die sich wechselseitig ausschließen: Ein liberaler Staat kann auf dem Ideal der Rechtfertigungsneutralität beharren und dennoch genügend Raum zur Entfaltung einer religiös integrierten Existenz bieten. Lediglich die bruchlose Verallgemeinerung eines umfassenden religiösen Normensystems zu allgemeinverbindlichen gesellschaftlichen Normen kann er nicht akzeptieren – das ist aber kein Grund, Neutralität als Ideal der Politikbegründung aufzugeben.
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Dr. Martin Breul ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität zu Köln. Im letzten Jahr ist seine Dissertation „Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung“ (Paderborn: Schöningh) erschienen.
Beitragsbild: Dietmar Burkhardt / pixelio.de