… aber eine Lektüre dieses Sommers: Niroz Maleks Miniaturen aus Aleppo. Eine Empfehlung von Rainer Bucher.
„Ich weiß, daß meine Briefe Dich nicht erreichen. Dennoch schreibe ich Dir jeden Abend, um Dir zu sagen, wie sehr Du mir fehlst. Am nächsten Morgen lege ich den Brief wie ein wertvolles Pfand in die Hände des Briefträgers.
Der nimmt ihn behutsam entgegen und seufzt: ‚Bete für mich, daß der Scharfschütze, der die ganze Nacht seine Opfer gezählt hat, schläft, wenn ich am Checkpoint ankomme.‘
Dann lächelt er und wiederholt: ‚ Bete für mich!‘.
Ich sehe, wie er auf der Straße mit dem Fahrrad davon fährt. Er fährt immer weiter, bis er im Himmel verschwindet.“
Der Krieg in Syrien kommt zu uns in 90 Sekunden Fernsehreportagen – wenn er uns überhaupt erreicht und sein jahrelanges, zähes, nicht endendes Elend nicht unter die Wahrnehmungsschwelle sinkt. Die Reportagen zeigen stets die gleichen zwei Szenen: zerbombte Straßen mit verzweifelten Rettungskräften und diplomatische Konferenzrunden beim erfolglosen Versuch, Frieden zu schaffen in Syrien.
Die Wirklichkeit ist mehr und anders. Man ahnt es, man spürt es, wenn man Niroz Maleks Miniaturen „Die Spaziergänger von Aleppo“ liest, Notate tatsächlich direkt aus dieser geschundenen Stadt, von einem, der schreibt, wie es ist, „trotz allem in Aleppo zu leben“. Maleks Familie ist über die Welt zerstreut und gerettet, der Rezensent konnte Maleks Tochter dabei erleben, als sie ihres Vaters Texte in klangvollem Arabisch las und seine Situation in vorsichtigem Deutsch erläuterte.
Erschienen sind diese Miniaturen zuerst auf Facebook, dann in Frankreich, dort ausgezeichnet mit dem Prix Lorientales, nun auch auf Deutsch, übersetzt von Larissa Bender, einer Kennerin der syrischen Literatur. Das ist natürlich keine klassische „Sommerlektüre“, aber eine Lektüre dieses Sommers.
Niroz Malek, 1946 in Aleppo geboren, zuerst Maler, dann Schriftsteller, schreibt knapp, lakonisch, unsentimental, manchmal surreal. Diese Lakonie und Poesie nehmen der Tragik des Lebens in Aleppo nichts, aber sie geben dem Leben in Aleppo Würde: die Würde der aufmerksamen Beobachtung, der Weisheit, ja man wagt es kaum zu schreiben, der Lebensfreude trotz allem. Diese Texte verschweigen nichts und bleiben doch schamhaft.
Es geht um den Alltag, um Phantasien, um Musik und Literatur, um Erinnerungen an Freunde und Weggefährten – und je länger man diese kurzen Texte liest, egal ob nacheinander oder durcheinander, desto trauriger wird man und desto mehr Trost spenden sie zugleich. Traurig machen die Szenen der Schmerzen, deren Zeuge man wird, Trost aber spendet die Erkenntnis, dass die Barbarei siegen kann, aber nicht gewinnt, dass sie zumindest diesen Mann, diesen Poeten nicht besiegt hat und mit ihm auch manch andere nicht.
„Das Schreiben über diesen Krieg ist schmerzhaft, sehr schmerzhaft“ – so der immer wieder wiederholte Refrain im Nachwort des Autors. „Manchmal schließe ich die Augen und traue mich nicht, sie wieder zu öffnen. Denn öffnete ich sie, sähe ich eine Zerstörung, die ohnegleichen ist.“ (133) Aber Malek öffnet die Augen und er hat die Sprache um zu sagen, was er dann sieht.
„Seine Tagesration an Brot, Gemüse und etwas Obst auf dem Arm, sah er auf dem Nachhauseweg unzählige Todesanzeigen an den Haustüren kleben. So viele Menschen in letzter Zeit gestorben! ‚Möge Gott uns beschützen‘, sagte er zu sich selbst.
Er ging die letzten Schritte weiter bis zu dem Haus, in dem er wohnte. Auch an seiner Tür hing eine Todesanzeige, die schon älteren Datums zu sein schien. Er blieb stehen, um sie zu lesen, und als er fertig war, stellte er verwundert fest, daß er bereits seit etwa einem Monat tot war.
Traurig drehte er sich um und kehrte zum Friedhof zurück. Er wollte noch vor Sonnenuntergang dort ankommen, denn danach wäre der Checkpoint geschlossen. Dann müsste er die ganze Nacht wach bleiben und könnte erst am nächsten Morgen zu seinem Grab zurückkehren, um zu schlafen.“
Niroz Malek, Der Spaziergänger von Aleppo, Bonn: Weidle-Verlag 2017.
17.00 Euro
—