In einem immer dichteren Gewirr von Fake News sucht Katarína Kristinová nach einem Gegenmittel. Sie plädiert für methodischen Zweifel und Wahrhaftigkeit.
Am Vormittag des 8. Januars 2025 verfolgte ich auf dem Fernsehsender 3Sat mit Spannung die Wiederausstrahlung der Wissenschaftssendung „Nano“ vom 5. Oktober 2023 mit einem Beitrag über Fake-News in der Wissenschaft. Im Gespräch mit dem Neuropsychologen und Whistleblower Bernhard A. Sabel von der Universität Magdeburg ist die Rede von sogenannten Papiermühlen, bei denen maßgeschneiderte Studien und Publikationen gegen Bezahlung bestellt werden können. Es handelt sich um professionelle Werkstätten, in denen jedes Jahr Zehntausende wissenschaftliche Arbeiten gefälscht werden. Die Zahl solcher Fälschungen werde – so Sabel – nur innerhalb Deutschlands auf ca. 500.000 beziffert. Er erwähnt in einem persönlichen Zeugnis die schamlose Ungeniertheit, mit der auch ihm solche lukrativen Angebote unterbreitet worden sind, und seine finale Entscheidung, solche Firmen aufzuspüren und deren Machenschaften zu entlarven.
Dieser Bericht ist ein weiteres Zeugnis einer beängstigenden gesellschaftlichen Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten fiel eine Wahrheitsinstanz nach der anderen. Angekommen sind wir bei alternativen Fakten, bei Politikerinnen und Politikern, die sich nicht einmal mehr bemühen, ihre Lügen sonderlich zu kaschieren; bei Werbung, die fahrlässig die Gesundheit der Kleinsten schädigt; bei Sportlerinnen und Sportlern, die es laut eigener Aussagen nirgendwohin bringen, wenn sie nicht in den Wettbewerb um die effektivste Dopingstrategie miteinsteigen würden.[1]
Zeugnis einer beängstigenden gesellschaftlichen Entwicklung
Die Wissenschaft galt lange als die letzte Bastion der öffentlich akzeptierten Glaubwürdigkeit, welche trotz so mancher Plagiat-Affäre auch dann standhielt, als andere Institutionen wie Politik, Wirtschaft oder Sport begonnen hatten, Lüge oder Täuschung als ein probates Mittel ihrer Strategien ungeniert der Öffentlichkeit zu präsentieren. Und nun, so scheint es, stürmt die Lüge schließlich auch die lange Widerstand leistenden Mauern der intellektuellen Redlichkeit.
Doch: War es jemals anders? Gehört die Lüge nicht schlichtweg zum Menschsein dazu? Und wenn dem so ist, wäre es dann nicht verwunderlich, wenn die Wissenschaft von der Lüge als einzige verschont bleiben würde? Einige Jahrhunderte vor der heroischen Ära der Aufklärung attackiert ein gewisser Doctor Martinus, der Mönch aus Wittenberg, mit unfeinen Worten die Ideologieanfälligkeit und den promiskuitiven Charakter der wissenschaftlichen Vernunft: Sie sei „des Teufels Hure“.[2] Der weitere Verlauf der Menschheitsgeschichte wird der prophetischen Wahrheit seiner Worte in unzähligen Fällen recht geben. Es folgen Zeiten der Rassentheorien, der wissenschaftlichen Abhandlungen über die weibliche Hysterie, der Schädelvermessungen, der grausamen medizinischen Versuche, der Beweisführungen der arischen Abstammung Jesu, der Bücher- und Menschenverbrennung – um nur einige wenige Gräuel und Absurditäten im Namen der Wissenschaft zu erwähnen. Wie oft folgte die Wissenschaft devot den schlimmsten Ideologien, wie oft hat sie sich bereitwillig in den Dienst der Lüge und der Unmenschlichkeit gestellt!
Also: Nichts Neues unter der Sonne? Im gewissen Sinne doch – meinen viele Denkerinnen und Denker. Neu sei zum Einen das geradezu pandemisch anwachsende Ausmaß der sogenannten alternativen Fakten, welches sich vor allem der digitalen Omnipräsenz des öffentlichen Diskurses verdanke.[3] Neu sei aber auch die Qualität des öffentlichen Umgangs mit Lüge und Wahrheit. Man macht sich in vielen Fällen gar nicht mehr die Mühe der einst so essenziellen Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit und verzichtet so auf die Denkarbeit der rationalen Beweisführung und differenzierten Argumentation. „So gibt es Belege, dass die Verbreitung von Falschinformationen bei manchen Menschen dazu führt, dass sie generell aufhören an die Existenz von Fakten zu glauben.“[4] Statt kritischer Rationalität werden Befindlichkeit und diffuse Gefühligkeit ins Feld geführt und als Verifikationsmittel eingesetzt.
Angesichts dieser beängstigenden Entwicklung ist es wohl wieder an der Zeit, über die Wahrheit nachzudenken, ja, sie zu verteidigen. Aber können wir das noch? Ist es nicht längst erwiesen, dass alles als relativ, subjektiv, perspektivisch, interpretationsbedürftig, konstruiert und somit uneingeschränkt anzweifelbar gilt? Dass es nach dem Fall des naiven Realismus keinen archimedischen Punkt gibt, an dem sich die Wahrheit unserer Behauptungen festmachen ließe?
Es ist wieder an der Zeit, über die Wahrheit nachzudenken.
Was können wir also noch glauben? Können wir uns – wie es die Bürgerinnen und Bürger der totalitären Systeme zu tun pflegen – resignierend in eine innere Emigration begeben, uns eine kleine private Nische zum bescheidenen kleinen Glück suchen und die Welt der Lügen da draußen sich einfach weiter ohne uns drehen lassen? Illusorisch, solange wir von dieser Welt materiell sowie sozial abhängig sind. Den hermeneutischen Verdacht mitzuführen, ist zwar eine wichtige und unverzichtbare Methode der wissenschaftlichen Arbeit sowie vieler Bereiche des beruflichen Lebens, aber gänzlich im Modus des apriorischen Misstrauens zu leben, können wir nicht, ohne unser Menschsein aufzugeben. Wir Menschen sind ohne Vertrauen schlicht nicht lebensfähig.
Das Wahrheitsbedürfnis des Menschen erweist sich als essenziell, selbst wenn klar wird, dass die Wahrheit angesichts der Lüge nie letztgültig nachweisbar ist und ihr gegenüber auch letztlich ohnmächtig bleibt. Doch es ist gerade die Unverfügbarkeit, dank der sich die Wahrheit der Manipulierbarkeit entzieht, uns vor der Illusion schützt, sie besitzen zu können, und uns zugleich dazu anspornt, nicht aufzuhören, uns um sie zu bemühen.
Das Wahrheitsbedürfnis des Menschen erweist sich als essenziell.
Vielleicht würden wir auf dem Weg solcher Bemühungen weiterkommen, wenn wir uns weniger auf die Wahrheit im Sinne der inhaltlichen Faktizität (Satzwahrheit) fokussieren statt vielmehr auf die Wahrhaftigkeit unseres Umgangs mit den Inhalten setzen. Denn, da wir das meiste Wissen über die Welt eher aus zweiter oder dritter Hand beziehen, ist unser Glaube an dessen Faktizität nicht zu trennen von dem Vertrauen in diejenigen Instanzen, von denen wir dieses Wissen vermittelt bekommen.[5] Die Inhalte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, hieße, selbst zu Expertinnen und Experten zu werden, was schlicht nicht möglich ist. Doch könnten wir uns ein Bild machen von der Redlichkeit, welche die jeweilige Person oder Instanz durch deren Umgang mit der eigenen Position an den Tag legt, wenn wir uns darauf konzentrierten, ob die betreffende Person bereit ist, auch die Schwächen der eigenen Position zu reflektieren und transparent zu machen. Oder ist deren Rede darauf angelegt, diese zu verschweigen, und die Gesprächspartnerinnen und -partner durch die vermeintliche Unfehlbarkeit der Position zu überzeugen?
In diesem Sinne hat sich der Schriftsteller Martin Walser für die Etablierung einer Kultur des Selbstzweifels ausgesprochen. Laut seiner Forderung sollten wir statt der Kultur des Rechthabens „eine Kultur der Selbstwiderlegung“ herausbilden. „Öffentlich. Im Parlament. In der Zeitung. Es sollte üblich sein, dass jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt. Alles, was ihm einfällt gegen das, was er behauptet, soll er genauso gründlich dartun wie die Behauptung. Wenn er uns dann überzeugt von seinem Selbstwiderspruchsernst und es bleibt trotzdem noch etwas übrig von dem, was er behauptet hat, dann hat er uns für seine Behauptung eingenommen. Mir scheint, eine Selbstwiderlegungspraxis sei fast eine Chance, in einer auf Rechthaben gegründeten Gesellschaft eine Bewegung in Richtung Rechtfertigung zu ermöglichen.“[6]
So soll sich wissenschaftliches Arbeiten vollziehen: Dass ich meine eigenen Gedanken zugleich den strengsten Gegenfragen aussetze und somit die vermeintliche oder notwendige Schwäche meiner Theorie transparent mache. Wer dies tut, ist in meinen Augen glaub- und vertrauenswürdig, denn er zeigt, dass ihm oder ihr mehr an der Wahrheit liegt als am eigenen Rechthaben. Deren Respekt vor der Wahrheit macht auch aus ihren Täuschungen lediglich temporäre Vorläufer einer weiteren und tieferen Erkenntnis.
Dieses kritische Prinzip der Wahrhaftigkeit darf nicht verloren gehen. Und es war vielleicht nie dringlicher, es in Erinnerung zu rufen, als heute, wo uns die Lüge mit schamloser Offenheit nahezu stündlich ihre hässliche Fratze zeigt. Das Prinzip der Wahrhaftigkeit scheint mir ein zuverlässiger Kompass nicht nur auf dem Feld der Wissenschaft, sondern in allen Bereichen meines Lebens. Man braucht die selbsternannten Wahrheitsapostel nur mit einer unschuldigen Frage auf deren Selbstkritikfähigkeit zu testen, schon fallen selbst die glänzendsten Theorien zusammen wie Kartenhäuser. Probieren Sie es gerne aus. Die anstehende Bundestagswahl ist sicher eine gute Gelegenheit!
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Beitragsbild: pixabay.com
[1] „Ohne diverse Mittelchen sind Erfolge nicht möglich, so das Motto. Schon kleinen Kindern wird beigebracht, dass sie nur ‚etwas nehmen‘ müssen, um Prüfungsangst, Verkühlung oder Unkonzentriertheit überwinden zu können.“ (https://www.nada.at/de/praevention/dopipedia/marketshow-warum-wird-gedopt, aufgerufen am 31.01.2025). Vgl. auch die Studie „Sport ohne Doping. Argumente und Entscheidungshilfen für junge Sportlerinnen und Sportler und Verantwortliche in deren Umfeld“: https://www.kreissportbund-hildesheim.de/images/pdf/03broschuere.pdf (aufgerufen am 31.01. 2025).
[2] Martin Luther, WA 18, 164, zitiert nach: Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 160.
[3] Vgl. https://www.lpb-bw.de/fake-news (aufgerufen am 01.02.2025).
[4] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fake_News (aufgerufen am 01.02. 2025).
[5] Vgl. Rüdiger Safranski, Gott ist doch nicht tot, in: Cicero. Magazin für politische Kultur (hg. v. Wolfram Weimer), Nr. 5/2004, 46: „In den meisten Angelegenheiten sind alle dazu verurteilt, gläubige Mitwisser zu sein.“
[6] Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012, 30. Eine ähnliche Position siehe Bernhard Pörksen, Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik, Heidelberg 2015.