Der Künstler Ivo Weber fegt alljährlich ein Stück Wald und lädt dazu Menschen ein. Er konfrontiert sie in seiner Performance mit der Sehnsucht nach geordneten Räumen und der lebensnotwendigen Unordnung. Ein Bericht von Christoph Simonsen.
Zwei Campingstühle, ein Klapptisch, darauf eine gute Flasche Rotwein, selbstgebackenes Brot, frische Tomaten und eine lieb zubereitete Käseplatte: So erwartet der Künstler einen Gast an einem lauen Sommerabend im Umfeld einer Baustelle, direkt neben einer vierspurigen Innenstadtstraße in Köln nebst dem Hauptgebäude der Universität. Studierende passieren die schmalen Gehwege, die direkt auf den Grüngürtel der Stadt zuliefen. Feierabendstimmung.
Picknick mit Ivo Weber am Unort
Hundert Meter weiter hätten sie im Grünen gesessen, die ideale Umgebung für ein Picknick. Stattdessen lädt Ivo Weber an diesen schmucklosen Ort ein, der nur deshalb auffällt, weil zwischen großen Werbewänden eine Plakatwand heraussticht: eine sonnendurchflutete Lichtung in irgendeinem Waldgelände, zwischen den Bäumen ein auffallend sauber gefegtes Rechteck, das den Mutterboden erkennen ließ, rundherum die zur Seite gefegten Blätter, die der Herbst von den Bäumen hat rieseln lassen. Mittendrin eine kleine Gruppe von Menschen, die Ivo Weber seinem Gast dann auch bald vorstellt.
Ordnung am falschen Platz?
Waldfegen: Seit 17 Jahren lädt der Kölner Künstler zu dieser ganz besonderen Kunstaktion ein; seit 12 Jahren dezidiert Personen des öffentlichen Lebens, die wiederum gebeten werden, eine Gruppe weiterer interessierter Bekannten zusammenzustellen, um dann irgendwo den Wald zu fegen. Auf den ersten Blick: Sinnlosigkeit par excellence. Menschen fegen freiwillig ein Waldgelände. Die Aktion wird währenddessen von einer/m Fotograf*in begleitet. Jedes Jahr die gleiche Aktion zur gleichen Zeit; jedes Jahr die gleichen Bilder, mit je anderen Personen. Bilder, die ihren bleibenden Ort finden in einem Museum, wie z.B. dem Kolumba Museum in Köln, oder – weit weniger spektakulär – auf einer Plakatwand zwischen Fast-Food-Kette und Non-Profit Organisation.
Vom Unsinn der Kehrwoche
Als ich zum ersten Mal von dieser Kunstaktion hörte, erinnerte ich mich meiner Kindheit, in der ich meine Eltern – leider ohne Erfolg – davon zu überzeugen versuchte, dass es doch sinnlos sei, den Gehweg zu kehren, da dieser doch in null Komma nichts wieder ebenso staubig sei wie vor meiner überflüssigen Kraftanstrengung.
Kunst ohne Sinn und Verstand, allerdings mit Schwielen an den Händen und Schweißperlen auf der Stirn? Als kunstinteressierter Mensch kann ich das nicht glauben. Erinnerungen von Teilnehmenden lassen erkennen, dass der Künstler äußerste Sorgfalt darauf legt, dass der Boden absolut sauber gefegt wird. Kein Blatt, kein Ast, keine Wurzelstumpen, nur der reine Waldboden.[1] wird als Ergebnis der Aktion akzeptiert. Das Neue des zu schaffenden Raumes muss ins Auge stechen. In einem mehrdeutigen Sinn ist der Mensch in der Lage, die Natur zu bereinigen. Sinn und Sinnlosigkeit, ja auch Widersinnigkeit verwirklichen sich im gleichen Tun. Ausgerechnet in der Sinnlosigkeit des Fegens offeriert sich die Sehnsucht nach dem Vollkommenen nicht minder wie der Wunsch, dem Verstand die Einzigartigkeit zu nehmen, über das Leben zu bestimmen.
Das Gespräch schafft den Raum
Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Kunst‘ ist mehr als ein individuelles, sondern immer auch ein kommunikatives Geschehen. Zwischen Baugerüsten und Grüngürtel, an einem Ort, der kaum als gestaltet wahrgenommen werden kann, schafft Ivo Weber dank seiner Gastfreundschaft einen einladenden Raum. Wenige – nicht nur religiös aufgeladene – Symbole wie Brot und Wein, sowie eine Geste des Willkommens kreieren einen neuen Lebensraum. Zugleich erklärt sich Kunst als das, was sie sein möchte: Ein kommunikatives Geschehen über jedes kunsthistorische Fachgespräch hinaus. Dem Geheimnishaften eines vordergründig sinnlosen Geschehens darf der Gast sich annähern im Austausch mit dem Künstler, wo nicht über die Kunst gesprochen wird, sondern miteinander und sich unerwartet und ungeplant in dieser vertrauensvollen Offenheit und Unbekümmertheit ein Reden über Kunst ereignete. Kunst ereignet sich, sie ist nicht einfach. Vor der Plakatwand sitzend, nähern sich Gastgeber und Gast einander an; scherzend, lachend, Wein genießend, das selbst gebackene Brot verkostend. Brot zu backen ist eine Kunst, so verrät Ivo Weber; und er backt für sein Leben gern. Backen ist ein meditatives Geschehen. Zwischen den Diskutierenden auf dem Tisch im Brotkorb liegen „schwäbische Seelen“, ein Sauerteigbrot verfeinert mit Kümmel und Salz. „Seelen“ schaffen, oder besser in diesem Kontext: backen, vermag der/die am ehesten, der/die sich seiner/ ihrer Seele bewusst ist, seines oder auch ihres Verwobensein mit dem Geheimnishaften in sich. Kunst kommt eben nicht nur von Können, sondern auch von Sein. Der Weg vom Backen zum Kunstschaffen und umgekehrt ist nicht so weit, wie man meinen mag. Das Backen des Brotes, wie auch das künstlerische Schaffen, eigentlich alles bewusste Tun, birgt den Charakter einer Performance in sich, da es doch etwas ‚aufführt‘, woran dem Menschen gelegen ist, was ihm wert ist.
Die politische Dimension eines Projektes
Zeit ist für eine*n Kunstschaffende*n ein relativer Begriff. Die sich im Verlauf des Gespräches einschleichende Dunkelheit, dort irgendwo im Niemandsland zwischen Wissenschaft und von weitem hörbaren Gitarrenklängen, fühlt sich an, als seien die Gesprächspartner*innen behütet von einem schützenden Mantel der Natur. Wunsch und Wirklichkeit stoßen in unausweichlicher Widersprüchlichkeit aufeinander. Die Natur – die Schöpfung – ist gefährdet. Um diese Gefährdung wissen alle. Spätestens seit der weltumspannenden Bewegung „Fridays for future“ kann kein verantwortungsbewusster Mensch mehr behaupten, er wissen nicht darum, dass er/sie Schuld auf sich lade, da er/ sie in ausbeuterischer Weise die Natur misshandel. „Waldfegen“ hat auch eine politische Dimension. Kurz bevor Wahlplakate unsere Straßenränder verunstalten werden im Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl, erinnern die „Kunstwände“ Ivo Weber’s an Wesentliches: Die Schöpfung braucht Achtsamkeit und Wertschätzung; braucht mehr als Worte, mehr als Absichtserklärungen. Schöpfung braucht pflegende Hände, geistvolle Menschen und geschenkte Zeit. Geschenkte Zeit ist eben keine verschenkte Zeit.
Ein provozierendes Lachen
Mantra mäßig wiederholt Ivo Weber seine Performance jedes Jahr – seit 17 Jahren turnusgemäß im Herbst. Langweilig wird es nie. Jedes Jahr: 30 qm Waldfegen; jedes Jahr die gleiche Vorgehensweise. „The same procedure as every year“. Waldfegen ist wie Geburtstag feiern. „Waldfegen“ hat etwas Feierliches, Würdevolles wie zugleich auch Ausgelassenes in sich. „Waldfegen“ macht sichtbar, dass es etwas zu feiern gibt. Kunstschaffende prägen Gesellschaft und Kirche und sie warnen vor nichts mehr als vor Stillstand, der einen Ist-Zustand einzementieren möchte, nicht, weil dieser so perfekt ist, sondern weil die Angst vor dem ‚Noch-Nicht-Seienden‘ das Seiende glorifiziert. Dazu gehört das Stilmittel der Provokativen; und wer wüsste nicht, dass auch ein Lachen zu provozieren vermag. „Waldfegen“ macht lachen, lässt Menschen lächeln, die Beteiligten nicht minder wie die Betrachtenden. „Waldfegen“ weckt die Urbedürfnisse des Menschen: Hunger und Durst stillen zu wollen und Sattheit wie Trunkenheit zulassen zu können.
Der Wald rückt auf Plakaten in die Stadt ein
Kunst findet draußen statt; diese Einsicht manifestiert sich in der Reflexion dieses gemeinsamen Mahles mit dem Künstler Ivo Weber. Kunst ist nicht museal, sondern alltagstauglich. Kunst ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Im Jahr 2021, dem Gedenkjahr des 100. Geburtstages von Josef Beuys, ist diese Wahrnehmung noch einmal von besonderer Bedeutung. Dass die „Waldfegen-Plakatwände“ so sichtbar in der Stadt Köln, wie auch zu anderen Zeiten in anderen Städten zu sehen sind, signalisiert ein Wesensmerkmal der Kunstaktionen von Ivo Weber. Unaufdringlich und zugleich überdimensional sichtbar prägen sie die Öffentlichkeit und tragen dazu bei, dass Kunstschaffende und Betrachtende nicht immer nur in einer elitären Blase begegnen. Die Blicke auf Plakatwände sind Sekundenblicke, in denen Menschen Informationen aufnehmen, aufnehmen und verarbeiten. Das Bild eines gefegten Waldes zwischen Hamburger und Waschmittel verunsichert und wirft Fragen auf, unbewusst vielleicht, aber umso wirkkräftiger.
Vom Aufgeben der falschen Ordnung
Nachdem akribisch die Teilnehmenden den Wald gefegt, sich leibhaftig und seelisch dem Innenleben des Waldes gestellt und ihre Ordnung geschaffen haben nach ihren Vorstellungen: ordentlich, strukturiert, abgegrenzt, haben sie sich zum Schluss im Kontext dieser von ihnen geschaffenen Ordnung haben ablichten lassen. Die eigentliche Arbeit, die ja als Performance angelegt war, war dann aber noch nicht getan. Der Blick auf das sauber gefegte Waldfeld konnte nicht zufrieden stellen. Allen Beteiligten wurde unmissverständlich vor Augen geführt: die nach menschenmaß erdachte Ordnung ist nicht der schöpferischen Ordnung gleichgestellt, da der Nährstoffkreislauf des Waldes einer anderen Grundordnung bedarf als die vom Menschen erdachte. Deshalb haben die Menschen ihre Ordnung wieder aufgegeben und den Waldboden so ‚re-aktiviert‘, wie sie ihn zuvor vorgefunden haben. Nur so ist nämlich gewährleistet, dass der Wald sich vorbereiten kann auf den bevorstehenden Winter, um im Frühjahr keimen und wachsen zu lassen, was zuvor in der Erde ruhen konnte.[2]
Eine Einsicht, die zweifelsohne auch theologisch nachdenklich stimmt: Die tradierte Ordnung menschlicher Erwogenheiten bedarf nicht minder einer Rückführung in die schöpferische Ordnung, die sich in ihrer Unordnung womöglich von der geordneten Ordnung des Menschen fruchtbar absetzt.
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Autor: Christoph Simonsen, Leiter der Cityseelsorge Mönchengladbach, Bischöflicher Ansprechpartner für LGBTIQ* Menschen im Bistum Aachen
christoph.simonsen@citykirche-mg.de
Foto: Waldwegen 2008 / © 2008 Ivo Weber – Alle Rechte vorbehalte
[1] vgl. Sabine Oelze: https://www.dw.com/de/waldfegen-ein-künstlerisches-ritual/a-57055131)
[2] vgl. https://www.museenkoeln.de/artothek/seite.aspx?s=789