Die Nacht auf den 1. Mai, als Walpurgisnacht in vielen lokalen Traditionen verankert, bietet eine Fülle von „Mythos, Zauberei, Sex und weiblicher Selbstermächtigung“. Theresia Heimerl (Graz) mit einer religionswissenschaftlichen Analyse.
„Zum Brocken wandeln wir in der Walpurgisnacht …
… Da sieh nur welche bunten Flammen!
Es ist ein muntrer Klub beisammen.
Da seh ich junge Hexchen, nackt und bloß,
und alte, die sich klug verhüllen.“ (Goethe Faust I, Kap. 24)
Das Bild von der Nacht auf den 1. Mai, das der Weimarer Geheimrat und deutsche Nationaldichter hier malt, ist so eingängig, dass bis heute vielerorts lokale Tourismusverbände mit munterem Tanz, bunten Flammen und wenig bekleideten Hexen werben, so übrigens auch nicht weit von meiner Heimatstadt Graz entfernt in der Südsteiermark.
Goethe hat die Walpurgisnacht mit ekstatischem Hexentanz und Orgien schlicht erfunden.
Die Walpurgisnacht hat alles, was heute fasziniert (und Publikum bringt): alten Mythos, Zauberei, Sex und weibliche Selbstermächtigung. Genau solche Narrative machen die Religionshistorikerin misstrauisch, sind sie in der Regel doch zu gut, um wahr, sprich geschichtlich haltbar zu sein. Im Fall der Walpurgisnacht ist das Narrativ von Anfang an ein ebensolches: eine sprach- und bildgewaltige Erzählung in Versen. Johann Wolfgang von Goethe hat die Walpurgisnacht am Brocken im Harz mit ekstatischem Hexentanz und Orgien schlicht erfunden. Seine farbige Beschreibung der Walpurgisnacht ist ein „best of“ aus zu Goethes Zeit bereits historischen Vorstellungen vom Hexensabbat, aufgeklärter Gelehrsamkeit über zaubernde Frauengestalten verschiedener mythologischer Traditionen und enthemmter Männerfantasie der deutschen Klassik.
Genau dieser fiktionale „best of“- Charakter macht die Walpurgisnacht wohl auch so anschlussfähig für unterschiedliche Interpretationen: Wenn es keine eindeutig belegte Geschichte gibt, kann jede Spur zu einer solchen werden. Und Spurensucher:innen gab und gibt es viele.
Feuer spielt eine Rolle, Tanz ebenso, auch erotische Elemente lassen sich erkennen.
Die Folklore-Forschung weist zu Recht darauf hin, dass die Feiern am Vorabend des Festes der Heiligen Walburga, einer angelsächsischen Äbtissin im 8. Jahrhundert mit Wirkungsort im deutschen Heidenheim, im deutschsprachigen Raum weit verbreitet und gut belegt sind. Feuer spielt in ihnen eine Rolle, Tanz ebenso, auch erotische Elemente lassen sich erkennen. Alles zusammen lässt vorchristliche Survivals nicht unwahrscheinlich erscheinen. Die Hexen spielen in dieser Folklore allerdings noch ihre traditionelle christliche Rolle, wenn sie mancherorts als Holzpuppen auf den Feuern der Walpurgisnacht verbrannt werden.
Es sind Gelehrte des 19. Jahrhunderts mit weniger literarischer Begabung, aber mindestens ebenso viel Fantasie wie Goethe, die aus den Hexen die geheimnisvollen Hüterinnen paganer Traditionen und die Walpurgisfeiern zu subversiven Riten gegen die christliche Herrschaft machen. Karl Ernst Jarcke (1801–1852) und Jules Michelet (1798–1874) sehen die Hexen wahlweise als Bewahrerinnen germanischer Naturreligion oder kräuterkundige Protomarxistinnen, ihre Rituale seien Ausdruck vorchristlicher Lebens- und Fruchtbarkeitsfreude.
Diese Gelehrten ebnen den Weg für das, was wir heute als Neopaganismus bezeichnen, in dem die Hexen als Hüterinnen uralter paganer Traditionen eine zentrale Rolle spielen. Die Folklore der Walpurgisnacht kann in dieser, von einer Sehnsucht nach einer wiederverzauberten, der Moderne zumindest für eine Nacht entkommenen Welt, ganz leicht mit dem Beltane-Fest aus dem inselkeltischen Bereich, das ebenfalls für die Nacht zum 1. Mai überliefert ist, kurzgeschlossen werden. Wer wissen will, wie groß diese Sehnsucht nach einer magischen Wirklichkeit in bekömmlicher Dosierung ist, braucht nur die Google-Suchmaschine zum Begriff „Walpurgisnacht“ anzuwerfen: Gleich nach dem Wikipedia-Eintrag folgt eine bekannte österreichische Biomarke aus dem Waldviertel, die unter der Überschrift „Hexen, Kräuter & Tanz“ eine derart eingängige Synthese der bekanntesten neopaganen Interpretationen bietet, dass sich dazu eine religionswissenschaftliche Masterarbeit schreiben ließe. Ansprechend ins Bild gesetzte Blütenkränze, Hexenräuchermischungen und Waldmeister-Bowle, die im Anschluss an die „Informationen“ zur Walpurgisnacht beworben werden, bieten uns im Vergleich zu Goethes Original reichlich jugendfreie Hilfestellungen für die nächtlichen Feiern.
Die Walpurgisnacht wird in dieser Lesart zu einem feministischen Aktionstag bzw. einer Aktionsnacht.
Ein Sonderfall der kulturellen Aneignung der Walpurgisnacht ist deren feministische Lesart. Der Grundduktus, der sich in Anklängen bereits bei Michelet findet und mit der zweiten Frauenbewegung in den 1970er-Jahren weite Verbreitung in Wissenschaft wie politischem Aktivismus und Populärkultur erlangte, lautet: Hexen wurden wegen ihres geheimen Wissens und ihrer Fähigkeiten in der Heilkunst, aber auch ihrer autonom gelebten Sexualität (Stichwort Hexensabbat) von den Mächten des Patriarchats, allen voran der Kirche, verfolgt. Die Walpurgisnacht wird in dieser Lesart zu einem feministischen Aktionstag bzw. einer Aktionsnacht.
Diese kann vielfältig interpretiert werden: nackte Tänze um ein Feuer ohne Männer mit dem Ziel weiblicher Selbsterfahrung sind ebenso möglich wie politische Demonstrationen und Protestmärsche, siehe hierzu die Take back the night-Demo in Berlin und anderen deutschen Städten, bei der unter ausdrücklichem Ausschluss von cis-Männern gegen Patriarchat und Kapitalismus demonstriert wird. Die Religionshistorikerin kann nicht umhin anzumerken, dass hier ein doppelt von Männern konstruiertes Hexenbild übernommen wird: Der wilde Hexensabbat und die weise Kräuterfrau sind zuerst eine Angstfantasie der Inquisitoren und dann ein male gaze der Dichter, Maler und Gelehrten, die mit der nüchternen Realität frühneuzeitlicher Hexenprozessakten kaum etwas zu tun haben. Gleichwohl füllt das Narrativ der Hexe und ihres wilden Treibens in der Walpurgisnacht offensichtlich für Frauen (oder FLINTA, wie es in den Aufrufen zur Take back the night-Demo heißt) eine Lücke, für die es auch im Jahr 2023 keinen Ersatz gibt. Oder vielleicht besteht der Reiz gerade darin, sich die patriarchalen Narrative nicht nur anzueignen, sondern sie für eine Nacht Wirklichkeit werden zu lassen.
Der orgiastische Charakter, den Goethe seiner Walpurgisnacht verleiht, wirkt zumindest stark verdünnt bis in die Bio-Waldmeisterbowle nach.
Die Walpurgisnacht ist in allen ihren Interpretationen vor allem eines: Event. Die Dynamik, die schon den Versen im Faust innewohnt, bleibt in all ihren späteren Lesarten, ob kommerziell-touristisch, neopagan oder feministisch erhalten: Es ist kein andächtiges Stillstehen, sondern ein Tun mit Körpereinsatz, eine Form der Grenz- oder Entgrenzungserfahrung durch Nacht und Feuer, die etablierte Religionen nicht bieten und deren mythischer Touch profanen Events des Nachtlebens fehlt. Der orgiastische Charakter, den Goethe seiner Walpurgisnacht verleiht, wirkt zumindest stark verdünnt bis in die Bio-Waldmeisterbowle nach. Braven Christ:innen mag es ein Trost sein, dass der neopagane Charakter längst vom Kapitalismus so weichgespült wurde, dass ein Besuch bei der Mainandacht am nächsten Tag kein zwingender Widerspruch mehr ist. Und für Feministinnen gilt: Nehmt euch die Nacht und die Himmelskönigin im Mai zurück!
Literaturhinweise und links:
Alexander Rost, Hexenversammlung und Walpurgisnacht in der deutschen Dichtung, Frankfurt 2015.
Jeffrey B. Russell/ Brooks Alexander: A New History of Witchcraft, London 2007, 131 – 133.
https://www.steiermark.com/de/Suedsteiermark/Urlaub-planen/Veranstaltungen/Walpurgisnacht-2.0_ed_27410495
https://www.meinbezirk.at/tag/walpurgisnacht
https://takebackthenightberlin.noblogs.org/
https://www.sonnentor.com/de-at/rezepte-tipps/tipps/walpurgisnacht-hexen-kraeuter-tanz
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Theresia Heimerl ist Professorin für Religionswissenschaft an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz.
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