Weihnachten ist ein Wechsel der Perspektiven. Und mit einem solchen schickt uns Kathrin Oxen in die Festtage 2020.
Als sich der Frieden ausgebreitet hatte in den Straßen schon mehrere Tage zuvor,
weil keiner mehr hastig unterwegs war, um letzte Geschenke zu besorgen.
Als die Pfarrerinnen und die Pfarrer schon vor dem Heiligen Abend fertig waren
mit aller Arbeit und in der Heiligen Nacht selbst in ihre Kirchen gegangen sind,
einfach, weil es dort so still war und so schön.
Als in den Wohnungen und Häusern sich alle große Mühe miteinander gaben,
weil dies nun einmal die Menschen waren, mit denen wir zusammengehörten
und sie in diesem Jahr auf einmal so kostbar aussahen wie noch nie zuvor.
Als wir gelernt hatten, alles zu nehmen, wie es kam,
vor allem uns selbst.
gelernt, alles zu nehmen, wie es kam
Als wir die Alten sahen und nun genauer wussten, dass sie doch sind,
was wir einmal werden und uns schwach wurde vor Sorge um sie.
Als die Kranken nicht länger von uns getrennt waren,
weil wir begriffen, wie unser Leben immer in Gefahr ist
und wir nicht damit rechnen können, verschont zu bleiben von allem.
Als die Einsamen Briefe bekamen und nicht nur einen,
als ihr stummes Telefon nicht aufhörte zu klingeln,
weil alle dachten, ach, ich rufe einfach mal an.
Als wir die Kinder sahen und ihre unverwüstliche Freude,
dieses Geschenk, das sie so großzügig mit uns teilten.
Als der Armen gedacht wurde, auf den Straßen der Stadt,
in den Quartieren des Elends und den Lagern dieser Welt
und viel Geld zusammenkam,
weil man zwei Euro in die Kollekte tun kann, aber nicht überweisen.
Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge,
denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. (Jes 11, 9)
die Kinder und ihre unverwüstliche Freude
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?[1] Weihnachten war noch nie so, wie es dieses Jahr ist. Und ich bin keine Prophetin. Aber ich sage, dass wir in einem oder in zwei Jahren oder irgendwann an dieses Weihnachten des Jahres 2020 zurückdenken werden, wenigstens einige von uns, und uns sagen: Wann wird es endlich wieder so? Denn neben allem, was uns so furchtbar belastet und bedrängt, sehe ich auch vieles, was kein Schaden ist. Ich sehe, was gut war an diesem schlimmen Jahr:
Dass wir so deutlich wie nie zuvor erkannt haben, wo die Bosheit oder meinetwegen auch nur die schlichte Dummheit wohnen in unserer Gesellschaft und in unserer Welt.
Und dass der uralte Wunsch der Propheten nach einem Herrscher, auf dem der Geist der Weisheit und des Verstandes ruht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn gar kein alter Wunsch ist, sondern ein Wunsch, höchstens so alt wie die Welt. Durch alle Zeiten treibt er aus der gleichen Wurzel, aus der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Und dieser Wunsch sieht manchmal aus wie ein Baum, der immer weiterwächst und sich verzweigt und kaum Blüten trägt und nie Früchte.
der Wunsch – ein sich verzweigender Baum ohne Früchte?
Ich glaube, das liegt an einem Missverständnis. Das ist auch so alt wie die Welt: Dass es einer alleine richten könnte statt wir alle zusammen. Diese Weisheit und diesen Verstand, diesen Rat und diese Stärke, diese Erkenntnis und auch diese Furcht des Herrn hat uns dieses Jahr der Pandemie gegeben. Es hat sie uns nicht geschenkt, dafür ist das alles viel zu schlimm. Aber Pandemie heißt nun einmal wörtlich „alles Volk betreffend“. Und wo nicht nur eines, sondern alle Völker betroffen sind, da wird es erst recht nicht nur einer oder eine richten können. Sondern nur wir alle zusammen. Das haben wir verstanden. Und etwas von dieser Weisheit ruht nun auf uns allen. Das ist eine Stärke, eine Stärke der zähen Art, wie sie manche Bäume entwickeln, gerade, wenn etwas sie sehr niederdrückt.
eine Stärke der zähen Art
Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isai dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein. (Jes 11, 1 und 10)
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war? Zu der Zeit, als Jesus geboren wurde in Bethlehem, in der Stadt Davids, da wurde es so, wie es nie zuvor war. Da wurde die Liebe Gottes zu einer Pandemie, zu einer Liebe, die allen Völkern galt. Die Wurzel bleibt immer die gleiche, „denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (Röm 11, 29). Aber ein neues Reis wurde angesetzt, ein wilder Zweig. Er trägt die Wurzel nicht. Aber die Wurzel trägt ihn. Und aus diesem Zweig stammen wir.
die Frucht von dem sehen, was unter uns gewachsen ist
Ich bin keine Prophetin. Aber mein Wunsch an diesem Weihnachten ist, dass wir die Frucht von dem sehen, was in den vergangenen Monaten unter uns an Weisheit und Verstand und Rat und Stärke und Erkenntnis und auch an Furcht des Herrn gewachsen ist. Auch unter den großen Lasten, die wir zu tragen hatten. Damit es unter uns so bleibt, wie es nie war.
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Kathrin Oxen ist Pfarrerin an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin und Moderatorin des Reformierten Bundes in Deutschland.
Bild: Capri23auto / pixabay.com
[1] Die Überschrift ist natürlich nichts anderes als eine Verbeugung vor Joachim Meyerhoff.