Jerusalem, die Stadt Gottes, wird in prophetischen Texten der Bibel immer wieder als Hure bezeichnet. Was hinter dieser metaphorischen Zuschreibung stecken könnte, insbesondere in Kapitel 16 des Buches Ezechiel, hat Milena Heussler herausgearbeitet. Eine Buchbesprechung von Franziska Loretan-Saladin
Was deine Geburt betrifft (…), wurde weder deine Nabelschnur durchtrennt, noch wurdest du mit Wasser sauber gewaschen (…). Kein Mensch sah dich mitfühlend an. Du wurdest aufs freie Feld geworfen, weil dein Leben für nichts geachtet wurde (…). Da kam ich bei dir vorbei und sah dich, wie du in deinem Blut strampeltest. Ich sprach zu dir in deinem Blut: Lebe! (…) Ich gab dir Wachstum wie einer Feldblume, und du wuchsest, wurdest gross und erlangtest grosse Anmut. (Ez 16,3.4-7)
So spricht Gott zu seiner geliebten Stadt Jerusalem in den Worten des biblischen Propheten Ezechiel. Voll Liebe und Zärtlichkeit wendet sich Gott dieser verächtlich hingeworfenen Neugeborenen zu, schenkt ihr Beachtung, Leben, Wachstum und Schönheit, bekleidete sie und schmückte sie, macht sie über die Massen schön wie eine Königin.
Wenige Verse später wird aus dieser überschwänglichen Liebe Schimpf und Schande. Gott wirft seiner Geliebten ein sexuell ausschweifendes Leben vor. Dies nimmt er zum Anlass, sie mit nackter Gewalt zu demütigen:
Von allen Seiten werde ich sie [die umliegenden Völker] gegen dich zusammenholen und mich vor ihnen an deiner Nacktheit vergreifen, sodass sie dich vollkommen nackt sehen.
Nach den Gesetzen für Ehebruch und Mord werde ich dir den Prozess machen und dich Blutvergiessen, glühendem Zorn und Eifersucht aussetzen. … Weil du dich nicht an deine Jugendzeit erinnert und mich rasend gemacht hast durch all diese Dinge, werde ich selbst dich deine Lebensweise spüren lassen. (Ez 16,37-38.43)
Weitere Bilder von Gewalt und Erniedrigung folgen in einer sexuell aufgeladenen Sprache. Das ganze Kapitel 16 des Ezechielbuches ist von heftigen Emotionen durchdrungen. Gott erscheint nicht nur als der grosse Liebende zu Beginn, sondern vor allem demütigend, von Eifersucht getrieben, gewalttätig.
Bilder von Gewalt und Erniedrigung
In ihrer Untersuchung zur Metapher der Stadtfrau Jerusalem[1] schreibt Milena Heussler: «Weiterhin, trotz mehrmaliger Lektüre, tritt mir dieser Text immer wieder als etwas Fremdes und Anstößiges gegenüber. Mit ihm dringt etwas aus der Vergangenheit, mit all seiner (Sprach-)Gewalt, in die Gegenwart ein und lässt mich ratlos zurück.» (7) Diese Ratlosigkeit nimmt die Autorin zum Anlass, folgenden Fragen nachzugehen: «Wie kann das Gottesbild dieses Texts begriffen werden? Was für ein historischer Hintergrund macht eine solche Darstellung von Weiblichkeit möglich, und wie soll man heute auf sie reagieren?» (7)
Das Buch – ursprünglich als Masterarbeit der Evangelischen Theologie an der Universität Wien eingereicht[2] – ist das Ergebnis eines Suchprozesses, mittels verschiedener Methoden neue Zugänge zu diesem sperrigen Text zu finden: Nach metapherntheoretischen Annäherungen folgt die Darstellung von Ezechiel 16 im innerbiblischen und historischen Kontext. Diese Erkenntnisse werden verknüpft mit Interpretationen aus der feministischen Exegese sowie traumatheoretischen Lesarten.
Zugänge zu diesem sperrigen Text finden
Die Metapher der untreuen Ehefrau für die Bundespartnerin Gottes ist auch in anderen biblischen, vor allem prophetischen Büchern zu finden. Sie steht für das Ringen in der menschenähnlich geschilderten Beziehung zwischen Gott und den von Gott Erwählten, sei dies Jerusalem oder Juda. Zuneigung, Vermählung, Untreue, Strafe und Scheidung, neue Liebe, erneuter Bruch und Strafe, Vergebung und Wiederherstellung der Gottesbeziehung – so deuten Prophetenbücher die wechselvolle Geschichte ihres Landes.
Das Ezechielbuch präsentiert sich selbst als Literatur, die im Kontext des babylonischen Exils Judas zu verorten ist. Diese Zeit mit ihren sozialen und theologischen Herausforderungen prägte das Buch und bildet dessen existential context, vermutlich sowohl in seiner ursprünglichen Entstehungszeit als auch in darüber hinausgehenden möglichen Bearbeitungen. (vgl. 31) Mit der Metapher der untreu gewordenen Stadtfrau wird die Verbannung als Riss in der Gottesbeziehung dargestellt. Der Treuebruch muss so schlimm dargestellt werden, dass sich die Bestrafung mit dem Exil «erklären» lässt.
Milena Heussler betrachtet jedoch die metaphorische Erzählung nicht allein im historischen Kontext. Diese drastische Gottesrede lässt den Lesenden keine Wahl, die Strafhandlungen Gottes auf den ersten Blick als gerechtfertigt anzusehen. «Es ist dieser objektivierende Blick auf den (metaphorischen) Frauenkörper, die Annahme seiner prinzipiellen Unreinheit von Geburt an sowie die Darstellung einer als abnorm vorgestellten weiblichen Sexualität, die den Text im besonderen Mass als das Erzeugnis einer patriarchal geprägten Kultur erkennbar werden lassen.» (56) Was als kulturell und historisch bedingt erscheint, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass «solche und ähnliche Ideen über ‘das Weibliche’[…] bis heute das Leben realer Frauen» bestimmen.* (52f)
dieser objektivierende Blick
Die Autorin bezieht sich damit auf die feministische Exegese, die dies schon in den 80er Jahren kritisiert hat, und hinterfragt auch die Konstruktion von Geschlecht/gender in der Erzählung. Der Text attestiert Jerusalem weibliche Attribute mit je eigenen Konsequenzen: Solange sie sich fügt hat die Stadtfrau soziale und materielle Sicherheit. Wo sie aber ausbricht und den ihr zugestandenen Status ablehnt, erfährt sie Gewalt. Darin spiegelt sich das patriarchalische Umfeld des Textes bei seiner Entstehung. Aber auch mit dieser Erklärung, kann dieser Gottesrede der Stachel nicht gezogen werden.
Erst mit dem Versuch, Ezechiel 16 als ein Stück Traumaliteratur zu lesen, wird die Bildsprache bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Dies entfaltet Milena Heussler in einem weiteren Schritt.
Eine Trauma-Erfahrung ist eine Erfahrung, die nicht bewusst durchlebt werden konnte. Sie stellt eine Erschütterung der Person und ihrer Weltwahrnehmung dar, bleibt unerträglich, eine offene Wunde. (vgl. 112f) Das traumatische Ereignis meldet sich immer wieder, sodass die Person Praktiken der Erinnerung, z.B. im Erzeugen von Erzählungen entwickelt. «Für Aussenstehende, die selbst nicht Zeugen des traumatischen Erlebnisses waren, können die in diesem Prozess erzeugten kulturellen Formen jedoch befremdlich und abstoßend wirken, da sie Zeugnis von einer Erfahrung ‘beyond analogy’ ablegen.» (113) Könnte also die bildhafte Vorstellung Jerusalems als unreine, sexuell untreue, zerstörte Frau ein Versuch gewesen sein, mit eigenem Erlebten umzugehen? Milena Heussler führt entsprechende Forschungen von Ruth Poser zu dieser Frage weiter.
Eine Trauma-Erfahrung ist eine Erfahrung, die nicht bewusst durchlebt werden konnte.
Am Ende hält sie fest:
«Zwischen dem Text von Ezechiel 16 und heutigen Leserinnen und Lesern bestehen mehrere Gräben, die zu überwinden sind» (126): Ereignisse, die vor langer Zeit geschehen sind. Verstehen einer Erfahrung, die nicht unmittelbar unsere ist. Bilder und Verständniskategorien, die nicht nur fremd, sondern in ihrer Brutalität und gewalttätigen Festschreibung von gender-Rollen erschrecken und abstossen.
Der Autorin gelingt es mit verschiedenen Zugängen, diese Gräben zu überwinden. Dennoch hält sie fest, dass sich die Fremdheit des Textes nicht glätten lässt, und dass diese unbedingt zu benennen ist. Die metaphorischen Aussagen zu Männlichkeit– verbunden mit Stärke, Aggression, Macht, Gewalt – und Weiblichkeit – nur als devot und passiv akzeptiert – transportieren ein Weltbild, das als göttliche Legitimation von Dominanz und Gewalt gegen Frauen gelesen werden kann. Einer solchen Auslegung widerspricht die Preisträgerin mit ihrer Arbeit auf Deutlichste. Sie betont mit feministisch-befreiungstheologischen Blick den Anspruch von Frauen auf Eigenständigkeit und Unversehrtheit und benennt die gegenteiligen Gewalterfahrungen von Frauen damals und heute.
Anspruch von Frauen auf Eigenständigkeit und Unversehrtheit
Die wissenschaftliche Arbeit von Milena Heussler ist in klarer Sprache geschrieben und hat mir die Augen geöffnet für ein schwer verständliches Kapitel der Bibel. Nicht zuletzt eröffnet die Traumatheorie die Möglichkeit, bildhafte Erzählweisen von Gewalterfahrungen zu entschlüsseln, wie sie in Berichten von Frauen, Geflüchteten und anderen existenziell oder sexuell gedemütigten Menschen durchscheinen können. Dafür ist dieses fremde Bibelstück eine Lehrmeisterin.
Die Autorin schreibt zum Schluss: «Auch wenn die vorgestellte Geschichtsdeutung in Ezechiel 16 nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen ist,[3] wird darin doch eine menschliche Erfahrungsdimension sichtbar, die den Text trotz aller Entfernung mit der Gegenwart verbindet: Den immer wieder neuen Versuch, eigenes Erleben im Angesicht verheerender Ereignisse verorten und verstehen zu können.» (127)
Die aktuelle Weltsituation gibt genügend Anlässe dazu.
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Franziska Loretan-Saladin, Dr. theol., ist Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net
Beitragsbild: Juli Kosolapova / Unsplash.com
Zum Buch: Milena Heussler, «War deine Hurerei noch zu wenig?» Zur Metapher der Stadtfrau Jerusalem, Zürich (TVZ) 2021 (Theologische Studien, Neue Folge, Band 18)
[1] Milena Heussler, «War deine Hurerei noch zu wenig?» Zur Metapher der Stadtfrau Jerusalem, Zürich (NZN) 2021 (Theologische Studien, Neue Folge, Band 18). Die Zahlen im Text beziehen sich auf die Seitenzahlen im Buch.
[2] Die Masterarbeit von Milena Heussler wurde im Oktober 2019 mit dem Förderpreis der Marga Bührig-Stiftung ausgezeichnet.
[3] Dazu fügt Heussler in der Fussnote folgendes Zitat an: «The excessive violence does not arise from the pen of a male author sitting safely in his office and affected only intellectually by the fall of his city. It is told from the perspective of a once-elite member of society who has been dragged off in chains to an unclean land, who sits powerless, ›dumb‹, as his nation is destroyed and his world turned upside down.» Corrine L. Patton: «Should Our Sister Be Treated Like a Whore?» A Response to Feminist Critiques of Ezekiel 23, in: Odell, Margaret S./Strong, John T. (Hg.): The Book of Ezekiel. Theological and Anthropological Perspectives (SBL. SS 9), Atlanta 2000, 221−238.